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Vor der Lawine des Vaterverlustes

Vor der Lawine des Vaterverlustes

Eine klassische Vatersituation: Es geht um Freitagabend, wie lange darf der Sohn auf die Party? Er steht kurz vor dem Abitur, will Pilot werden. Es stünden noch Klausuren an, da müsse man doch etwas pauken, vor allem Mathe und Physik. Seine Verhandlungsposition: „So gegen zwei oder drei“. Der Vater: „Also halb zwei“. Nach einiger Zeit landen sie bei „so gegen zwei“. Der Vater wechselt unvermittelt das Thema und sagt: Er habe da einen Piloten getroffen, der habe auf die Bedeutung von Mathe und Physik hingewiesen und vor allem, dass man genau sein müsse, präzise Angaben. Also einigen sie sich auf zwei. Am nächsten Morgen schaut der Vater kurz vor acht in Sohnemanns Zimmer. Kein Sohn, Bett gemacht, also unberührt, denkt der Vater. Und er ist auch nicht nach hause gekommen, schließt er messerscharf. Es brodelt. Die väterliche Vulkanstimmung kommt in Wallung. Er will anrufen, hält inne. Besser eine SMS, dann sieht er, dass der „Alte“ sich anstrengt. Mit Humor startet jede pädagogische Offensive besser. Mühsam tippt er die Botschaft ins Display: „Fliegst du noch den Heimathafen an oder bleibt es bei der Bauchlandung“ (ohne Fragezeichen, weil er nicht weiß, wie das geht). Sekunden später die Antwort, allein diese Schnelligkeit ist peinlich. Sie lautet: „Bin schon in der Schule. War um zehn nach zwei zuhause. Gegenwind erschwerte die Landung just in time.“ Wirklich peinlich. Vater hatte vergessen, dass der Sohn an diesem Samstag Schule hat. Jetzt blieb nur der geordnete Rückzug. Der „Alte“ antwortet mit einer Filmszene aus dem Boot, sozusagen untergetaucht: „Gut Johann, gut“.

Was lernen wir daraus? Erstens: Väter haben nicht immer recht. Zweitens: Humorvolle Pädagogik ist gute Pädagogik. Drittens: Kinder sind manchmal selbständiger und verantwortungsbewusster als Väter glauben. Und vor allem, viertens: Im Zweifel zuerst die Mutter fragen, sie hätte gesagt, dass er in der Schule ist. Mütter wissen meistens, was mit den Kindern ist oder sein sollte. Man ergänzt sich eben.

Überhaupt die Ergänzung von Mann und Frau, ein modernes Thema. Früher wurde in der Psychoanalyse der Vater eher als bedrohlicher Rivale und als repressives Autoritätsmodell (Sigmund Freud) dargestellt. Heute weiß man: Die primäre Väterlichkeit im ersten Jahr dient der Unterstützung der Mutter, die dem Kind am nächsten ist, es ja auch schon neun Monate lang war; in den weiteren Jahren, wenn das Kind sich aus der sogenannten Mutter-Kind-Dyade langsam löst, entsteht die Triangulation, also die Dreier-Beziehung, die so wichtig ist für die geschlechtliche Identitätsfindung. Und schließlich hat der Vater eine Aufgabe in der Pubertät und Präpubertät, also etwa ab acht, neun Jahren. In dieser Zeit identifiziert sich das Kind mit dem Vater und löst sich dann von ihm, es braucht ihn als Reibebaum und als Vorbild.

Wenn der Vater fehlt, entfallen vielfach diese Funktionen. Sie sind von der Mutter nur partiell zu ersetzen. Das lässt sich historisch beobachten. Der Düsseldorfer Psychotherapeut Matthias Franz hat mit empirischen Daten darauf hingewiesen, wie sehr die 68-er Revolution auch tiefenpsychologisch vom Vaterverlust geprägt war. Es war ein regime-und kriegsbedingter Vaterverlust. Bei 56 Prozent der Kinder des Jahrgangs 35 war der Vater abwesend, bei 36 Prozent des Jahrgangs 45. Die unvollständige Dreierbeziehung schuf erhebliche Identitätsprobleme und Sehnsüchte nach Ersatzvätern. Die flatterten bei den 68ern auf den Fahnen und waren wohlbekannt: Ho Chi Minh, Karl Marx, Lenin, etc. Andere Autoritäten wurden nicht mehr akzeptiert. Die psychischen Störungen des Vaterverlusts sind selbst nach 50 Jahren noch zu spüren, wenn sie nicht behandelt werden.

Auch heute erleben wir Triangulierungsnöte, spüren wir die Defizite der vaterlosen Gesellschaft, übrigens ein Begriff, der schon 1919 von dem Psychoanalytiker P. Federn geprägt wurde. Heute wenden sich die vaterlosen Kinder an Ersatzväter in Kino, Fernsehen und Computerspiel und die alleinerziehenden Mütter bekommen Schuldgefühle. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Anfälligkeit für Depression und Vaterlosigkeit. In Schweden, wo man angeblich am besten für Alleinerziehende sorgt und die Prozentzahl der alleinerziehenden Mütter auch erheblich höher liegt (mehr als die Hälfte aller Kinder werden außerhalb einer Ehe geboren), ist im Vergleich zu Deutschland die Anfälligkeit für Drogen viermal so groß, die Prozentzahl der Selbstmorde doppelt so hoch und ebenfalls doppelt so hoch ist die Prozentzahl an psychischen Krankheiten. Hier rollt – auch in Deutschland – eine Lawine heran. Denn die Zahl der alleinerziehenden Mütter ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, insgesamt sind es heute 2,6 Millionen. Noch schneller stieg die Zahl der alleinerziehenden Väter. 1991 waren es 204.000, heute sind es fast doppelt so viel mit Kindern unter 18 Jahren.

Also sollte man die Dreier-Beziehung wieder ernster nehmen. Der Psychologe Horst Schetelig beschreibt die „Triangulation“ so: „Die Verschiedenheit und nicht die Gleichheit von Vater und Mutter erleichtert die Ich-Findung und Identifikation mit dem eigenen Geschlecht. Denn sowohl der kleine Sohn als auch die kleine Tochter identifizieren sich bereits im Kleinkindalter mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Darüber hinaus erhält der gegengeschlechtliche Elternteil Vorbildfunktion für die spätere Partnerwahl“. Die Präsenz des Vaters ist heute umso wichtiger, als die Medien, insbesondere das Fernsehen, die Identifikations- und Vorbildfunktion erheblich erschweren. Fast immer sieht man die Männer als monströs kämpfende Helden oder als Versager, als Liebhaber oder als Verbrecher, höchst selten aber als liebende Väter. Hinzu kommt, daß auch im Kindergarten und in der Grundschule es kaum männliche Erzieher gibt. In den ersten zehn Jahren haben die Kinder es fast ausschließlich mit Frauen zu tun, als Mutter, Erzieherin, Lehrerin. Da sollten die Väter wenigstens in der Familie präsent sein

Die Familienforschung im Ausland hat die Väter entdeckt. Die Entwicklung vaterloser oder ihrem Vater entfremdeter Kinder ist in Deutschland dagegen immer noch kaum Gegenstand der Forschung. Den fast hundert Lehrstühlen für Frauenforschung steht kein einziger für Väterforschung gegenüber. In einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung zum Stand der Bindungsforschung und pädagogischer Arbeit wurde im vergangen Jahr in der Antwort eine Liste der Forschungsarbeiten gegeben. Von den Vätern keine Spur. Väter laufen in der Politik de facto immer noch als Bezugsperson am Rande mit. In Deutschland haben wir hier ein statistisches Loch. Bei jugendlichen Tatverdächtigen wird die Vaterpräsenz nicht erfasst. Die Psychologie aber weiß, daß der „Vaterfaktor“ bei der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nachhaltiger zu Buche schlägt, als bisher angenommen. „Kinder geraten nicht zwangsläufig auf die schiefe Bahn, nur weil sie vaterlos sind,“ sagt der Psychologe Henry Biller, der das Buch The Father Factor geschrieben hat, „aber zwei Eltern stellen einen deutlichen Vorteil dar.“ Kinder mit Vätern hätten mehr Selbstvertrauen in einer Gemeinschaft, seien insgesamt unabhängiger und verantwortungsvoller und würden schneller mit neuen Situationen fertig. Auch erzielten sie bessere Ergebnisse bei Intelligenz- und Geschicklichkeitstests. Das läge daran, daß Mann und Frau unterschiedlich mit Kindern umgingen und das Kind so mit einer umfangreicheren Palette an Erfahrungen konfrontiert würde.

Wenn der Vater fehlt, ist die emotionale Stabilität der einzelnen Familienmitglieder und der Familie selbst geschwächt oder ungeschützt. Er ist eben integrativer oder konstituierender Teil der Familie. Die Politik müsste also dafür Sorge tragen, dass der Kern dieser emotionalen Stabilität, die für eine gesunde Entwicklung des Kindes grundlegend ist, wie man aus den Hirnforschung mittlerweile vielfach abgesichert weiß, stabilisiert wird.

Hier kommt das Proprium, das Wesentliche, die Urfunktion des Vaters zum Vorschein. Er schützt. Er garantiert die Konstante der personalen Beziehung. Er ist Garant des familiären Konsenses. Vieles kann er mit der Mutter oder mit den Kindern oder mit allen gemeinsam tun. Die Rückversicherung für das Miteinander-Auskommen, der Schutz für die Intimität der Familie, der Mantel über Verfehlungen, der die Blößen der Person bedeckt. Eines ist ihm eigen: Der Vater ist der Garant des konsensualen Lebens in der Familie, er ist der Wächter der Solidarität.

Konsens setzt Kommunikation voraus. Das bedeutet nicht nur reden. Mehr noch gehört dazu das Zuhören. Die Klassiker ordneten die Solertia, die Tugend des Zuhören-Könnens, zur Kardinaltugend der Klugheit. Der Sachverhalt ist eigentlich selbstverständlich: Wer nicht zuhört, manchmal sogar die Zwischentöne heraushört, der kann nicht nur die rationalen und emotionalen Tatbestände eines Argumentes nicht wirklich wahrnehmen, er wird auch zum „verbretterten“ Oberlehrer, mit dem es sich nicht lohnt zu diskutieren. Das Hinhören ist wie die Aufnahme des Sauerstoffs. Erst Luftholen, dann reden.

Der permanente Austausch im Beziehungsprozess in der Familie, lehrt der spanische Familienforscher Pedro Juan-Viladrich, muß beschützt und garantiert werden. Das sei vor allem die Aufgabe des Ehemannes und Vaters. Deshalb gelte er noch weithin als „Familienoberhaupt“. Viladrich erklärt: „Oberhaupt bedeutet keineswegs eine Art von Herrschaft des männlichen Elementes aufgrund einer körperlichen Überlegenheit. Es bedeutet, daß es jemanden geben muß, der die gegenseitige Achtung, die gleichberechtigte und wahre Teilnahme am Meinungsaustausch zwischen Mann und Frau und in der Familie als Dienst an der gemeinsamen Lebensgestaltung wahrnimmt, deckt und rückversichert. Diese Aufgabe kommt in erster Linie dem Mann und Vater zu. Er trägt hier besondere Verantwortung für die Eintracht in der Familie, für den Schutz der liebevollen Atmosphäre. Das heißt es, ein Mann zu sein.“

Wächter der Solidarität, Garant des Konsens. Das ist der spezifische Beitrag des Vaters zur gemeinsamen Lebensgestaltung, beim Vorbildsein für die Partnerwahl, beim Austarieren des Gefühlshaushalts. Wunderbar hat das der Psychotherapeut und mehrfache Buchautor Wolfgang Bergmann in seinem Buch „Disziplin ohne Angst“ so formuliert: „Kinder brauchen die Mütter und ihre Bindungsinnigkeit, um sich den Vätern vertrauensvoll zuzuwenden, und sie benötigen die Geborgenheit beim Vater, um befreit zum Mütterlichen zurückzukehren oder anders: Die Vermischung des Männlichen und Weiblichen ist eine seelische und körperliche Basis für ein glückliches Kinderleben“. Diese Komplementarität schafft emotionale Stabilität.

Und die Autorität? Alexander Mitscherlich hat die Spannung zwischen Erziehungsfunktion und Arbeitswelt der Väter psychologisch untersucht. In seinem Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ spricht er von der „Entleerung der Autorität“. Der klassenlose Massenmensch habe den Vater sowohl als Vorbild wie als Quelle der Autorität verworfen. Es fehle „die verbindliche, anschauliche väterliche Unterweisung im tätigen Leben“, die „verlässliche Tradition“ entfalle, weshalb man sich mehr am Verhalten der Altersgenossen orientiere. „Die peer group wird zur Richtschnur des Verhaltens“. Das habe gravierende Folgen für den Strukturaufbau der Gesellschaft. Denn die kommt nicht ohne Autoritäten aus. Es müssen aber Autoritäten sein, die dienen und nicht herrschen.

Die Anerkennung von Autoritäten fängt in der Familie an. Auch deshalb ist „die Familie der Kern aller Sozialordnung“ (Benedikt XVI.). Die Familie, also Vater Mutter Kinder, ist die Quelle der dienenden Autorität, des Gemeinsinns und der Solidarität. Das Kind braucht beide Eltern. Deshalb kann es für den Vater vielleicht Ersatzspieler und Ersatzmänner geben, das Original, der Stammspieler, bleibt die natürlichste und sicherste Variante. Er sollte in Forschung, Arbeitswelt und Leben nicht weiter auf die lange Bank gesetzt werden.

Jürgen Liminski, Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (IDAF), 05.10.2009

Der Artikel „Vor der Lawine des Vaterverlustes“ erschien in gekürzter Form in der „Jungen Freiheit“ (47/09) am 13.11.09 unter dem Titel „Der Vater in der Familie – Das Kind braucht beide Eltern“.