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Vor der Lawine des Vaterverlustes

Dienstag 1. Dezember 2009 von Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.


Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Vor der Lawine des Vaterverlustes

Eine klassische Vatersituation: Es geht um Freitagabend, wie lange darf der Sohn auf die Party? Er steht kurz vor dem Abitur, will Pilot werden. Es stĂŒnden noch Klausuren an, da mĂŒsse man doch etwas pauken, vor allem Mathe und Physik. Seine Verhandlungsposition: „So gegen zwei oder drei“. Der Vater: „Also halb zwei“. Nach einiger Zeit landen sie bei „so gegen zwei“. Der Vater wechselt unvermittelt das Thema und sagt: Er habe da einen Piloten getroffen, der habe auf die Bedeutung von Mathe und Physik hingewiesen und vor allem, dass man genau sein mĂŒsse, prĂ€zise Angaben. Also einigen sie sich auf zwei. Am nĂ€chsten Morgen schaut der Vater kurz vor acht in Sohnemanns Zimmer. Kein Sohn, Bett gemacht, also unberĂŒhrt, denkt der Vater. Und er ist auch nicht nach hause gekommen, schließt er messerscharf. Es brodelt. Die vĂ€terliche Vulkanstimmung kommt in Wallung. Er will anrufen, hĂ€lt inne. Besser eine SMS, dann sieht er, dass der „Alte“ sich anstrengt. Mit Humor startet jede pĂ€dagogische Offensive besser. MĂŒhsam tippt er die Botschaft ins Display: „Fliegst du noch den Heimathafen an oder bleibt es bei der Bauchlandung“ (ohne Fragezeichen, weil er nicht weiß, wie das geht). Sekunden spĂ€ter die Antwort, allein diese Schnelligkeit ist peinlich. Sie lautet: „Bin schon in der Schule. War um zehn nach zwei zuhause. Gegenwind erschwerte die Landung just in time.“ Wirklich peinlich. Vater hatte vergessen, dass der Sohn an diesem Samstag Schule hat. Jetzt blieb nur der geordnete RĂŒckzug. Der „Alte“ antwortet mit einer Filmszene aus dem Boot, sozusagen untergetaucht: „Gut Johann, gut“.

Was lernen wir daraus? Erstens: VĂ€ter haben nicht immer recht. Zweitens: Humorvolle PĂ€dagogik ist gute PĂ€dagogik. Drittens: Kinder sind manchmal selbstĂ€ndiger und verantwortungsbewusster als VĂ€ter glauben. Und vor allem, viertens: Im Zweifel zuerst die Mutter fragen, sie hĂ€tte gesagt, dass er in der Schule ist. MĂŒtter wissen meistens, was mit den Kindern ist oder sein sollte. Man ergĂ€nzt sich eben.

Überhaupt die ErgĂ€nzung von Mann und Frau, ein modernes Thema. FrĂŒher wurde in der Psychoanalyse der Vater eher als bedrohlicher Rivale und als repressives AutoritĂ€tsmodell (Sigmund Freud) dargestellt. Heute weiß man: Die primĂ€re VĂ€terlichkeit im ersten Jahr dient der UnterstĂŒtzung der Mutter, die dem Kind am nĂ€chsten ist, es ja auch schon neun Monate lang war; in den weiteren Jahren, wenn das Kind sich aus der sogenannten Mutter-Kind-Dyade langsam löst, entsteht die Triangulation, also die Dreier-Beziehung, die so wichtig ist fĂŒr die geschlechtliche IdentitĂ€tsfindung. Und schließlich hat der Vater eine Aufgabe in der PubertĂ€t und PrĂ€pubertĂ€t, also etwa ab acht, neun Jahren. In dieser Zeit identifiziert sich das Kind mit dem Vater und löst sich dann von ihm, es braucht ihn als Reibebaum und als Vorbild.

Wenn der Vater fehlt, entfallen vielfach diese Funktionen. Sie sind von der Mutter nur partiell zu ersetzen. Das lĂ€sst sich historisch beobachten. Der DĂŒsseldorfer Psychotherapeut Matthias Franz hat mit empirischen Daten darauf hingewiesen, wie sehr die 68-er Revolution auch tiefenpsychologisch vom Vaterverlust geprĂ€gt war. Es war ein regime-und kriegsbedingter Vaterverlust. Bei 56 Prozent der Kinder des Jahrgangs 35 war der Vater abwesend, bei 36 Prozent des Jahrgangs 45. Die unvollstĂ€ndige Dreierbeziehung schuf erhebliche IdentitĂ€tsprobleme und SehnsĂŒchte nach ErsatzvĂ€tern. Die flatterten bei den 68ern auf den Fahnen und waren wohlbekannt: Ho Chi Minh, Karl Marx, Lenin, etc. Andere AutoritĂ€ten wurden nicht mehr akzeptiert. Die psychischen Störungen des Vaterverlusts sind selbst nach 50 Jahren noch zu spĂŒren, wenn sie nicht behandelt werden.

Auch heute erleben wir Triangulierungsnöte, spĂŒren wir die Defizite der vaterlosen Gesellschaft, ĂŒbrigens ein Begriff, der schon 1919 von dem Psychoanalytiker P. Federn geprĂ€gt wurde. Heute wenden sich die vaterlosen Kinder an ErsatzvĂ€ter in Kino, Fernsehen und Computerspiel und die alleinerziehenden MĂŒtter bekommen SchuldgefĂŒhle. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der AnfĂ€lligkeit fĂŒr Depression und Vaterlosigkeit. In Schweden, wo man angeblich am besten fĂŒr Alleinerziehende sorgt und die Prozentzahl der alleinerziehenden MĂŒtter auch erheblich höher liegt (mehr als die HĂ€lfte aller Kinder werden außerhalb einer Ehe geboren), ist im Vergleich zu Deutschland die AnfĂ€lligkeit fĂŒr Drogen viermal so groß, die Prozentzahl der Selbstmorde doppelt so hoch und ebenfalls doppelt so hoch ist die Prozentzahl an psychischen Krankheiten. Hier rollt – auch in Deutschland – eine Lawine heran. Denn die Zahl der alleinerziehenden MĂŒtter ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, insgesamt sind es heute 2,6 Millionen. Noch schneller stieg die Zahl der alleinerziehenden VĂ€ter. 1991 waren es 204.000, heute sind es fast doppelt so viel mit Kindern unter 18 Jahren.

Also sollte man die Dreier-Beziehung wieder ernster nehmen. Der Psychologe Horst Schetelig beschreibt die „Triangulation“ so: „Die Verschiedenheit und nicht die Gleichheit von Vater und Mutter erleichtert die Ich-Findung und Identifikation mit dem eigenen Geschlecht. Denn sowohl der kleine Sohn als auch die kleine Tochter identifizieren sich bereits im Kleinkindalter mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. DarĂŒber hinaus erhĂ€lt der gegengeschlechtliche Elternteil Vorbildfunktion fĂŒr die spĂ€tere Partnerwahl“. Die PrĂ€senz des Vaters ist heute umso wichtiger, als die Medien, insbesondere das Fernsehen, die Identifikations- und Vorbildfunktion erheblich erschweren. Fast immer sieht man die MĂ€nner als monströs kĂ€mpfende Helden oder als Versager, als Liebhaber oder als Verbrecher, höchst selten aber als liebende VĂ€ter. Hinzu kommt, daß auch im Kindergarten und in der Grundschule es kaum mĂ€nnliche Erzieher gibt. In den ersten zehn Jahren haben die Kinder es fast ausschließlich mit Frauen zu tun, als Mutter, Erzieherin, Lehrerin. Da sollten die VĂ€ter wenigstens in der Familie prĂ€sent sein

Die Familienforschung im Ausland hat die VĂ€ter entdeckt. Die Entwicklung vaterloser oder ihrem Vater entfremdeter Kinder ist in Deutschland dagegen immer noch kaum Gegenstand der Forschung. Den fast hundert LehrstĂŒhlen fĂŒr Frauenforschung steht kein einziger fĂŒr VĂ€terforschung gegenĂŒber. In einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung zum Stand der Bindungsforschung und pĂ€dagogischer Arbeit wurde im vergangen Jahr in der Antwort eine Liste der Forschungsarbeiten gegeben. Von den VĂ€tern keine Spur. VĂ€ter laufen in der Politik de facto immer noch als Bezugsperson am Rande mit. In Deutschland haben wir hier ein statistisches Loch. Bei jugendlichen TatverdĂ€chtigen wird die VaterprĂ€senz nicht erfasst. Die Psychologie aber weiß, daß der „Vaterfaktor“ bei der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nachhaltiger zu Buche schlĂ€gt, als bisher angenommen. „Kinder geraten nicht zwangslĂ€ufig auf die schiefe Bahn, nur weil sie vaterlos sind,“ sagt der Psychologe Henry Biller, der das Buch The Father Factor geschrieben hat, „aber zwei Eltern stellen einen deutlichen Vorteil dar.“ Kinder mit VĂ€tern hĂ€tten mehr Selbstvertrauen in einer Gemeinschaft, seien insgesamt unabhĂ€ngiger und verantwortungsvoller und wĂŒrden schneller mit neuen Situationen fertig. Auch erzielten sie bessere Ergebnisse bei Intelligenz- und Geschicklichkeitstests. Das lĂ€ge daran, daß Mann und Frau unterschiedlich mit Kindern umgingen und das Kind so mit einer umfangreicheren Palette an Erfahrungen konfrontiert wĂŒrde.

Wenn der Vater fehlt, ist die emotionale StabilitĂ€t der einzelnen Familienmitglieder und der Familie selbst geschwĂ€cht oder ungeschĂŒtzt. Er ist eben integrativer oder konstituierender Teil der Familie. Die Politik mĂŒsste also dafĂŒr Sorge tragen, dass der Kern dieser emotionalen StabilitĂ€t, die fĂŒr eine gesunde Entwicklung des Kindes grundlegend ist, wie man aus den Hirnforschung mittlerweile vielfach abgesichert weiß, stabilisiert wird.

Hier kommt das Proprium, das Wesentliche, die Urfunktion des Vaters zum Vorschein. Er schĂŒtzt. Er garantiert die Konstante der personalen Beziehung. Er ist Garant des familiĂ€ren Konsenses. Vieles kann er mit der Mutter oder mit den Kindern oder mit allen gemeinsam tun. Die RĂŒckversicherung fĂŒr das Miteinander-Auskommen, der Schutz fĂŒr die IntimitĂ€t der Familie, der Mantel ĂŒber Verfehlungen, der die BlĂ¶ĂŸen der Person bedeckt. Eines ist ihm eigen: Der Vater ist der Garant des konsensualen Lebens in der Familie, er ist der WĂ€chter der SolidaritĂ€t.

Konsens setzt Kommunikation voraus. Das bedeutet nicht nur reden. Mehr noch gehört dazu das Zuhören. Die Klassiker ordneten die Solertia, die Tugend des Zuhören-Könnens, zur Kardinaltugend der Klugheit. Der Sachverhalt ist eigentlich selbstverstĂ€ndlich: Wer nicht zuhört, manchmal sogar die Zwischentöne heraushört, der kann nicht nur die rationalen und emotionalen TatbestĂ€nde eines Argumentes nicht wirklich wahrnehmen, er wird auch zum „verbretterten“ Oberlehrer, mit dem es sich nicht lohnt zu diskutieren. Das Hinhören ist wie die Aufnahme des Sauerstoffs. Erst Luftholen, dann reden.

Der permanente Austausch im Beziehungsprozess in der Familie, lehrt der spanische Familienforscher Pedro Juan-Viladrich, muß beschĂŒtzt und garantiert werden. Das sei vor allem die Aufgabe des Ehemannes und Vaters. Deshalb gelte er noch weithin als „Familienoberhaupt“. Viladrich erklĂ€rt: „Oberhaupt bedeutet keineswegs eine Art von Herrschaft des mĂ€nnlichen Elementes aufgrund einer körperlichen Überlegenheit. Es bedeutet, daß es jemanden geben muß, der die gegenseitige Achtung, die gleichberechtigte und wahre Teilnahme am Meinungsaustausch zwischen Mann und Frau und in der Familie als Dienst an der gemeinsamen Lebensgestaltung wahrnimmt, deckt und rĂŒckversichert. Diese Aufgabe kommt in erster Linie dem Mann und Vater zu. Er trĂ€gt hier besondere Verantwortung fĂŒr die Eintracht in der Familie, fĂŒr den Schutz der liebevollen AtmosphĂ€re. Das heißt es, ein Mann zu sein.“

WĂ€chter der SolidaritĂ€t, Garant des Konsens. Das ist der spezifische Beitrag des Vaters zur gemeinsamen Lebensgestaltung, beim Vorbildsein fĂŒr die Partnerwahl, beim Austarieren des GefĂŒhlshaushalts. Wunderbar hat das der Psychotherapeut und mehrfache Buchautor Wolfgang Bergmann in seinem Buch „Disziplin ohne Angst“ so formuliert: „Kinder brauchen die MĂŒtter und ihre Bindungsinnigkeit, um sich den VĂ€tern vertrauensvoll zuzuwenden, und sie benötigen die Geborgenheit beim Vater, um befreit zum MĂŒtterlichen zurĂŒckzukehren oder anders: Die Vermischung des MĂ€nnlichen und Weiblichen ist eine seelische und körperliche Basis fĂŒr ein glĂŒckliches Kinderleben“. Diese KomplementaritĂ€t schafft emotionale StabilitĂ€t.

Und die AutoritĂ€t? Alexander Mitscherlich hat die Spannung zwischen Erziehungsfunktion und Arbeitswelt der VĂ€ter psychologisch untersucht. In seinem Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ spricht er von der „Entleerung der AutoritĂ€t“. Der klassenlose Massenmensch habe den Vater sowohl als Vorbild wie als Quelle der AutoritĂ€t verworfen. Es fehle „die verbindliche, anschauliche vĂ€terliche Unterweisung im tĂ€tigen Leben“, die „verlĂ€ssliche Tradition“ entfalle, weshalb man sich mehr am Verhalten der Altersgenossen orientiere. „Die peer group wird zur Richtschnur des Verhaltens“. Das habe gravierende Folgen fĂŒr den Strukturaufbau der Gesellschaft. Denn die kommt nicht ohne AutoritĂ€ten aus. Es mĂŒssen aber AutoritĂ€ten sein, die dienen und nicht herrschen.

Die Anerkennung von AutoritĂ€ten fĂ€ngt in der Familie an. Auch deshalb ist „die Familie der Kern aller Sozialordnung“ (Benedikt XVI.). Die Familie, also Vater Mutter Kinder, ist die Quelle der dienenden AutoritĂ€t, des Gemeinsinns und der SolidaritĂ€t. Das Kind braucht beide Eltern. Deshalb kann es fĂŒr den Vater vielleicht Ersatzspieler und ErsatzmĂ€nner geben, das Original, der Stammspieler, bleibt die natĂŒrlichste und sicherste Variante. Er sollte in Forschung, Arbeitswelt und Leben nicht weiter auf die lange Bank gesetzt werden.

JĂŒrgen Liminski, Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie (IDAF), 05.10.2009

Der Artikel „Vor der Lawine des Vaterverlustes“ erschien in gekĂŒrzter Form in der „Jungen Freiheit“ (47/09) am 13.11.09 unter dem Titel „Der Vater in der Familie – Das Kind braucht beide Eltern“.  

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 1. Dezember 2009 um 9:32 und abgelegt unter Ehe u. Familie.