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Der verleugnete Rechtsstaat

Der verleugnete Rechtsstaat
Zur Kultur des Todes in Europa

I. Tarnkappen

Seit 30 Jahren schleicht die Kultur des Todes durch Deutschland. Sie gibt vor, Leben zu schützen, die Menschenwürde zu respektieren und die Selbstbestimmung zu fördern. In Wirklichkeit ist sie angetreten, Leben zu vernichten, die Menschenwürde zu relativieren und Ungeborene sowie Sterbende, die der Wellness-Gesellschaft zur Last fallen, zu entsorgen. Kultur des Todes ist ein sperriger Begriff. Sie hat nichts zu tun mit der ars moriendi, jener Kunst des Sterbens eines reifen Menschen, der dem Tod ebenso bewußt wie gelassen entgegengeht, ja ihn, wie Franz von Assisi, als Bruder begrüßt. Sie hat auch nichts zu tun mit Mord und Totschlag, die es unter Menschen gibt, seit Kain Abel erschlug, auf denen aber immer der Fluch des Verbrechens lag. Kultur des Todes meint vielmehr ein Verhalten einerseits und gesellschaftliche sowie rechtliche Strukturen andererseits, die bestrebt sind, das Töten gesellschaftsfähig zu machen, indem es als medizinische Dienstleistung oder als Sozi-Abhilfe getarnt wird. Die Kultur des Todes will das Töten vom Fluch des Verbrechens befreien. Sie bedient sich vieler Tarnkappen.

1. Tarnkappe: Lebensschutz

Das erste Feld, auf dem sie sich ausbreitete, war das Feld des Abtreibungsstrafrechts. Am 26. April 1974 verabschiedete der Bundestag die erste Reform des § 218. Unter der Tarnkappe einer Verbesserung des Lebensschutzes und einer Eindämmung der Zahl der Aborte legalisierte der Gesetzgeber die Tötung ungeborener Kinder in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft. Am 18. Juni 1974 trat die Reform in Kraft. Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Fristenregelung am 25. Februar 1975 als grundgesetzwidrig verwarf, hat sich an der faktischen Freigabe der Abtreibung nichts geändert. Auch die Notlagenindikation der zweiten Reform des § 218 vom 18. Mai 1976 ermöglichte es jeder Schwangeren, ihr Kind töten zu lassen, wenn es ihren Lebensplanungen in die Quere kam. Dasselbe gilt für die dritte und die vierte Reform des § 218 nach der Wiedervereinigung. Mit dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 vollzog der Bundestag den Paradigmenwechsel vom strafbewehrten Abtreibungsverbot, das wenigstens noch auf dem Papier stand, zum Beratungsangebot, mit dem er behauptete, das ungeborene Kind besser schützen zu können, und den das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Urteil von 1975 als grundgesetzkonform bezeichnet hatte. Das zweite große Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsstraffrecht vom 28. Mai 1993 verwarf dann lediglich die Bezeichnung der Abtreibung nach Beratung als „nicht rechtswidrig“ und verlangte eine deutlichere Orientierung der Beratung am Lebensschutz. Es bestätigte aber den Paradigmenwechsel, der das Lebensrecht des Kindes dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren opferte. In seiner vierten Reform vom 21. August 1995, die dem § 218 seine heute geltende Fassung gibt, bekräftige der Bundestag den Paradigmenwechsel, der den Staat verpflichtet, ein flächendeckendes Netz nicht nur von Beratungs-, sondern auch von Abtreibungseinrichtungen vorzuhalten und eigene Sozialhilferegelungen zwecks Übernahme der Abtreibungskosten zu treffen. Unter den Tarnkappen „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“ (1992) und „Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetz“ (1995) wird weder der Schwangeren noch den Familien Hilfe angeboten. Sie verschleiern einmal mehr die Freigabe der Tötung und die perverse Verpflichtung des Staates, die Tötung nicht nur strafrechtlich, sondern im Hinblick auf den Arztvertrag der abtreibungswilligen Schwangeren auch zivilrechtlich und im Hinblick auf die Kostenübernahme sozialrechtlich zu regeln. Sie lassen „den Staat zum Komplizen der Tötung verkommen“ (Herbert Tröndle). Der Bonner Zivil- und Familienrechtler Wilhelm Bosch nannte die Reform des § 218 1992 die „dunkelste Stunde der deutschen Legislative“ seit 1945.

2. Tarnkappe: Zahnarztbesuch

Um die Freigabe der Abtreibung weiterhin als Verbesserung des Lebensschutzes ausgeben zu können, waren eine Reihe weiterer Tarnkappen nötig, die die Beschreibung des Abtreibungsvorganges in sogenannten Aufklärungsbroschüren, die Finanzierung der Abtreibungen und die Abtreibungsstatistik betreffen. Pro Familia – selbst eine Tarnkappe, unter der sich, Engagement für die Familie suggerierend, die Abtreibungslobby sammelt – bedient sich in Informationsbroschüren, die beanspruchen, abtreibungswilligen Schwangeren die Prozedur der Abtreibung zu erklären, einer Sprache, in der weder das Kind noch der Embryo vorkommt: „Zuerst wird durch eine Tastuntersuchung und Ultraschall die Lage der Gebärmutter und die genaue Schwangerschaftsdauer festgestellt. Mit einer reizlosen Lösung wird die Scheide desinfiziert. Nach einer kaum spürbaren Betäubungsspritze wird der Gebärmuttermund mit dünnen Stäbchen wenige Millimeter aufgedehnt. Anschließend wird mit einem dünnen Röhrchen das Schwangerschaftsgewebe abgesaugt. Sobald die Gebärmutter leer ist, zieht sie sich kräftig zusammen, wodurch vorübergehend periodenähnliche Schmerzen auftreten können. Der Eingriff dauert ungefähr zehn Minuten. Nach dem Abbruch gehen Sie zurück in den Ruheraum und erholen sich bei einer Tasse Tee oder Kaffee“, so Pro Familia Bremen. Nüchterner, aber nicht weniger verschleiernd, Pro Familia Frankfurt in einer Broschüre „Schwangerschaftsabbruch, was Sie wissen müssen – was Sie beachten sollen“: „Zum Abbruch einer Schwangerschaft muß zunächst der Gebärmutterhalskanal schonend erweitert werden. Dann wird der Inhalt der Gebärmutter entfernt.“ Die Verdummung im Gewande der Aufklärung hat auch Eingang gefunden in den Jugendroman von Nina Schindler „Intercity“ (Weinheim/Basel 1998), in dem eine Pro-Familia-Beraterin die Abtreibung gegenüber der 17-jährigen schwangeren Lisa mit dem Ziehen eines Zahnes vergleicht. „Also, wenn nun der Abbruch beschlossene Sache ist, dann erhalten Sie den Termin, finden sich hier ein, bekommen einen örtliche Betäubung, weil der Muttermund geöffnet werden muß. Dann wird abgesaugt, mit einem Spezialgerät, und anschließend bleiben Sie noch eine Stunde im Ruheraum. Dann schaut die Ärztin Sie sich noch einmal an, und dann können Sie gehen. Es ist zwar eine große Sache für Ihre Gefühle und für gewisse moralische Vorstellungen, aber medizinisch gesehen ist es weniger schmerzhaft, als einen Zahn zu ziehen“. So wird die Abtreibung für Lisa zur großen Befreiung, zur Rückkehr ins Leben. Sie hat nur noch Hunger nach Pommes und Würstchen und könnte „zwei Frittenbuden leer fressen.“

3. Tarnkappe: Sozialleistung

Alle Reformen des Abtreibungsstrafrechts tarnten die Tötung des ungeborenen Kindes als sozialstaatliche Leistung. Sie zwangen die Krankenkassen bzw. ab 1995 die Sozialämter zur Übernahme der Abtreibungskosten. Schon die erste Fristenregelung 1974 wurde von einer Änderung der Paragraphen 200f und 200g der Reichsversicherungsordnung begleitet. Die Krankenkassen sollten danach zwar nur jene Abtreibungen bezahlen, die nicht rechtswidrig waren, aber sie vereinbarten 1986, jede Abtreibung, nach der ein Arzt Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, als „nicht rechtswidrig“ zu betrachten und zu bezahlen. Abtreibung wurde zur „Sachleistung“ der Krankenkassen, die ihren Mitgliedern somit nicht Geld, sondern die ärztliche Dienstleistung der Tötung ungeborener Kinder schuldeten. „Der Staat tötet“, so brachte Josef Isensee diese Reform auf den Punkt. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 zwar, daß die Finanzierung rechtswidriger Abtreibungen durch die Krankenkassen mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, „weil dadurch das allgemeine Bewußtsein der Bevölkerung, daß das Ungeborene auch gegenüber der Mutter ein Recht auf Leben hat und daher der Abbruch der Schwangerschaft grundsätzlich Unrecht ist, erheblich beschädigt würde.“ Aber es verkündete gleichzeitig, daß die Finanzierung der Abtreibungen durch die Sozialhilfe verfassungsrechtlich ebensowenig zu beanstanden sei wie die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung. Dies war einer der markantesten Widersprüche in dem an Widersprüchen reichen Urteil. So hat sich faktisch nichts geändert. Die Kultur des Todes bedient sich weiterhin der Tarnkappe der Sozialleistung. Der Bundestag verabschiedete ein „Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen“, eine Sozialhilfe de luxe, die die Bundesländer verpflichtet, den Krankenkassen die vorgestreckten Abtreibungskosten zurückzuerstatten. Dabei setzte er die bei der normalen Sozialhilfe geltenden Einkommensgrenzen um rund 30 % höher an und schrieb vor, die Einkünfte des Mannes nicht zu berücksichtigen. Sozialhilfe zwecks Tötung eines Kindes ist somit wesentlich leichter zu beziehen als Sozialhilfe zwecks Geburt und Erziehung eines Kindes. In rund 90 % aller Abtreibungen nach Beratung werden so den Krankenkassen die Kosten einer Abtreibung von den Sozialministerien der Bundesländer erstattet. Dies waren 2002 rund 42 Millionen Euro. Das Bewußtsein, daß Abtreibungen rechtswidrig sind, schwindet nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei Richtern. So untersagte das Landgericht Heilbronn in einem Urteil vom 18. Dezember 2001 einem Abtreibungsgegner, vor der Praxis eines Abtreibungsarztes auf die Rechtswidrigkeit der Abtreibungen hinzuweisen, mit der Begründung, „ein Schwangerschaftsabbruch, dessen Voraussetzungen detailliert geregelt sind und an dessen Durchführung zudem staatliche und kirchliche Stellen im Rahmen des obligatorischen Beratungsgesprächs mittelbar mitwirken, ist nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums wenn auch nicht erwünscht, so doch rechtmäßig“.

4. Tarnkappe: Statistik

Die Abtreibungsstatistik scheint sich auf den ersten Blick nicht dazu zu eignen, die Kultur des Todes zu fördern. Schließlich gelten Zahlen als objektiv, Meldevorschriften als kontrollierbar und Statistische Ämter als Behörden ohne politische Interessen. Aber auch die Abtreibungsstatistik dient der Kultur des Todes. Schon die 1976 eingeführte Meldepflicht wurde derart missachtet, dass das Statistische Bundesamt jedes Jahr mit der gleichen Vorbemerkung vor den eigenen Zahlen warnte: „Die Ergebnisse sind hinsichtlich ihrer Größenordnung und Entwicklung mit Vorbehalt zu betrachten, weil verschiedene Indizien darauf hindeuten, dass nicht alle Ärzte… ihrer Meldepflicht nachkommen; ferner muß mit einer gewissen Zahl von illegalen Abbrüchen gerechnet werden“.

Das wichtigste Indiz dafür, dass die Zahlen des Statistischen Bundesamtes – in den 80er Jahren durchschnittlich rund 85.000 – zu niedrig waren, bot die Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, bei der jährlich rund 50 % mehr Abtreibungen als dem Statistischen Bundesamt gemeldet abgerechnet wurden. Fügt man diesen Abtreibungen noch jene hinzu, die von Privatkassen oder von Selbstzahlern bezahlt, die im Ausland durchgeführt oder bei den Krankenkassen unter falschen Ziffern abgerechnet wurden, so kommt man nicht umhin, schon für die 80er Jahre von jährlich rund 200.000 Abtreibungen auszugehen. Gewiß, es gibt keine präzisen Zahlen, aber es gibt plausible Schätzungen. Reichlich abwegig waren dagegen die Versuche der Regierung Kohl, die Abtreibungszahlen der 80er Jahre als Erfolg zu verkaufen, indem behauptet wurde, vor der Reform des § 218 habe es jährlich 400.000 (Helmut Kohl) oder gar 500.000 Abtreibungen (Rita Süssmuth) gegeben. Da hätten sich selbst die 200.000 Abtreibungen noch als Erfolg ausgeben lassen. Kohl und Süssmuth stützten sich jedoch ganz unkritisch auf Behauptungen von Pro Familia, in denen jährlich neu „fallende Abtreibungszahlen“ vorgerechnet wurden. Sie hätten sich ruhig auf ihre sozialliberale Vorgängerregierung stützen können, deren Gesundheits-Ministerium in der Reformdebatte Anfang der 70er Jahre zu berechnen hatte, welche Kosten auf die Krankenkassen zukommen, wenn sie die Abtreibungen zu bezahlen haben, und die nicht von 400.000, sondern von 90.000 bis 106.000 jährlichen Abtreibungen ausging.

Da auch die niedrigsten Zahlen der Abtreibungsstatistik immer noch geeignet waren, bei dem einen oder anderen Erschrecken auszulösen, und der Streit um die richtigen Zahlen immer wieder aufflammte, verfiel der Bundestag bei seiner dritten Reform des § 218 am 26. Juni 1992 auf die Idee, das Problem der Statistik dadurch zu lösen, dass er die Meldepflicht ganz abschaffte. Dem schob das Bundesverfassungsgericht schon am 4. August 1992 einen Riegel vor, indem es in einer einstweiligen Verfügung die Fortführung der Meldepflicht anordnete und in seinem Urteil später erklärte, der Staat sei auf eine zuverlässige Statistik angewiesen, wenn er die Effektivität seiner Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens überprüfen wolle. So wurde die Meldepflicht in die vierte Reform 1995 wieder aufgenommen und das Meldeverfahren sogar verbessert. Aber zuverlässig ist die Abtreibungsstatistik deshalb noch lange nicht. Auch in den folgenden fünf Jahren erklärte das Statistische Bundesamt regelmäßig, die Abtreibungszahlen seien nicht vollständig, weil bei den Landesärztekammern „keine oder nur unzureichende Erkenntnisse“ über die Ärzte vorlägen, die Abtreibungen vornehmen, weil die Wahrhaftigkeit der Antworten der Ärzte nicht überprüfbar sei und bei Tests auch Antwortverweigerungen zu verzeichnen waren. Außerdem fehlten die unter einer anderen Diagnose abgerechneten und die im Ausland vorgenommenen Abtreibungen. Die rot-grüne Bundesregierung hat es offenkundig für inopportun gehalten, der eigenen Statistik mit derartiger Skepsis zu begegnen. Seit 2001 fehlt diese Erklärung, obwohl sich weder die Rechtsgrundlagen der Abtreibungsstatistik noch die Meldeverfahren geändert haben. Die neue Behauptung in den Vorbemerkungen der Statistik, es sei dem Statistischen Bundesamt nun möglich, „die Einhaltung der Auskunftspflicht zu kontrollieren“, wird durch Fakten nicht gedeckt. Es werden auch keine Gründe genannt, die einsichtig machen würden, wie die früher beklagten Defizite beseitigt werden. Nach wie vor muß die jährlich gemeldete Zahl der Abtreibungen verdoppelt werden, will man der Realität nahekommen. Das bedeutet, 260.000 Abtreibungen entsprechen eher der Wirklichkeit als die 131.500, die das Statistische Bundesamt im Durchschnitt der Jahre seit 1996 meldete. Ein geringfügiger Rückgang der Abtreibungen 2003 auf 128.030 bedeutet noch keinen Rückgang der Abtreibungshäufigkeit, da auch die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter von 15 bis 45 seit 1996 um rund 310.000 zurückgegangen ist. Im Jahr 2004 ist die Zahl denn auch wieder auf 129.600 gestiegen.

In den 30 Jahren seit der Freigabe der Abtreibung 1974 sind somit nach der Statistik des Statistischen Bundesamtes in Ost- und Westdeutschland 4,2 Millionen Kinder getötet worden, nach plausiblen Schätzungen aber mehr als acht Millionen. Der Bundestag wurde durch das Bundesverfassungsgericht 1993 zu einer Erfolgskontrolle seines Paradigmenwechsels verpflichtet. Wäre er an dieser Erfolgskontrolle wirklich interessiert, müßte er nicht nur das Meldeverfahren vereinheitlichen und konsequent kontrollieren, sondern auch wissenschaftliche Untersuchungen in jenen Fallgruppen der Abtreibungen, die sich der Meldepflicht ganz entziehen, in Auftrag geben. An zuverlässigen Zahlen aber ist er einstweilen nicht interessiert. Sie könnten ihn an den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts erinnern, das Gesetz zu korrigieren und nachzubessern, wenn sich nach angemessener Beobachtungszeit herausstellt, daß das vom Grundgesetz geforderte Maß an Schutz des ungeborenen Lebens nicht gewährleistet ist. Zuverlässigere Zahlen könnten die Tarnkappe, der Paradigmenwechsel diene dem Lebensschutz, zerreißen. Nicht nur die rot-grüne Koalition, auch die Mehrheit der Opposition folgt lieber der Devise nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.

5. Tarnkappe: Beratungsschein

Die bei weitem wirkungsvollste Tarnkappe, derer sich die Kultur des Todes in Deutschland bedient, ist der Beratungsschein. Die abtreibungswillige Schwangere muß sich diesen Schein in einer anerkannten Beratungsstelle besorgen und dem Abtreibungsarzt vorlegen. In diesem Fall ist „der Tatbestand des § 218… nicht verwirklicht“. Der Beratungsschein gleicht somit schon fast einem Zaubermittel. Er verwandelt die Straftat der Tötung eines unschuldigen Menschen in eine medizinische Dienstleistung, deren Kosten der Staat übernimmt. Der Schein ist, daran führt kein Weg vorbei, eine Tötungslizenz, deren der Arzt bedarf, um gesetzeskonform zu handeln. Die Tötungslizenz tarnt sich als Nachweis einer Beratung, die nach § 219 dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen und der Frau bewußt machen soll, „daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat“, die gleichzeitig nach § 5 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes aber „nicht belehren und bevormunden“ soll.

Vom eigenen Lebensrecht des ungeborenen Kindes bleibt in der mit dialektischer Raffinesse konzipierten Beratungsregelung der Reform von 1995 nichts mehr übrig. Der Vorgang, der dem Schutz seines Lebens dienen soll, ist eo ipso die Bedingung seiner nicht nur straflosen, sondern staatlich geförderten Tötung. Der Tatbestandsausschluß des § 218a, Absatz 1, Satz 1, der die Abtreibung zur „Nichtabtreibung“ erklärt, sprengt die Rechtsordnung. Der Beratungsschein garantiert den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren vor dem Lebensrecht des Kindes. Er öffnet der nackten Gewalt des Stärkeren den Weg nicht nur zur zivilrechtlichen Anerkennung, sondern zur sozialrechtlichen Förderung, die sich in der Verpflichtung der Bundesländer zur Bereitstellung eines flächendeckenden Netzes von Abtreibungseinrichtungen und zur Erstattung der Abtreibungskosten niederschlägt. Um diesen Freibrief zur Gewaltanwendung zu erhalten, braucht sich die abtreibungswillige Schwangere nicht einmal auf eine Beratung einzulassen. Es genügt, wenn sie sich bei der Beratungsstelle vorstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat ihr in seinem Urteil zum Bayerischen Schwangerenhilfe-Ergänzungsgesetz vom 27. Oktober 1998 dieses Recht auf den Beratungsschein ausdrücklich zugesprochen auch dann, wenn „sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat“.

An diesem Beratungskonzept mitzuwirken ist, beugt man sich nicht dem dezisionistischen Tatbestandsausschluß des § 218a, Beihilfe zur Straftat der Tötung eines ungeborenen Kindes. Kommt die Schwangere, wie in rund einem Drittel der Fälle, nicht aus eigenem Entschluß, sondern auf Grund des Druckes ihres Mannes, Freundes, Arbeitgebers oder ihrer Eltern, dann ist die Ausstellung des Beratungsscheins auch noch Beihilfe zur Nötigung. Daß manche Schwangeren, die in eine Beratungsstelle kommen, den Beratungsschein dann doch nicht verlangen oder später nicht als Abtreibungslizenz benutzen, weil sie sich für ihr Kind entscheiden, rechtfertigt nicht die Mitwirkung an diesem Beratungskonzept, da das Gebot, keine Beihilfe zur Tötung eines Unschuldigen zu leisten, von größerer Unbedingtheit ist, als die Pflicht, Abtreibungen zu verhindern. Die Absicht, Abtreibungen zu verhindern, rechtfertigt nicht in einem einzigen Fall die Beihilfe zur Tötung durch die Ausstellung der Tötungslizenz. Dieses Beratungssystem und seinen Schein als „Geschenk des Lebens“ zu tarnen, wie es der Verein „Donum Vitae“ seit dem päpstlichen Nein zum Beratungsschein zu tun pflegt, ist die Kapitulation vor der Kultur des Todes.

II. Die Euthanasie

Wie die Abtreibung gehört die Euthanasie zu den klassischen Themen des Lebensschutzes. Jahrzehntelang war sie in Deutschland tabu, weil sie während der Herrschaft der Nationalsozialisten in großem Stil betrieben wurde. Sie war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie und zielte auf die Beseitigung von Behinderten, unheilbar Kranken und Schwachen, deren Leben als lebensunwert und die Volksgemeinschaft belastend galt. Ihre Tötung wurde als Tat der Liebe und des Mitleids oder – wie von Hitler selbst in seinem T4-Erlaß im Oktober 1939 – als Gnadentod deklariert. Daß sie in der Gesellschaft auf größere Akzeptanz stoßen würde, nahmen aber selbst die Nationalsozialisten trotz jahrelanger Indoktrination nicht an. Sie unterlag höchster Geheimhaltung, die Kardinal Galen mit seinen Predigten im Juli und August 1941 in St. Lamberti in Münster mutig und klug durchbrach. Der nationalsozialistischen Euthanasie fielen in Europa insgesamt 200.000 bis 300.000 Menschen zum Opfer. Allein die T4-Aktion im Krieg kostete 70.000 Menschen, darunter 20.000 KZ-Häftlingen und 5.000 Kindern das Leben. Die Euthanasie im nationalsozialistischen Deutschland war freilich nicht wie ein Gewitter aus heiterem Himmel über das Land gefallen. Sie war auch nicht nur eine nationalsozialistische Untat. Sie war vielmehr seit der Jahrhundertwende vorbereitet durch eine Ideologie, in der sich Rassenhygiene, Sozialdarwinismus und Medizin mischten, durch vieldiskutierte Bücher wie jenes von Karl Binding und Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens (1920) und durch den Göbbelschen Propagandafilm „Ich klage an“, der die Tötung einer unheilbar erkrankten, schwer leidenden Pianistin als Tat der Nächstenliebe ihres Gatten präsentierte.

1. Die Aufhebung des Tötungsverbotes

Die ein halbes Jahrhundert währende Tabuisierung der Euthanasie ging zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Verabschiedung der Euthanasiegesetze in den Niederlanden (2001) und in Belgien (2002) zu Ende. Zwar wurden beide Gesetze von Vertretern aller Parteien im Bundestag scharf kritisiert, zwar gibt es Stellungnahmen des Deutschen Ärztetages, die die Euthanasie unmißverständlich ablehnen, und auch die Kirchen haben sich wiederholt in großer Eintracht gegen die Euthanasie ausgesprochen,1 aber demoskopische Untersuchungen zeigen ernüchternde Ergebnisse: Überwältigende Mehrheiten sprechen sich für die Euthanasie aus. In einer Umfrage der Konrad Adenauer-Stiftung im Dezember 2002 lehnten 76% der Befragten die Aussage ab „Aktive Sterbehilfe darf auch bei Todkranken nicht angewendet werden“. Selbst von den Katholiken sprechen sich nach der Befragung der Konrad Adenauer-Stiftung 73%, von den Protestanten gar 78% für die Euthanasie aus. Nur 18% stimmten der Aussage zu und 4% wußten nicht, was sie antworten sollten.2 Selbst wenn man die Frage unglücklich formuliert findet, weil sie beim Befragten den Eindruck hinterlassen kann, er müsse Todkranke bei Ablehnung der aktiven Sterbehilfe allein lassen und weil sie die Alternativen der Palliativmedizin und der Hospizbetreuung nicht in den Blick rückt, so bleibt auch auf Grund anderer Untersuchungen das harte Faktum, daß rund zwei Drittel der Deutschen die Euthanasie bejahen. In einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie im März 2001 sprachen sich 70% für und nur 12% gegen die Euthanasie aus bei 18% Unentschiedenen. Die Befürworter einer ärztlichen Todesspritze für Schwerkranke auf Verlangen stiegen von 53% 1973 auf 67% 2001, die Gegner halbierten sich im gleichen Zeitraum von 33% auf 16%. In Ostdeutschland bejahen sogar 80% die Euthanasie.3

2. Tod – made in Switzerland

Das Parlament in Deutschland scheint einstweilen nicht gewillt zu sein, das Thema Euthanasie aufzugreifen. Aber es stand auf der Agenda des Ethikrates des Bundeskanzlers, der Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen Medizin des 15. Deutschen Bundestages und der Bioethik-Kommission von Rheinland-Pfalz. Im Europarat hat sich der Ausschuß für Soziales, Gesundheit und Familienangelegenheiten mit der Begründung, niemand habe ein Recht, Todkranken und Sterbenden die Verpflichtung zum Weiterleben aufzuerlegen, für die Freigabe der Sterbehilfe ausgesprochen. Die Parlamentarische Versammlung hat es aber bisher abgelehnt, die Empfehlung des Ausschusses auf ihre Tagesordnung zu setzen. Euthanasie-Gesellschaften mit würdevollen Etiketten wie Gesellschaft für humanes Sterben oder Dignitas, propagieren die Euthanasie und bieten ihre Beihilfe zum assistierten Selbstmord an.4 Die Schweizerische Akademie für medizinische Wissenschaften scheute sich im Juni 2003 nicht, ihre standesrechtliche Empfehlung „Suizid unter Beihilfe eines Dritten“ mit der demographischen Entwicklung und den steigenden Gesundheitskosten zu begründen. Beides führe dazu, daß ältere Menschen in Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen nicht mehr optimal versorgt werden können. Dies lasse den Wunsch entstehen, getötet zu werden, und in solchen Fällen bedürfe es klarer Regeln für Ärzte, Pflegepersonal und Verwaltungen der entsprechenden Einrichtungen. In der Logik dieser Empfehlung liegen diplomierte Sterbehelfer, die einen death made in Switzerland anbieten. Auch unter Philosophen, Theologen und Juristen gibt es zunehmend Plädoyers für das Recht auf assistierten Selbstmord und für aktive Sterbehilfe, die allerdings nicht mit der demographischen Entwicklung und den Pflegekosten, sondern mit dem Recht auf Selbstbestimmung begründet werden. Ein Anspruch auf aktive Sterbehilfe „überspanne“ zwar den Würdeanspruch, aber ein Recht, „in selbstverantwortlicher Entschließung dem eigenen Leben ein Ende zu setzen“, wird von Matthias Herdegen in seiner Neukommentierung des Artikels 1, Absatz 1 GG aus der Menschenwürdegarantie abgeleitet.5 Wer ein solches Recht auf Selbstmord bejaht, wird aber die Forderung nach einem ärztlich assistierten Selbstmord nicht ablehnen können, und in der Logik des ärztlich assistierten Selbstmordes liegt – vor allem bei dessen Mißlingen, wie die Erfahrungen in den Niederlanden belegen – die Euthanasie.

Das Verlangen nach einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe wird nicht umhin kommen, die Untersuchungen über die Euthanasiepraxis in den Niederlanden zur Kenntnis zu nehmen. Sie zeigen zum einen in der Sterbestatistik der 90er Jahre einen steigenden Anteil ärztlich herbeigeführter Todesfälle durch Euthanasie, assistierten Selbstmord, Entscheidungen gegen eine Weiterbehandlung Schwerkranker oder für eine Intensivierung der Schmerzbehandlung mit beabsichtigter Todesfolge. Sie zeigen zum anderen, daß die gesetzlichen Vorschriften für die Euthanasie nicht zu kontrollieren sind und in vielen Fällen gravierend mißachtet werden. In rund 25% der Euthanasiefälle (900 von rund 3.700) erfolgte 2001 die Tötung des Patienten ohne dessen Verlangen. In weit mehr als der Hälfte der Fälle unterblieb die vorgeschriebene Konsultierung eines zweiten unabhängigen Arztes. In vielen Fällen unterblieb die vorgeschriebene Meldung des Euthanasiefalles an die zuständige regionale Kontrollkommission, d. h. die Todesbescheinigung wurde gefälscht. Auch eine Frist zwischen dem Verlangen nach Euthanasie und der Durchführung der Euthanasie, die Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit und die Dauerhaftigkeit des Verlangens zuläßt und die im belgischen Euthanasiegesetz zum Beispiel einen Monat beträgt, wird nicht beachtet. In 13% der Euthanasiefälle lag zwischen Verlangen und Durchführung nur ein Tag, in rund 50% der Fälle nur eine Woche.

3. Euthanasie – unblutige Entsorgung der Leidenden

Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe muß unvermeidlich dazu führen, daß aus dem Recht zum assistierten Selbstmord eine Pflicht wird. Der Pflegebedürftige, Alte oder Kranke hat nämlich alle Mühen, Kosten und Entbehrungen zu verantworten, die seine Angehörigen, Pfleger, Ärzte und Steuern zahlenden Mitbürger für ihn aufbringen müssen und von denen er sie schnell befreien könnte, wenn er das Verlangen nach aktiver Sterbehilfe äußert. „Er läßt andere dafür zahlen, daß er zu egoistisch und zu feige ist, den Platz zu räumen. – Wer möchte unter solchen Umständen weiterleben? Aus dem Recht zum Selbstmord wird so unvermeidlich eine Pflicht“.6

Die Erfahrungen in den Niederlanden bestätigen die Vermutung, daß die Euthanasie nicht Hilfe für Schwerkranke, sondern Mittel einer unblutigen Entsorgung der Leidenden ist,7 daß sie nicht Zuwendung zum Sterbenden, sondern Verweigerung des medizinischen und pflegerischen Beistandes ist. Sie verweisen „auf die schwindende Plausibilität des Tötungsverbotes“.8 Eine Trendwende ist einstweilen nicht in Sicht. Im Gegenteil, in der beginnenden Euthanasiedebatte in Deutschland zeichnet sich eher eine Verschlechterung des Lebensschutzes ab. Um auch für Sterbende, für Schwerkranke und Pflegebedürftige einen besseren Lebensschutz zu ermöglichen, sind eine Verstärkung der Palliativmedizin in Forschung und Lehre sowie eine Ausweitung der Hospizbewegung zur stationären oder ambulanten Begleitung Sterbender unverzichtbar.

III. Die Kirche und der Lebensschutz

Die katholische Kirche ist seit ihren Anfängen vor rund 2000 Jahren eine Verteidigerin der Kultur des Lebens. Nicht zuletzt der Umgang mit dem ungeborenen oder neu geborenen Kind unterschied die ersten Christen von ihrer römischen Umwelt. Die Abtreibung wird von der Kirche als Verbrechen verurteilt.9 Ebenso kompromißlos lehnt sie die Euthanasie und die Embryonenproduktion ab. Als Verteidiger einer Kultur des Lebens ist Papst Johannes Paul II. anläßlich des 25. Jahrestages seiner Amtsübernahme am 16. Oktober 2003 weltweit gewürdigt worden.10 In seiner Enzyklika Evangelium Vitae hat er 1995 diese Kultur des Lebens der Kultur des Todes gegenüber gestellt.

Die katholische Kirche in Deutschland weiß sich in ihrer Kritik an embryonaler Stammzellforschung, PID und Klonen einig mit der EKD. Differenzen gibt es in der Verurteilung der Abtreibung, die in der evangelischen Kirche gern der Gewissensentscheidung der Schwangeren überlassen wird. Daß sich niemand auf sein Gewissen berufen kann, wenn er Grundrechte Dritter mißachtet, wenn er gar ein ungeborenes Kind tötet, hat dagegen das Bundesverfassungsgericht in seinem Abtreibungsurteil vom 28. Mai 1993 unterstrichen.11 Der Verzicht auf den Beratungsschein hat das Zeugnis der Kirche für eine Kultur des Lebens gestärkt. Es wurde allerdings gleich wieder geschwächt durch die Gründung des Vereins Donum Vitae, der die Ausstellung der Tötungslizenzen fortführt. Er versteht sich als katholische Beratungsorganisation. Er handelt gegen die ausdrückliche Anweisung Papst Johannes Paul II. Er verdunkelt das Zeugnis der Kirche für eine Kultur des Lebens. Er bindet die Kirche, zu der die Laien ebenso gehören wie die Bischöfe, in den Vollzug eines Gesetzes ein, das um des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren willen die Tötung unschuldiger Kinder zuläßt.12

Das katholische Beratungsangebot ist nach dem Verzicht auf den Beratungsschein nicht verkleinert, sondern im Gegenteil ausgeweitet worden. Es wird auch genutzt und es erfaßt nicht nur Schwangere, die überhaupt keine Abtreibung in Erwägung ziehen. Diese Trendwende zu einem Beratungssystem in ausschließlich kirchlicher Regie hat das christliche Zeugnis für eine Kultur des Lebens gestärkt. Es hat zugleich den Weg frei gemacht für eine unbehinderte Verteidigung des Lebensrechts in den anderen Gefährdungslagen der biomedizinischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Der Hirtenbrief der Deutschen Bischofskonferenz „Der Mensch: sein eigener Schöpfer? Zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin“ vom 7. März 2001 und zahlreiche Stellungnahmen ihres Vorsitzenden Kardinal Lehmann allein oder gemeinsam mit dem früheren Ratsvorsitzenden der EKD Manfred Kock bezeugen den Kampf für das Lebensrecht und die Würde des Menschen. Dem Versuch von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, dem Embryo in vitro den Status der Menschenwürde abzuerkennen, um ihn für die embryonale Stammzellforschung leichter zugänglich zu machen, sind die beiden Kirchen sofort und einmütig entgegengetreten.

Zypries hatte behauptet, der Embryo in vitro hätte nicht die Möglichkeit, „sich aus sich heraus zu oder als Mensch zu entwickeln“. Deshalb komme ihm der Status der Menschenwürde nicht zu. Er stehe lediglich unter einem abgestuften Lebensschutz, der „Spielräume für Abwägungen mit den Grundrechten der Eltern und der Forscher“ eröffne.13 Die Deutsche Bischofskonferenz erklärte sofort, daß sie der Auffassung der Ministerin „entschieden widerspricht“ und deren Intention, das Stammzellgesetz „auszuweiten“, d.h. zur Disposition zu stellen, „heftig kritisiert“. Die Rede der Ministerin laufe darauf hinaus, „einer Absenkung der Schutzstandards auch in anderen Bereichen der Bio- und Gentechnik Tür und Tor zu öffnen.“14 Auch der damalige Präses der EKD Manfred Kock hielt Frau Zypries entgegen, daß „alle Methoden der Forschung oder Therapie, durch die Menschen, von ihrer embryonalen Gestalt an, bloß als Mittel zur Verbesserung der Heilungschancen anderer Menschen gebraucht werden“, abzulehnen sind. Die Garantie der Menschenwürde komme allen Embryonen zu.15

Die katholische Kirche der USA hat gezeigt, daß der kompromißlose Kampf der Bischöfe für das Lebensrecht, ihre Bereitschaft auch zur Konfrontation mit katholischen Politikern und Wahlkandidaten des Pro-Choice-Lagers und ihr Bündnis mit der Lebensrechtsbewegung zu einer gesellschaftlichen und legislativen Trendwende beitragen können. Papst Johannes Paul II. hat den Kampf für mehr Lebensschutz immer wieder als Aufgabe aller Christen in Erinnerung gerufen, zuletzt in seinem Apostolischen Schreiben Pastores Gregis an die Bischöfe.16 Sein Aufruf „Habt keine Angst“, der zum Kennzeichen seines ganzen Pontifikats wurde, gilt auch dem Einsatz gegen eine Kultur des Todes und für eine Kultur des Lebens. Kardinal Renato Martino hat bei einem Symposion des Päpstlichen Rates Justitia et Pax zum Konzilsdokument Gaudium et Spes am 18. März 2005 in Rom die Bischöfe dazu aufgerufen, mit den Lebensrechtsbewegungen enger zusammenzuarbeiten, wie es der Hl. Stuhl bei der UNO in New York und der für den Lebensschutz bedeutsamen Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo sowie der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking getan hat.

Mit ihrem Einsatz für eine Kultur des Lebens kämpft die Kirche nicht für ein konfessionelles Sondergut, sondern für die Existenzbedingung des säkularen Staates und auch der pluralistischen Gesellschaft. Wenn die Unantastbarkeit der Menschenwürde das Fundament unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte und somit auch „die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ ist (Art. 1, Abs. 2 GG), dann bedeutet die Infragestellung der Menschenwürde und die Anmaßung, sie nach selbst definierten Kriterien zu- oder aberkennen zu können, zugleich eine Gefährdung jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft gibt es unverhandelbare Prinzipien, die um des Schutzes der Menschenwürde und des Rechtsstaates willen einzuhalten sind.

Zu diesen unverhandelbaren Prinzipien gehört das Verbot, Unschuldige zu töten. Deshalb ist der Einsatz, ja der Kampf gegen die Abtreibung, die embryonale Stammzellforschung, die Präimplantationsdiagnostik und die Pränataldiagnostik, das Klonen und m. E. auch gegen die In-Vitro-Fertilisation die Voraussetzung für eine Kultur des Lebens. Die CDL hat in diesem Einsatz schon viele kleine Erfolge errungen. Dafür gebührt Ihnen Dank. Ein Blick in andere Länder wie Polen, Portugal und die USA zeigt, daß sich auch größere Erfolge erringen lassen. Kämpfen Sie weiter: Haben Sie keine Angst!

 Prof. Dr. Manfred Spieker, 15. Juli 2006, Burg Rothenfels, Vortrag auf der Tagung: „Chancen für Kinder – Hoffnung auf Zukunft“ – Impulse für die Politik von Verantwortung für die Familie e.V. am 15. Juli 2006 auf Burg Rothenfels

1 Vgl. Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz. Gütersloh 1989, S. 105ff.  8

2 Vgl. Bernhard Vogel, Hrsg., Religion und Politik in Deutschland, Freiburg 2003, S. 197ff.

3 Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998-2002, hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher, München 2002, S. 682f.

4 So stieg die Zahl der Sterbehilfen des Schweizerischen Vereins Dignitas von 288 1998 auf 2.263 im Jahr 2002.

5 Matthias Herdegen in: Maunz/Düring, Grundgesetz, Art. 1, Abs. 1, Rz 85 (2003).

6 Robert Spaemann, Es gibt kein gutes Töten, in: Ders./Thomas Fuchs, Töten oder sterben lassen? Worum es in der Euthanasiedebatte geht, Freiburg 1997, S. 20.

7 Was ich wollte, fragte mich eine Holländerin, die meine schweigende Ablehnung des Euthanasiegesetzes spürte, „jetzt braucht sich doch niemand mehr vor den Zug zu werfen“.

8 So Franz Kamphaus in seiner Auseinandersetzung mit der holländischen Euthanasiepraxis: Die Kunst des Sterbens, in: FAZ vom 30.9.2003.

9 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 27 und 51; Katechismus der Katholische Kirche 2270-2274.

10 Vgl. auch George Weigel, Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie, 2. Aufl., Paderborn 2003, S. 796ff.

11 BVerfGE 88, 308. Vgl. auch M. Spieker, Grenzen der Gewissensfreiheit, in: Zeitschrift für Lebensrecht, 12. Jg. (2003), Heft 4.

12 Manfred Spieker, Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konflikts, Paderborn 2000.

13 Brigitte Zypries, Vom Zeugen zum Erzeugen? Verfassungsrechtliche und rechtspolitische Fragen der Bioethik, Rede in der Humboldt-Universität Berlin am 29.10.2003, Manuskript S. 5f.

14 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Rede der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries am 29.10.2003 in: http://dbk.de/presse/pm2003/pm2003102901.html.

15 Manfred Kock, Bericht des Rates der EKD auf der Synode in Trier am 2.11.2003, Manuskript S. 11.

16 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Pastores Gregis über die Hirtenaufgabe der Bischöfe (2003) 67 und 71.