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Steigt die Geburtenziffer?

Steigt die Geburtenziffer? Eine Rezension

1. Existiert das zu erklärende Phänomen überhaupt?

Seit mehr als einem halben Jahrhundert wird von der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen in nahezu allen Ländern der Welt die gleiche Beobachtung gemacht: Die Geburtenrate eines Landes ist um so niedriger, je höher sein Entwicklungsstand ist und je rascher sich Wirtschaft und Gesellschaft weiterentwickeln. Zur Bezeichnung dieses nur auf den ersten Blick unplausiblen Phänomens habe ich in meinem Buch „Die demographische Zeitenwende“ (2001) den Begriff „demographisch-ökonomisches Paradoxon“ eingeführt.

Der damit bezeichnete Zusammenhang ist nach der These des hier zu besprechenden Aufsatzes zwar in den weitaus meisten Ländern der Welt nach wie vor feststellbar, aber in einer kleinen Gruppe von hochentwickelten Ländern, darunter in Deutschland, soll seit neuestem das demographisch-ökonomische Paradoxon nicht mehr wirksam und durch den umgekehrten Zusammenhang abgelöst worden sein: Die Geburtenrate ist jetzt angeblich um so größer, je höher das wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsniveau eines Landes ist.

Zum empirischen Beleg der These wird der Entwicklungsstand eines Landes mit dem sogenannten „Human Development Index“ (HDI) gemessen. Der HDI ist ein aus ökonomischen und gesellschaftlichen Kennziffern gebildetes Maß, mit dem auf einer Skala von null (=wenig entwickelt) bis eins (=hochentwickelt) das erreichte Entwicklungsniveau in einer einzigen Zahl ausgedrückt werden soll. Nach der These des Aufsatzes ist die Geburtenrate in Deutschland und in einigen anderen hochentwickelten Ländern in jüngster Zeit angestiegen, und zwar als Folge des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts, gemessen durch den Anstieg des HDI.

Für die Messung der Geburtenrate wird dabei die sogenannte „Total Fertility Rate (TFR)“ herangezogen, die im Deutschen auch als „Kinderzahl pro Frau“ oder als „Zusammengefasste Geburtenziffer“ bezeichnet wird. Dabei ist den wenigsten Anwendern dieses Maßes bewußt, dass die Kinderzahl pro Frau (genauer: die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau) in einem bestimmten Kalenderjahr nicht einfach durch eine statistische Umfrage festgestellt werden kann, denn es müssten ja bei der Umfrage neben den schon geborenen und damit registrierbaren auch die bis zu diesem Jahr noch nicht geborenen, aber in den kommenden Jahren zu erwartenden Kinder der jüngeren Frauen berücksichtigt werden, was nur durch entsprechende Geburtenprognosen bewerkstelligt werden kann.

Die Statistischen Ämter stellen in der TFR also nicht nur fest, wie viel Kinder pro Frau tatsächlich geboren wurden, sondern sie nehmen dabei einen Teil der noch nicht Geborenen vorweg, indem sie diese mit ihren Methoden zur Berechnung der TFR (implizit) prognostizieren und auf diese Weise in die TFR des entsprechenden Kalenderjahres einbeziehen. Die Qualität der in der TFR enthaltenen Geburtenprognose ist identisch mit der Qualität der Annahmen, auf der sie beruht. Die Berechnung der Kinderzahl pro Frau einschließlich der bei den jüngeren Frauen noch zu erwartenden Geburten ist wegen der stets unsicheren Prognoseannahmen eine nichttriviale Aufgabe. Sie wird vom Statistischen Bundesamtes und von demographischen Forschungseinrichtungen durchgeführt, wobei nur die wenigsten durchschauen, wie die zum Teil realen, zum Teil prognostizierten Bestandteile der TFR zustande kommen und zu interpretieren sind.

Von manchen Anwendern der Berechnungsergebnisse wird behauptet, die Kinderzahl pro Frau in Deutschland sei höher als von den amtlichen Zahlen der TFR angezeigt wird, und zwar aus zwei Gründen. Erstens habe sich das mittlere Gebäralter von Jahrgang zu Jahrgang auf ein höheres Lebensalter verschoben. Deshalb könnten zweitens die aufgeschobenen Geburten in der TFR nicht berücksichtigt werden, denn die TFR beziehe sich auf ein bestimmtes Kalenderjahr, in dem die noch nicht Geborenen naturgemäß nicht registriert werden können. Nach dieser These würden die in ein späteres Lebensjahr aufgeschobenen Geburten, wenn die entsprechenden Kinder dann zur Welt kommen, die TFR und die Geburtenzahl wieder ansteigen lassen (sogenannter „Timing-Effekt“).

Der erste Grund trifft zwar zweifellos zu – die Verschiebungen des mittleren Gebäralters von früher unter 25 auf heute über 30 werden von den Demographen seit Jahrzehnten sehr genau analysiert. Aber der zweite Grund ist falsch, denn die aufgeschobenen Geburten lassen sich bei den TFR-Berechnungen, die ja über das jeweilige Kalenderjahr hinausreichende Geburtenprognosen enthalten, durchaus berücksichtigen.

Zu diesem in der Demographie seit langem intensiv diskutierten Sachverhalt lässt sich heute zusammenfassend feststellen: Wäre die These richtig, dass die Geburtenrate höher ist als von der TFR angezeigt, hätte die TFR auf Grund des Timing-effekts seit mindestens 20 Jahren wieder ansteigen müssen. Dies ist jedoch nicht der fall. Die im subjektiven Empfinden der Frauen vielleicht nur aufgeschobenen Geburten sind in Wirklichkeit zum größten Teil nicht nur aufgeschoben, sondern tatsächlich aufgehoben. Die tatsächlichen Zahlen der TFR zeigen für Deutschland seit Jahrzehnten keinerlei Anstieg, auch nicht in jüngster Zeit. Vielmehr bewegte sich die Total Fertility Rate in der früheren Bundesrepublik seit 1975 in dem relativ engen Intervall zwischen 1,2 und 1,4 Lebendgeborenen pro Frau, in ganz Deutschland seit 1990 zwischen 1,5 im Jahr der Wiedervereinigung und 1,2. Die Bandbreite dieser Schwankungen ist seit Jahrzehnten so eng, dass die Behauptung eines Anstiegs der TFR durch die Daten der Amtlichen Statistik klar widerlegt wird (s. Tabelle 1).

Mit dieser Feststellung könnte man es eigentlich bewenden lassen, denn der in dem Aufsatz unterstellte und mit dem HDI erklärte Anstieg der TFR in Deutschland existiert überhaupt nicht. Weil aber die These des Aufsatzes außer für Deutschland auch für andere Länder aufgestellt wird, ist es wichtig, die dafür ins Feld geführten Argumente auf ihre allgemeine, methodische Stichhaltigkeit zu überprüfen. Wenn ein Argument wegen seiner methodisch-logischen Unhaltbarkeit nicht zutrifft, sind auch die aus ihm abgeleiteten Schlussfolgerungen falsch, und zwar unabhängig davon, um welches Land es sich dabei handelt.

Tabelle 1: Zusammengefasste Geburtenziffer (=Durchschnittliche Kinderzahl je Frau) in Deutschland (TFR)

Zusammengefasste Geburtenziffer1 [1]
Jahr Deutschland Früheres Bundesgebiet2 [2] Neue Länder3 [3]
 
1990 1,454 1,450 1,518
1991 1,332 1,422 0,977
1992 1,292 1,402 0,830
1993 1,278 1,393 0,775
1994 1,243 1,347 0,772
1995 1,249 1,339 0,838
1996 1,316 1,396 0,948
1997 1,369 1,441 1,039
1998 1,355 1,413 1,087
1999 1,361 1,406 1,148
2000 1,378 1,413 1,214
2001 1,349 1,382 1,231
2002 1,341 1,371 1,238
2003 1,340 1,364 1,264
2004 1,355 1,372 1,307
2005 1,340 1,355 1,295
2006 1,331 1,341 1,303
2007 1,370 1,375 1,366
2008 1,376 1,374 1,404
             

1 Berechnet nach der Geburtsjahrmethode.
2 Seit 2001 ohne Berlin-West.
3 Seit 2001 ohne Berlin-Ost.

 Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de [4], Dezember 2009.

 In Deutschland wurden nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem damals wesentlich niedrigeren Entwicklungsstand mehr Kinder geboren als heute: 1946 waren es 922 Tsd., im Jahr 2008 noch 683 Tsd. Im Widerspruch zur These des Aufsatzes sinken die Geburtenzahlen in Deutschland trotz des steigenden Entwicklungsniveaus immer weiter. Der ständige Rückgang der absoluten Geburtenzahl beruht nicht etwa darauf, dass die Kinderzahl pro Frau sinkt, sondern darauf, dass sie praktisch konstant ist, denn die Kombination einer alternden weiblichen Bevölkerung mit einer konstanten TFR führt mit mathematischer Notwendigkeit zu sinkenden Geburtenzahlen. Wegen der bis zur zweiten Jahrhunderthälfte unaufhaltsam zunehmenden Alterung  wird sich an den stetig sinkenden Geburtenzahlen in Deutschland auch in den kommenden Jahrzehnten nichts ändern (können). Nicht geborene Eltern können selbst bei drastischen Verbesserungen der Familienpolitik keine Kinder haben.

Der anhaltende Rückgang der Geburtenzahlen wurde im Jahr 2007 durch einen kurzfristigen Anstieg unterbrochen. Die Zunahme von 2006 auf 2007 beruht vermutlich zum großen Teil auf dem allgemeinen Stimmungshoch im Jahr der Fußballweltmeisterschaft (2006). In der allgemeinen Euphorie könnte ein Teil der ohnehin geplanten Geburten zeitlich vorgezogen worden sein. Diese Geburten fielen in den folgenden Jahren naturgemäß weg, so daß die Zahl der Lebendgeborenen 2008 und 2009 schon wieder abnahm. Die Abnahme im Jahr 2008 wäre sogar noch um rund 2000 Lebendgeborene größer ausgefallen, wenn 2008 kein Schaltjahr gewesen wäre, denn in Deutschland kommen jeden Tag im Durchschnitt rund 2000 Kinder zur Welt (s. Tabelle 2).

Die Interpretation, dass der vorübergehende Anstieg der Geburtenzahl im Jahr 2007 auf die Einführung des Elterngeldes zurückzuführen sei, ist unplausibel, denn warum sollte eine durch das Elterngeld bewirkte positive Änderung des Fortpflanzungsverhaltens von einem Jahr zum nächsten schon wieder in eine stark  negative Wirkung umschlagen? 

Tabelle 2: Lebendgeborene und Gestorbene in Deutschland
Bevölkerungsbewegung Einheit 2005 2006 2007 2008 1 [5]
Lebendgeborene Anzahl 685 795 672 724 684 862 682 524
je 1 000 Einwohner Anzahl 8,3 8,2 8,3 8,3
Gestorbene Anzahl 830 227 821 627 827 155 844 445
je 1 000 Einwohner Anzahl 10,1 10,0 10,1 10,3

1 Vorläufiges Ergebnis.
Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de [4], 2009.

Der Abwärtstrend der Geburtenzahlen setzte sich auch 2009 fort, wie aus einem Vergleich der bisher bekannten Zahlen für die ersten 9 Monate des Jahres 2009 mit dem entsprechenden Vorjahreszeitraum hervorgeht: Die Geburtenzahl ist in den ersten 9 Monaten um 5% zurückgegangen – eine um ein Vielfaches stärkere Abnahme als in den vergangenen Jahren.

2. Mit welchem Erklärungszusammenhang bzw. mit welcher Theorie wird das nicht existierende Phänomen erklärt?

Der nichtexistente Anstieg der Geburtenrate in Deutschland wird in dem Aufsatz durch den statistischen Zusammenhang der TFR mit dem HDI erklärt, also auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren zurückgeführt, die im HDI enthalten sind. Dazu gehören beispielsweise der Gesundheitszustand, die Lebenserwartung, der Bildungsstand und das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung.

Aber warum sollte eine Verbesserung beispielsweise des Gesundheitszustandes der Bevölkerung die Geburtenrate überhaupt erhöhen? Dieser Faktor spielte in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und davor eine Rolle, als die Geburtenrate noch von der hohen Sterblichkeit der potentiellen Mütter und Väter verringert wurde. Im 19. Jahrhundert durchlebten im Gegensatz zu heute bei weitem nicht alle Frauen die Altersspanne des sogenannten gebärfähigen Alters (15-49). Im Gegensatz dazu leben heute von 100 geborenen Mädchen mehr als 97 bis zum Ende des gebärfähigen Alters(49). Weil heute der Rückgang der Sterblichkeit kein Faktor mehr ist, der die Geburtenrate meßbar verringern könnte, würde eine Verbesserung des Gesundheitszustandes einen eventuellen Anstieg der Geburtenrate nicht erklären können.

Gegen einen solchen Zusammenhang spricht auch die Tatsache, daß die weitaus meisten Geburten auf die Altersspanne von 25-35 konzentriert sind. In dieser Altersspanne sind Morbidität und Mortalität heute so niedrig, daß ihre weitere Abnahme nur noch minimal sein kann und der Einfluß dieser Abnahme auf die TFR nicht meßbar wäre, vorausgesetzt, daß er überhaupt existiert. Wie könnte dann aber eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung, noch dazu in einem relativ kurzen Zeitraum der jüngeren Vergangenheit, die Geburtenrate erhöhen?

Ebenso fragwürdig ist der behauptete Zusammenhang der TFR mit dem im HDI enthaltenen Pro-Kopf-Einkommen. Der einem spiegelverkehrten „J“ oder einem Hockey-Schläger ähnelnde Zusammenhang zwischen der Kinderzahl pro Frau und dem Pro-Kopf-Einkommen wurde in der Fachliteratur schon vor Jahrzehnten empirisch analysiert. Dabei ist der mit zunehmendem Pro-Kopf-Einkommen stark fallende linke Teil der spiegelverkehrten J-Kurve wesentlich länger und steiler als der kurze und viel niedrigere rechte Kurventeil, bei dem die Kinderzahl pro Frau bei sehr hohen Einkommen wieder geringfügig ansteigt.

Wichtig ist, dass der ansteigende Kurvenast kurz und ziemlich flach ist, und dass der leichte Anstieg erst ab einem deutlich über dem Durchschnitt liegenden Einkommen zu beobachten ist. Der Anstieg könnte den behaupteten, nicht existenten Anstieg der TFR schon deshalb nicht erklären, weil sich die TFR auf alle Bevölkerungsgruppen in allen Einkommensklassen  bezieht, insbesondere auf die große Mehrheit der Bevölkerung mit niedrigen und mittleren Einkommen, für die die TFR mit zunehmendem Pro-Kopf-Einkommen entsprechend der „J-förmigen Kurve abnimmt, statt zuzunehmen. Auch die im HDI enthaltene Frauenerwerbsquote soll nach der These der Verfasser angeblich positiv mit der TFR korreliert sein. Prüft man diese These für Deutschland, indem man für jeden der 439 Stadt- und Landkreise die TFR und die Frauenerwerbsquote mißt, läßt sich überhaupt kein bzw. allenfalls umgekehrt ein negativer statt des behaupteten positiven  Zusammenhangs feststellen.

In Schaubild 1 wird jeder Stadt- bzw. Landkreis durch einen Punkt repräsentiert. Ein Blick auf das Schaubild zeigt, daß der behauptete positive Zusammenhang nicht existiert, denn dann müsste die eingezeichnete Regressionslinie steigen, statt zu fallen. 

 

 

schaubild-zu-H.-Birg-8.1.10

Das Schaubild 1 entstammt einer Untersuchung, in der die Behauptung eines positiven Zusammenhangs zwischen der Frauenerwerbsquote und der Geburtenrate durch weitere empirische Befunde widerlegt wird (s.  Herwig Birg, E.-Jürgen Flöthmann, Alexander Fuhrmann, Martin Genz, Reinhard Loos u. Sylke Pilk, „Frauenerwerbsquote und Fertilität in Deutschland“. In: Charlotte Höhn u. Jürgen Dorbritz (Hrsg.), `Demographischer Wandel – Wandel der Demographie`, Festschrift für Karl Schwarz zum 90. Geburtstag, Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Band 37, Wiesbaden 2007, S. 133-181. Die Veröffentlichung kann auch aus der home-page des Verfassers heruntergeladen werden: (www.herwig-birg.de [6]).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, daß sich der HDI als Erklärungsfaktor für das Niveau der Geburtenrate schon aus theoretischer Sicht nicht eignet. Aber auch die empirischen Meßwerte des HDI für Deutschland sind alles andere als überzeugend. So hat Deutschland angeblich fast den gleichen, relativ niedrigen Meßwert des HDI von 0,92 wie Slowenien, Griechenland oder Süd-Korea. Im übrigen spielen in diesem Aufsatz weder die für Deutschland erarbeiteten empirischen Befunde noch die auf ihnen aufbauenden Theorien des Fortpflanzungsverhaltens, mit denen sich das „demographisch-ökonomische Paradoxon“ enträtseln läßt, irgendeine Rolle.

3. Wie ist das methodische Vorgehen zu beurteilen?

Die Autoren stützen ihre Aussagen zunächst auf die Ergebnisse einer Querschnittsanalyse, also auf eine vergleichende Analyse verschiedener Länder für einen bestimmten Zeitraum. Aus Querschnittsanalysen lassen sich jedoch aus methodisch-logischen Gründen keine Aussagen ableiten, mit denen die behaupteten zeitlichen Veränderungen der TFR, also Längsschnittsaussagen, begründet werden könnten. Deshalb führen die Autoren eine weitere, als Längsschnittsanalyse bezeichnete Analyse durch. Es handelt sich dabei aber unter anderem schon deshalb um keine Längsschnittsanalyse, weil sie auf der TFR beruht, die selbst eine genuine Querschnittsvariable ist.

Die TFR ist eine Querschnittsvariable, weil sie als Summe aller altersspezifischen Geburtenziffern für ein gegebenes Kalenderjahr definiert ist. Es handelt sich um die Summe folgender Zahlen: Geburtenzahl der 15jährigen Frauen, bezogen auf 1000 15-jährige Frauen, plus Geburtenzahl der 16-jährigen Frauen, bezogen auf 1000 16-jährige Frauen usw. bis zum Alter 49. Die bis zum Alter 49 aufsummierten altersspezifischen Geburtenziffern beziehen sich alle auf das gleiche Kalenderjahr. Die TFR dieses Jahres spiegelt daher diejenigen Teile des generativen Verhaltens jener Frauenjahrgänge wider, die in diesem Kalenderjahr im gebärfähigen Alter waren. Die TFR ist eine Querschnittsvariable, weil sie das generative Verhalten von 35 gleichzeitig lebenden Frauenjahrgängen zu einer einzigen, synthetischen Zahl verdichtet – ein inhaltlich fast uninterpretierbares, statistisches Konstrukt, das einen Querschnitt aus dem Fortpflanzungsverhalten von 35 verschiedenen Frauenjahrgängen widerspiegelt.

Für den Test der These eines Anstiegs der Geburtenrate muß statt der TFR als Querschnittsmaß ein Längsschnittsmaß der Geburtenrate verwendet werden, wobei sich die CFR (= Completed Fertility Rate) anbietet. Die CFR wird analog zur TFR gemessen, indem wieder die altersspezifischen Geburtenziffern der 15-jährigen bis zu den 49-jährigen Frauen aufsummiert werden. Diese altersspezifischen Geburtenziffern beziehen sich jetzt auf den gleichen Geburtsjahrgang der Frauen, nicht auf 35 verschiedene Jahrgänge mit jeweils unterschiedlichem Fortpflanzungsverhalten wie bei der TFR.

Die CFR als das geeignete Maß für die Geburtenrate wird in dem Aufsatz merkwürdigerweise nicht einmal erwähnt. Dies erstaunt um so mehr, weil zur Korrektur der störenden Eigenschaften der TFR als eines Querschnittsmaßes die sogenannte „tempo-adjusted TFR“ berechnet wird, mit der die Verschiebungen des mittleren Gebäralters von Jahrgang zu Jahrgang berücksichtigt werden sollen. Die Autoren hätten zumindest angeben müssen, warum sie nicht die CFR als das am besten geeignete Maß für die Geburtenrate verwendeten, statt zu versuchen, die TFR zu korrigieren, um sich an die CFR anzunähern.

Die Antwort auf diese Frage ist zwar simpel, und sie lautet wahrscheinlich: Die Datenlage erlaube es nicht, die CFR zu berechnen. Aber diese Frage einfach auszuklammern bedeutet, daß die methodischen Schwierigkeiten der Analyse stillschweigend  übergangen werden. Die inhaltliche Stichhaltigkeit der Ergebnisse hängt jedoch von der Korrektheit in methodischen Fragen entscheidend ab. Nur wenn man die Änderungen der altersspezifischen Geburtenziffern von Jahrgang zu Jahrgang getrennt analysiert (möglichst weiter untergliedert nach der Ordnungsziffer der Geburt, also nach der Geburtenrate für Erste Kinder,  Zweite Kinder usw. im Lebenslauf der Frauen), läßt sich etwas über eventuelle kausale Einflüssen aussagen. Wie sich dies durchführen läßt, habe ich u.a. in meinem Buch „Die demographische Zeitenwende“ bei der Wirksamkeitsanalyse familienpolitischer Maßnahmen Deutschlands in den 80iger dargestellt (S. 78 ff.). Ergebnis: Diese Maßnahmen hatten eine so geringe Wirkung, daß sich die TFR nur geringfügig in der zweiten Stelle hinter dem Komma änderte. Ähnliches ist von den neuen familienpolitischen Maßnahmen anzunehmen. Das Familienministerium hat eine genaue Wirksamkeitsanalyse bisher nicht in Auftrag gegeben.

4. Über einige falsche Schlußfolgerungen der Autoren, insbesondere im Hinblick auf das Wachstum der Weltbevölkerung u.ä.

Aus falschen Voraussetzungen lassen sich aus logischen Gründen keine richtigen Schlüsse ziehen. Da die Grundthese des Aufsatzes bezüglich eines Anstiegs der Geburtenrate falsch ist, müssen auch die aus ihr gezogenen Schlussfolgerungen beispielsweise über ein schnelleres Wachstum der Weltbevölkerung auf Grund angeblich wieder zunehmender Geburtenraten in einigen hochentwickelten Ländern abgelehnt werden. Als weit überzogene Spekulationen sind auch die Thesen über eine angebliche Tendenz zur Rückkehr der Geburtenrate auf ein bestandserhaltendes Niveau (= rund zwei Lebendgeborene pro Frau) in Spanien, Italien oder Deutschland zurückzuweisen, die in dem zweiten, kommentierenden Aufsatz in der gleichen Ausgabe von „Nature“ enthalten sind („Babies make a comeback, s.o., S.694).

In beiden Aufsätzen wird zugegeben, daß die behauptete Trendwende der Geburtenrate bzw. das Ende des „demographisch-ökonomischen Paradoxons“ beispielsweise in Japan gar nicht gilt, ohne daß dafür Gründe angegeben werden. Aber anstatt Japan als Ausnahmeland zu benennen, hätten die Autoren wissen müssen, daß ihre These noch weniger auf Deutschland und andere hochentwickelte Länder in Europa zutrifft, zumal Deutschland das erste Land der Welt war, das schon seit 1972 trotz seines hohen und steigenden Entwicklungsstandes in die Bevölkerungsschrumpfung überging, und das trotz permanent hoher Zuwanderungen aus dem Ausland seit 1972 in jedem Jahr mehr Sterbefälle verzeichnet als Geburten, ohne daß irgend ein Grund angegeben werden könnte, warum sich an diesem Zustand in den kommenden Jahrzehnten etwas Entscheidendes ändern wird.

Rezension von: Mikko Myrskylä, Hans-Peter Kohler u. Francesco C. Billari, „Advances in development reverse fertility declines“, in: Nature, Vol. 460, 6. August 2009, S. 741-743, sowie in der gleichen Nummer zu dem vorstehenden Aufsatz: Shripad Tuljapurkar, “Babies make a comeback”, S. 693-694

Prof. Dr. Herwig Birg, 7.1.2010