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Wie tolerant muß ein Christ sein?

Wie tolerant muß ein Christ sein?

Es gibt Begriffe, auf die man nach Art des Kniesehnenreflexes unwillkürlich positiv reagiert. Der Begriff „Toleranz“ gehört dazu. Toleranz gehört heute zu den selbstverständlichen verfassungsrechtlich garantierten Grundlagen eines demokratisch freiheitlichen Rechtsstaates. Toleranz wird von vielen gefordert, aber von wenigen überzeugend gelebt.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie immer nur dann besonders lautstark eingefordert wird, wenn die eigenen Überzeugungen angegriffen werden. Auch in unseren Tagen wird immer wieder Toleranz gefordert – sei es gegenüber bestimmten Randgruppen, sei es gegenüber anderen Lebensformen, sei es gegenüber Vertretern anderer Religionen.

Wie stehen wir zu dieser Forderung? Gerade im Blick auf das reformatorische Erbe unserer evangelischen Kirche ist daran zu erinnern, daß die Reformation unlöslich mit der Forderung nach Toleranz verbunden ist. Luther hat die gebotene Toleranz mit dem einfachen Satz beschrieben, daß Glaube nicht erzwungen werden könne. Das war in der damaligen Zeit eine geradezu revolutionäre Forderung von ungeheurer Tragweite. Er selbst nahm diese Freiheit für sich in Anspruch. Im April 1521 hielt er auf dem Reichstag in Worms seine berühmte Rede, in der er begründete, warum es nicht gut sei, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Toleranz im reformatorischen Sinn ruht auf zwei Pfeilern: einmal auf der Respektierung des Gewissens und zum andern auf der Nächstenliebe, die ein Ja zum anderen hat. weil er ein Geschöpf Gottes ist. Glaube darf also nicht erzwungen werden. Daraus folgt zwangsläufig, daß es ertragen werden muß, wenn andere anders denken und glauben. Die Voraussetzung für solches Ertragen ist die Kenntnis der anderen Meinung und die Gewißheit der eigenen.

Christliche Toleranz – daran haben die Reformatoren erinnert, auch wenn sie es selbst nicht immer vorbildlich durchgehalten haben – sucht die Begegnung mit dem anderen auch dort, wo sich das Ja zur Person mit einem Nein zu ihren Überzeugungen verbindet. Diese kraftvolle Toleranz erlitt im Zuge der geschichtlichen Entwicklung eine folgenschwere Abwandlung.

Das geschah durch die ansonsten in vieler Hinsicht so dankenswerte Epoche der Aufklärung im 18 Jahrhundert. Der Pfarrerssohn Gotthold Ephraim Lessing war es, der in seinem Schauspiel „Nathan der Weise“ in der berühmten Ringparabel die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam mit drei Ringen vergleicht. Zunächst gab es nur einen einzigen Ring, der die wundersame Eigenschaft hatte, vor Gott und Menschen angenehm zu machen. Dieser Ring wurde von seinem Besitzer immer auf den jeweils liebsten und würdigsten Sohn vererbt. Nun kam der Ring an einen Vater, der drei Söhne hatte, die er alle drei gleich liebhatte. So ließ er zwei Kopien anfertigen, die dem echten Ring so ähnlich waren, daß er selbst den echten von den beiden anderen nicht unterscheiden konnte. Als der Vater stirbt, kommt es zum Streit zwischen den drei Brüdern. Ein Richter soll entscheiden – und der sagt: „Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen, vor Gott und Menschen angenehm. Das muß entscheiden! Also wird man ja sehen, von welchem Träger des Ringes dies gesagt werden kann.“ Mit anderen Worten: Nichts Genaues weiß man nicht: „So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten, – Möglich, daß der Vater nun / Die Tyrannei des einen Ringes nicht länger / In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß, / Daß er euch alle drei geliebt, und gleich / Geliebt, indem er zwei nicht drücken mögen, / Um einen zu begünstigen …“ (Nathan, der Weise. Dritter Aufzug, siebenter Auftritt) Nach Lessing ist der Wert der Religion nicht am Inhalt der Offenbarung zu messen, sondern an dem. was der Gläubige daraus macht. Auf diese Weise wird ausgerechnet durch die Aufklärung die von der Reformation bekämpfte Werkgerechtigkeit wieder auf den Leuchter gestellt: „Es eifre jeder seiner unbestochnen,/ Von Vorurteilen freien Liebe nach!/ Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag / Zu legen! …“ Die berühmte Ringparabel: In Lessings Schauspiel „Nathan, der Weise“ werden drei Religionen mit drei Ringen verglichen, Drei Söhne betrachten ihre Ringe (von denen nur einer eine wundersame Eigenschaft hatte – die beiden anderen waren Duplikate). Die Söhne wußten nicht, welcher Ring der echte ist.

Für Lessing gibt es keine allein seligmachende Religion. Entscheidend für ihn ist, was der Einzelne in seiner Religion bewirkt. (Das Bild wurde gemalt von Moritz Daniel Oppenheim, 1845.) Lessing lehnte es ab, die Inhalte der Religionen wertend zu vergleichen. Für ihn sind – nach der Ringparabel zu urteilen – alle drei Religionen gleich gültig. Wenn aber erst einmal alles als gleich gültig bezeichnet wird, ist der Weg dahin nicht mehr weit, daß alles, was mit Religion zusammenhängt, gleichgültig wird. Dieser Schluß entsprach zwar nicht der Absicht von Lessing, aber in der weiteren Wirkungsgeschichte der Ringparabel war das die Folge seiner Argumentation. Das ist weithin unsere Lage heute, daß man aus vermeintlicher Toleranz wesentliche Unterschiede zwischen den Religionen verschweigt oder verharmlost, gemeinsame Gottesdienste feiert und behauptet, letztlich würden wir doch alle an denselben Gott glauben und zu demselben Gott beten. In diesem Sinne finden immer häufiger gemeinsame Gottesdienste und Andachten mit Angehörigen verschiedener Religionen statt.

Jesus aber sagt: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30); „Wer mich sieht, sieht den Vater!“ (Johannes 14,9); „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6). Genau dieser Anspruch wird von den Religionen abgelehnt. Warum kommt dennoch gerade aus christlichen Kreisen die Initiative zu solchen gemeinsamen Gottesdiensten? Dahinter steht fast immer ein durchaus sympathisches Motiv: Man möchte bestimmten Menschen und Gruppen nur Freundliches sagen und geben. Das gilt vor allem im Blick auf Menschen, die in der Vergangenheit wegen ihrer Religionszugehörigkeit abgelehnt oder gar verachtet wurden.

Aus dem gleichen Motiv heraus setzten sich kirchenleitende Persönlichkeiten aus der evangelischen Kirche in den vergangenen Jahren engagiert für die Forderungen der Homosexuellen ein, weil auch sie oft genug – auch aus der Kirche heraus – diskriminiert worden sind. Es gab kaum eine Synode, ob auf der Ebene des Kirchenkreises, der Landeskirche oder der EKD, in der dieses Thema nicht ausführlich behandelt wurde, teilweise mit einer Leidenschaft, als hinge von dieser Klärung die Zukunft der Volkskirche ab. Es ist richtig und notwendig, daß die Kirche auch Menschen offen und freundlich begegnet, die einen besonderen Lebensstil praktizieren. Aber muß dazu die biblische Wahrheit verkürzt bzw. uminterpretiert werden? Toleranz besteht ja gerade darin, daß die Wahrheit dem Andersdenkenden in Liebe bezeugt wird, daß ich den andern in seinem Anderssein ertrage und erdulde und umgekehrt erwarten darf, daß auch der andere meine Überzeugungen respektiert. Genau diese Bedeutung steckt in dem lateinischen Wort „tolerare“. Ich muß nicht die Meinung eines anderen teilen, um meine Toleranz unter Beweis zu stellen. Im Gegenteil: „Zum Tolerantsein gehört begriffsnotwendig eine Art von Mißbilligung dessen, was einer tut oder denkt.“ So der Politologe Kurt Sontheimer. Niemand wird also im Ernst erwarten können, daß Christen mit ihrem Ja zur Toleranz damit automatisch auch Antichristliches und Unbiblisches – wie das Gedankengut des Koran oder wie in ganz anderer Weise praktizierte Homosexualität – positiv bewerten müßten. Genau dieser Trugschluß liegt aber bei vielen Entscheidungsträgern innerhalb der Kirche vor. Das führt zwangsläufig dazu, daß bestimmte Aussagen der Bibel uminterpretiert oder als „zeitbedingt“ entschärft werden. Die Botschaft der Bibel müsse den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen angepaßt werden. Andersherum wird aber ein Schuh draus, in dem man gehen und stehen kann: Der Mensch täte gut daran, sich den Geboten und Verheißungen der Bibel anzupassen und sie allein zum gültigen Maßstab zu nehmen.

Jesus sagt nicht: „Selig sind, die das Wort Gottes so lange uminterpretieren, bis am Ende das Gegenteil herauskommt“, sondern: „Selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren“ (Lukas 11,28). Jeder, der mit Ernst Christ sein will, muß es hinnehmen, daß es Aussagen der Heiligen Schrift gibt, die ihm zu schaffen machen. Vielleicht werden wir aber nirgendwo stärker gesegnet als dort, wo wir uns demütig unter die Aussagen stellen, die uns querliegen. Irgendwann werden gerade diese Sätze so zu uns sprechen, daß wir dafür noch dankbar sein werden! Es ist doch auch sonst im Leben so, daß wir oftmals erst später erkannt haben, daß es gut war, wenn uns in der Erziehung, in der Schule, in der Ausbildung, in der Familie, aber auch in der Verkündigung der biblischen Botschaft nicht immer nach dem Munde geredet wurde. Wir mußten auch Kritik und Korrekturen hinnehmen und sind vielleicht gerade daran gewachsen. Nicht nur für Christen, aber für sie besonders gilt: Nur das trägt im Leben, was auf Liebe und Wahrheit gründet. Beides gehört zur echten Toleranz! Nur Liebe – das kann dazu führen, daß alles Problematische ausgeblendet wird und der andere auf seinem Weg bestärkt wird, also auch auf einem Weg, den ich als falsch ansehe. Nur Wahrheit – das kann dazu führen, daß der andere dies als kalte Rechthaberei versteht und sich innerlich dagegen verschließt. Denn – so hat es der Maler Heinrich Zille treffend gesagt – „man kann mit der Wahrheit jemanden erschlagen wie mit einem Ziegelstein“. Aber in Liebe die Wahrheit sagen und eventuell ertragen müssen, daß das eine oder andere oder beides zurückgewiesen wird und wir dennoch diesen andersdenkenden Menschen, der uns nicht gleichgültig sein darf, im Gebet vor Gott bringen – das ist die wahre christliche Toleranz.

Jens Motschmann
Juni 2008