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IDAF-Nachricht zur demographischen Entwicklung

IDAF-Nachricht der Woche 47/2009  zur demographischen Entwicklung

Jeder dritte Deutsche wird im Jahr 2060 älter als 65 Jahre, jeder siebte sogar älter als 80 Jahre sein. Gleichzeitig schrumpft bis zum Jahr 2060 die Bevölkerung im Erwerbsalter um fast ein Drittel (1). Wer angesichts solcher Zahlen Verluste an sozialer Dynamik und wirtschaftlicher Leistungskraft befürchtet und vor harten Verteilungskonflikten warnt, dem wird mitunter immer noch vorgeworfen „Katastrophismus“ und „Schreckensszenarien“ zu verbreiten (2).

 Dass für schlechte Nachrichten gerne der Bote verantwortlich gemacht wird, mußten Bevölkerungswissenschaftler bereits in den 70er Jahren erfahren. Um über die Ursachen und Folgen des Geburtenrückgangs seit den 60er Jahren informiert zu werden, hatte der Bundesinnenminister eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern und Verwaltungsfachleuten einberufen, die ihre Erkenntnisse 1978 in einem Positionspapier für die Bundesregierung darstellte. Im Kabinett von Bundeskanzler Schmidt stießen sie auf Ablehnung: Die für den Geburtenrückgang angeführten Gründe (Verstädterung, steigende Frauenerwerbstätigkeit, sinkende Heiratsneigung etc.) seien zu „plakativ und konservativ“. Das Kanzleramt befürchtete, dass die CDU/CSU-Opposition hier ein Thema entdeckt haben könnte, dass „der Diskreditierung der Bundesregierung und der sozial-liberalen Koalition – ja der gesamten sozialliberalen Epoche dienen soll“ (3).

Tatsächlich sah die CDU/CSU-Opposition in den 1970er Jahren im Geburtenrückgang einen „Anlass zu größter Besorgnis“ (4). Ein von den unionsregierten Bundesländern unter Federführung Bayerns erarbeiteter Bericht benannte u. a. steigende Lasten für den Unterhalt von Infrastruktur in dünn besiedelten Räumen und für die sozialen Sicherungssysteme als Folgeprobleme des demographischen Wandels (5). Das Kanzleramt schätzte dagegen den demographischen Wandel „eher positiv als negativ“ ein. So würde der Geburtenrückgang Verkehrs- und Umweltprobleme entschärfen, die Nachfrage nach öffentlichen Leistungen für Kindererziehung (Kindergeld, Kindergärten, etc.) verringern und damit das Gemeinwesen entlasten. Mit den eingesparten Mitteln könnte dafür die Qualität öffentlicher Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen (weniger Schüler pro Lehrer, mehr Gesundheitsvorsorge etc.) verbessert werden (6). Nach dieser – von einigen bis heute noch vertretenen – Sichtweise bietet der Verzicht auf (mehr) Kinder bessere Chancen auf Wohlstand und Lebensqualität.

Im Widerspruch zu dieser idyllischen Sicht auf den demographischen Wandel stellten Sozialökonomen bereits in den 70er Jahren dar, dass Kinder „nicht nur Konsumenten, sondern zugleich potentielle Produzenten und damit Garanten künftiger Wirtschaftskraft“ sind. Die Kosten für die Erziehung von Kindern sind deshalb kein beliebiger Konsum, sondern Investitionen auch im Interesse der älteren, nicht mehr erwerbstätigen Generation. Dass das Verhältnis zwischen der erwerbstätigen Bevölkerung und der zu versorgenden jüngeren und älteren Generation bei einer Geburtenrate um 2 Kinder pro Frau optimal ist, war bereits in den 70er Jahren bekannt (7). Damit war auch absehbar, dass das niedrige Geburtenniveau die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland gefährden würde. Doch solche Erkenntnisse wurden übergangen und öffentliche Diskussionen über die Bevölkerungsentwicklung bis in die 90er Jahre sogar bekämpft. Erst nach der Jahrtausendwende ist das Thema „Demographie“ in Medien und Politik angekommen (8). Noch immer wird dabei gerne bagatellisiert, oft ist von den „Chancen“ des Alterns die Rede. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Nachwuchsschwund und Alterung für die Solidarität zwischen Jungen und Alten, Armen und Reichen, Alteingesessenen und Zuwanderern, schrumpfenden und (vorläufig noch) wachsenden Regionen eine historisch unvergleichliche Belastungsprobe bedeuten (9).

(1) Statistisches Bundesamt: Im Jahr 2060 wird jeder Siebente 80 Jahre oder älter sein, Pressemitteilung Nr.435 vom 18.11.2009.

(2) In diesem Sinne moniert die Bertelsmann Stiftung, dass „der demographische Wandel und seine Folgen häufig mit einseitigen Horrormeldungen durch die Presse gegangen“ seien. […] Diese Schockstrategie sollte die Menschen dazu bewegen, sich über die Auswirkungen der an sich positiven Entwicklungen wie eine gesteigerte Lebenserwartung Gedanken zu machen. Aber solche Schreckensszenarien sind dafür kaum geeignet“ (Hervorhebung vom Verfasser). Siehe: Gunter Thielen: Vorwort der Bertelsmann Stiftung, S. 11-13, in: Bertelsmann Stiftung/Bundespräsidialamt (Hrsg.): Familie. Bildung. Vielfalt. Den demographischen Wandel gestalten, Gütersloh 2009, S. 11.

(3) Dies behauptete Albrecht Müller, der damalige Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Zitiert nach: Charlotte Höhn: Bevölkerungsforschung und demographischer Wandel – zur politischen Würdigung der Demographie seit den 1970er Jahren, S. 73-98, in: Festschrift für Prof. em. Dr. Rainer Mackensen – Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1-2/2007, Wiesbaden 2007, S. 80. Zum Umgang mit dem Positionspapier des so genannten „Bad Sodener Kreises“ im Kabinett Schmidt vgl. ebenda, S. 77-78.

(4) Vgl. ebenda, S. 78.

(5) Diesen Problemen und der Frage nach der politischen Beeinflussbarkeit der Geburtenentwicklung widmeten sich vom damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geisler und seinem Mitarbeiter Warnfried Dettling organisierte Expertentagungen. In seinem einführenden Beitrag zum Tagungsband nannte Dettling die Bevölkerungsentwicklung eines der „Schlüsselprobleme“ moderner Demokratien: „Wenn wir hier scheitern, werden Staat und Gesellschaft auch in anderen Bereichen weiter in die Krise treiben, nicht (nur) wegen einer dramatischen Bevölkerungsentwicklung, sondern wegen der Unfähigkeit von Politikern und Parteien, Parlamenten und Regierungen, auf die Herausforderungen der Zukunft aktiv- konstruktiv zu reagieren.“ Siehe: Warnfried Dettling: Schrumpfende Bevölkerung – wachsende Probleme? Zu diesem Band, S. 9-36, in: Warnfried Dettling (Hrsg.): Schrumpfende Bevölkerung – Wachsende Probleme? München 1978, S. 36.

(6) Albrecht Müller wörtlich: „Gerne vergessen werden auch eine Reihe weiterer positiver Konsequenzen niedriger Bevölkerungsziffern: Die Energie- und Wasserversorgung wird erleichtert, selbst Verkehrsprobleme werden tendenziell entschärft, für eine wachsende Freizeit bleibt mehr Raum, die Umweltbelastung wird weniger drückend, die Schüler-Lehrer-Relation kann gesenkt werden, usw.“ Zu dem befürchteten Mangel an Arbeitskräften nach 2010 meinte Müller: „Es erscheint paradox, wenn einerseits über die so genannten Freisetzungseffekte der zunehmenden Rationalisierung geklagt wird und andererseits in bevölkerungspolitischen Diskussionen nach zukünftigen Arbeitskräften gerufen wird.“ Siehe ebenda, S. 81. Zu den vermeintlichen Entlastungen der öffentlichen Haushalte durch den Geburtenrückgang: Vgl.: Baldur Wagner: Vom Generationenvertrag zum Generationenkonflikt? S. 116-123, in: Warnfried Dettling (Hrsg.): Schrumpfende Bevölkerung, op. cit. S. 118.

(7) Hilde Wander: Die Folgen des Geburtenrückgangs für Wirtschaft und Beschäftigungssystem, S. 97-106, in: Warnfried Dettling (Hrsg.): Schrumpfende Bevölkerung, op. cit. S. 101-103.

(8) Siehe hierzu: Charlotte Höhn Bevölkerungsforschung und demographischer Wandel, op. cit. S. 84 u. S. 89.

(9) Vgl.: Herwig Birg: Demographische Konflikte – Grundkurs Demographie: Achte Lektion, aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. März 2005, S. 39. Zu den steigenden Versorgungslasten für die erwerbstätige Generation: Siehe Abbildung unten „Alterung: Solidarität auf dem Prüfstand“.

Quelle: newsletter des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. 49/2009