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Der Lobgesang der Maria (Magnificat) 1520 – Teil I

Der Lobgesang der Maria (Magnificat) 1520 – Teil I

1. Meine Seele erhebt Gott, den Herrn,
2. und mein Geist freuet sich in Gott, meinem Heiland.
3. Denn er hat mich, seine geringe Magd, angesehen, darum werden mich selig preisen Kindeskinder ewiglich.
4. Denn er, der alle Dinge tut, hat große Dinge an mir getan, und heilig ist sein Name.
5. Und seine Barmherzigkeit reicht von einem Geschlecht zum andern bei allen, die sich vor ihm fürchten.
6. Er wirkt gewaltig mit seinem Arm und zerstört alle, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
7. Er setzt ab die großen Herren von ihrer Herrschaft, und erhöht, die da niedrig und nichts sind.
8. Er macht satt die Hungrigen mit allerlei Gütern, und die Reichen läßt er leer bleiben.
9. Er nimmt sein Volk Israel auf, das ihm dient, nachdem er gedacht an seine Barmherzigkeit,
10. wie er denn versprochen hat unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.

Um diesen heiligen Lobgesang seiner Ordnung nach zu verstehen, ist zu beachten, daß die hochgelobte Jungfrau Maria aus der eigenen Erfahrung heraus redet, in welcher sie durch den Heiligen Geist erleuchtet und gelehrt worden ist. Denn es kann niemand Gott oder Gottes Wort recht verstehen, er habe es denn unmittelbar von dem Heiligen Geist; niemand kann’s aber von dem Heiligen Geist haben, wenn er es nicht erfährt, versucht und empfindet. In dieser Erfahrung lehrt der Heilige Geist als in seiner eigenen Schule; außerhalb dieser wird nichts gelehrt als nur auf Schein bedachtes Wort und Geschwätz. So ist es bei der heiligen Jungfrau. Nachdem sie an sich selbst erfahren hat, daß Gott in ihr so große Dinge wirkt, obwohl sie doch gering, unansehnlich, arm und verachtet gewesen war, lehrt sie der Heilige Geist diese reiche Kenntnis und Weisheit: daß Gott ein solcher Herr sei, der nichts anderes zu schaffen habe, als nur zu erhöhen, was niedrig ist, zu erniedrigen, was da hoch ist, und kurz, zu zerbrechen, was da gemacht ist, und zu machen, was zerbrochen ist.

Denn wie Gott am Anfang aller Kreaturen die Welt aus nichts erschuf (wovon er „Schöpfer“ und „allmächtig“ heißt), so bleibt er unverändert in dieser Art des Wirkens: noch alle seine Werke bis ans Ende der Welt sind so beschaffen, daß er aus dem, das nichts, gering, verachtet, elend, tot ist, etwas macht, etwas Kostbares, Ehrenvolles, Seliges und Lebendiges; andererseits macht er alles, was etwas, was kostbar, ehrenvoll, selig, lebendig ist, zunichte, gering, verachtet, elend und sterbend. Auf diese Weise kann keine Kreatur wirken; sie vermag nicht aus nichts etwas zu machen. Daher kommt’s, daß Gottes Augen nur in die Tiefe, nicht in die Höhe sehen, wie Daniel (Gesang der drei Männer im Feuerofen, V. 31) sagt: „Du sitzest über den Cherubim und siehest in die Tiefe.“ Und Ps. 138,6 heißt es: „Gott ist der Allerhöchste und sieht herunter auf die Niedrigen, und die Hohen erkennet er von ferne“; ferner Ps. 113,5f: „Wo ist ein solcher Gott wie der unsrige? Er sitzt am höchsten und siehet doch herunter auf die Niedrigen im Himmel und auf Erden.“ Denn weil er der Allerhöchste ist und es nichts über ihm gibt, kann er nicht über sich sehen; er kann auch nicht neben sich sehen, weil ihm niemand gleich ist. Darum muß er notwendig in sich selbst und unter sich sehen, und je tiefer jemand unter ihm ist, desto besser sieht er ihn.

Aber die Augen der Welt und der Menschen tun das Gegenteil: sie sehen nur über sich und wollen durchaus sich nach oben richten wie Spr. 30,13 steht: „Es ist ein Volk, dessen Augen in die Höhe sehen, und seine Augenbrauen sind in die Höhe gerichtet.“ Das erfahren wir täglich, wie jedermann nur über sich hinausstrebt nach Ehre, Gewalt, Reichtum, Kenntnissen, Wohlleben und allem, was groß und hoch ist. Und wo solche Leute sind, hängt ihnen jedermann an: da läuft man hinzu, da dient man gern, da will jedermann sein und ihrer Höhe teilhaftig werden. Nicht umsonst sind darum in der Schrift so wenig Könige und Fürsten als rechtschaffen beschrieben. Umgekehrt will niemand in die Tiefe sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist; da wendet jedermann die Augen weg. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon, da flieht, da scheut, da verläßt man sie, und niemand denkt daran, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, daß sie auch etwas sind. So müssen sie in der Tiefe und in niedriger, verachteter Stellung bleiben. Es gibt hier keinen Schöpfer unter den Menschen, der aus dem Nichts etwas machen wollte, wie doch S. Paulus Röm. 12,16 lehrt, wo er sagt: „Liebe Brüder, achtet nicht auf die hohen Dinge, sondern haltet euch zu den niedrigen.“

Darum bleibt sie allein Gottes Sache, diese Art zu sehen, die in die Tiefe, in Not und Jammer sieht; er ist nahe allen denen, die in der Tiefe sind, und wie Petrus sagt (1. Petr. 5,5): „Den Hohen widersteht er, den Niedrigen gibt er Gnade.“ Aus dieser Grunderfahrung fließt nun die Liebe zu Gott und sein Lob. Es kann niemand jemals Gott loben, wenn er ihn nicht zuvor lieb hat; ebenso kann niemand Gott lieben, wenn Gott ihm nicht aufs liebevollste und allerbeste bekannt wird. Durch nichts aber kann er so bekannt werden als durch seine Werke, die an uns geoffenbart, gefühlt und erfahren werden; wo er aber erfahren wird, wie er ein solcher Gott ist, der in die Tiefe sieht und nur den Armen, Verachteten, Elenden, Jammervollen, Verlassenen hilft und denen, die gar nichts sind, da wird er einem so herzlich lieb, da geht das Herz über vor Freude, hüpft und springt vor großem Wohlgefallen, das es in Gott bekommen hat. Und da ist dann der Heilige Geist; denn er hat solch überschwengliche Kenntnis und Lust in einem Augenblick der Erfahrung gelehrt.

Darum hat Gott auch den Tod auf uns alle gelegt und das Kreuz Christi mit unzähligen Leiden und Nöten seinen allerliebsten Kindern und Christen gegeben, ja er läßt auch zuweilen in Sünde fallen: denn er will ja viel in die Tiefe zu sehen haben, möchte vielen helfen, viel wirken, sich als einen rechten Schöpfer erzeigen, und damit sich bekannt, liebens- und lobenswert machen. Leider aber widerstrebt die Welt ihm darin mit ihren Augen, die immer über sich sehen, unaufhörlich, und hindert ihn an seinem Sehen, Wirken, Helfen, seinem Erkannt-, Geliebt- und Gelobtwerden, und beraubt ihn aller dieser Ehre, dazu sich selber ihrer Freude, Lust und Seligkeit. So hat er auch seinen einigen, liebsten Sohn Christus selbst hinab in die Tiefe allen Jammers geworfen und hat an ihm besonders deutlich gezeigt, wohin das alles zielt, was sein Sehen, sein Wirken und Helfen, seine Art, sein Rat und Wille ist. Darum bleibt auch Christus, darin trefflich erprobt, voll Erkenntnis, voll Liebe und Lob Gottes ewiglich. Wie Ps. 21,7 sagt: „Du hast ihn erfreut mit lauter Freude vor deinem Angesicht“, d.h. weil er dich sieht und erkennt. Davon sagt auch Ps. 44,9, daß alle Heiligen nichts anderes tun werden als Gott im Himmel loben, weil er sie in ihrer Tiefe angesehen und ebendort sich ihnen bekannt, liebens- und lobenswert gemacht hat.

So macht es auch hier die liebliche Mutter Christi und lehrt uns durch das Beispiel ihrer eigenen Erfahrung und durch Worte, wie man Gott erkennen, lieben und loben soll. Denn mit fröhlichem, springenden Geist rühmt sie sich hier und lobt Gott, er habe sie angesehen, obwohl sie niedrig und nichts gewesen sei; darum muß man annehmen, daß sie arme, verachtete, geringe Eltern gehabt hat. Und um es anschaulich zu machen für die einfachen Leute: Es sind ohne Zweifel die Töchter der obersten Priester und Ratsherren in Jerusalem reich, hübsch, jung und gebildet gewesen und in den Augen des ganzen Landes aufs ehrenvollste geachtet, wie es jetzt die Töchter der Könige, Fürsten und reichen Leute sind; ebenso ist’s auch noch in vielen anderen Städten gewesen. Auch zu Nazareth, in ihrer Vaterstadt, ist sie nicht Tochter der obersten Regenten, sondern eines gewöhnlichen, armen Bürgers gewesen, auf welche niemand viel gesehen noch achtgehabt hat. Und sie ist unter ihren Nachbarn und Töchtern ein schlichtes Mägdlein gewesen, das das Vieh und das Haus besorgt hat, ohne Zweifel nicht mehr als jetzt eine arme Hausmagd sein mag, die tun muß, was man sie im Haus tun heißt.

Denn so hat Jesaja verkündet (Jes. 11,1f.): „Es wird eine Rute ausgehen von dem Stamme Jesse und eine Blume aus seiner Wurzel aufwachsen, auf welcher der Heilige Geist ruhen wird.“ Der „Stamm“ und die „Wurzel“ ist das Geschlecht Jesse oder David, im besonderen die Jungfrau Maria: die „Rute“ und „Blume“ ist Christus. Nun, wie es nicht so aussieht, vielmehr unglaublich ist, daß aus einem dürren Stamm und einer faulen Wurzel eine schöne Rute und Blume wachse, so sah es auch nicht so aus, als sollte die Jungfrau Maria eines solchen Kindes Mutter werden. Denn ich meine, sie werde nicht allein darum ein „Stamm“ und eine „Wurzel“ genannt, weil sie übernatürlich, in unversehrter Jungfräulichkeit, eine Mutter geworden ist, wie es über die Natur hinausgeht, daß eine Rute auf einem toten Holzblock wächst, sondern auch aus einem zweiten Grund. Der königliche Stamm und das Geschlecht Davids, welches einmal in großer Ehre, Gewalt, Reichtum und Glück grünte und blühte zu Davids und Salomos Zeiten, war ja wohl auch vor der Welt etwas Hohes; aber am Ende, als Christus kommen sollte, hatten die Priester diese Ehre an sich gebracht und regierten allein, und das königliche Geschlecht Davids war vor Armut und Verachtung wie ein toter Block, so daß nicht mehr zu hoffen war und es nicht mehr so aussah, als sollte aus ihm noch einmal ein König zu großen Ehren kommen. Und gerade als diese Entwicklung zur Unansehnlichkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte, kommt Christus und wird aus dem verachteten Stamm, von dem geringen, armen Dirnlein geboren; da wächst die Rute und die Blume daher von dieser Person, welche des Herrn Hannas oder Kaiphas Töchter nicht für würdig gehalten hätte, ihre geringste Magd zu sein. So geht, was Gott wirkt und sieht, in der Tiefe vor sich, was Menschen sehen und wirken, nur in der Höhe.

Das ist nun die Ursache ihres Lobgesangs; den wollen wir nun hören von Wort zu Wort.

Meine Seele erhebt Gott, den Herren

Dies Wort entspringt aus großer Inbrunst und überschwenglicher Freude, worin sich ihr Gemüt und Leben von innen her im Geiste ganz erhebt. Darum spricht sie nicht: „Ich erhebe Gott“, sondern „meine Seele“, als wollte sie sagen: „Es schwebt mein Leben samt all meinen Sinnen in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, daß ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde als mich selber erhebe zu Gottes Lob.“ So ergeht es ja all denen, die von Gottes Süßigkeit und Gottes Geist durchströmt werden, daß sie mehr fühlen, als sie sagen könnten. Denn es ist kein Menschenwerk, Gott mit Freuden loben. Es ist mehr ein fröhliches Erleiden und allein ein Gotteswerk, das sich mit Worten nicht lehren, sondern nur durch eigene Erfahrung kennenlernen läßt. In diesem Sinne sagt David Ps. 34,9: „Schmecket und sehet, wie süß Gott der Herr ist, selig ist der Mensch, der ihm trauet.“ An die erste Stelle setzt David das „Schmecken“, dann das „Sehen“, deshalb, weil sich’s nicht erkennen läßt ohne eigene Erfahrung und Empfindung. Zu dieser kommt jedoch niemand, der nicht Gott mit ganzem Herzen vertraut, wenn er in der Tiefe und Not ist; darum läßt David gleich darauf folgen: „Selig ist der Mensch, der Gott vertraut“; denn ein solcher wird Gottes Wirken in sich erfahren und so zu jener fühlbaren Süßigkeit und dadurch zu allem Verständnis und aller Erkenntnis kommen.

Wir wollen ein Wort nach dem andern erwägen. Das erste ist: „Meine Seele“. Die Schrift gliedert den Menschen in drei Teile. S. Paulus sagt in 1. Thess. 5,23: „Gott, der ein Gott des Friedens ist, der mache euch heilig durch und durch, so daß euer ganzer Geist samt Seele und Leib unsträflich erhalten werde auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi.“ Ferner wird bei jedem dieser drei Stücke wie auch beim ganzen Menschen noch in anderer Weise eine Teilung in zwei Stücke vollzogen, die Geist und Fleisch heißen. Das ist eine Teilung nicht der Natur, sondern den Eigenschaften nach; d.h. die Natur hat drei Stücke, Geist, Seele und Leib, und diese können allesamt gut oder böse sein; das heißt dann: „Geist“ und „Fleisch“ sein (wovon jetzt nicht zu reden ist).

Das erste Stück, der Geist, ist das höchste, tiefste und edelste Teil des Menschen, wodurch er befähigt ist, unbegreifliche, unsichtbare, ewige Dinge zu fassen. Kurz, er ist das Haus, darinnen der Glaube und Gottes Wort wohnt. Davon sagt David Ps. 51,12: „Herr, schaffe in meinem Innersten einen richtigen Geist“, d.h. einen auf rechten, geraden Glauben. Umgekehrt heißt es von den Ungläubigen, Ps. 78,37: „Ihr Herz war nicht zu Gott gerichtet, und ihr Geist stand nicht im Glauben an Gott.“

Das zweite Stück, die Seele, ist ihrer Natur nach ebenderselbe Geist, aber doch in einer andern Wirkungsart, nämlich in der, daß er den Leib lebendig macht und durch ihn wirkt. Er wird oft in der Schrift für das „Leben“ genommen; denn der Geist kann wohl ohne den Leib leben, aber der Leib lebt nicht ohne den Geist. Bei diesem Stück sehen wir, wie es auch im Schlaf und unaufhörlich lebt und wirkt. Seine Art ist nicht, die unbegreiflichen Dinge zu fassen, sondern, was die Vernunft erkennen und ermessen kann. Die Vernunft ist nämlich hier das Licht in diesem Hause, und wo nicht der Geist, vom Glauben als von einem höheren Licht erleuchtet, dies Licht der Vernunft regiert, so kann sie nimmermehr ohne Irrtum sein. Denn sie ist zu minderwertig, um mit göttlichen Dingen umzugehen. Diesen zwei Stücken spricht die Schrift vielerlei Eigenschaften zu, z.B. sapientiam und scientiam, die Weisheit dem Geist, die Erkenntnis der Seele; sodann auch Haß, Liebe, Grauen und dergleichen.

Das dritte Stück ist der Leib mit seinen Gliedern. Seine Werke sind nur die Ausübung und Anwendung dessen, was die Seele erkennt und der Geist glaubt. Um dafür ein Gleichnis anzuführen aus der Schrift: Mose macht ein Zelt mit drei verschiedenen Abteilungen. Die erste hieß sanctum sanctorum; darin wohnte Gott, und es war kein Licht darinnen. Die andere hieß sanctum; darinnen stand ein Leuchter mit sieben Röhren und Lampen. Die dritte hieß atrium, der Hof; das war unter dem freien Himmel, öffentlich, im Lichte der Sonne. In dieser sinnbildlichen Darstellung ist ein Christenmensch gezeichnet. Sein Geist ist das sanctum sanctorum, Gottes Wohnung im finstern Glauben ohne Licht; denn er glaubt, was er weder sieht noch fühlt, noch begreift. Seine Seele ist das sanctum. Da sind sieben Lichter, d.h. Fähigkeiten aller Art, die leiblichen sichtbaren Dinge zu verstehen, zu unterscheiden, zu wissen und zu erkennen. Sein Körper ist das atrium; der ist jedermann offenbar, daß man sehen kann, was er tut und wie er lebt.

Nun betet Paulus (1. Thess. 5,23), Gott, der ein Gott des Friedens ist, wolle uns heilig machen, nicht in einem Stück allein, sondern ganz und gar, durch und durch, daß Geist, Seele und Leib und alles heilig sei. Über die Ursache dieses Gebets wäre viel zu sagen; in Kürze: Wenn der Geist nicht mehr heilig ist, so ist nichts mehr heilig. Nun ist des Geistes Heiligkeit am heftigsten umstritten und am meisten gefährdet; denn sie besteht nur in dem bloßen, lautern Glauben, weil ja, wie gesagt, der Geist nicht mit greifbaren Dingen umgeht. So kommen dann falsche Lehrer und locken den Geist heraus; einer hält das Werk, der andere die Weise vor, um rechtschaffen zu werden. Wenn dann der Geist hier nicht bewahrt wird, und weise ist, so fällt er heraus und folgt, kommt auf die äußerlichen Werke und Weisen und meint, damit rechtschaffen zu werden: Alsbald ist der Glaube verloren und der Geist tot vor Gott.

Da tun sich dann mancherlei Sekten und Orden auf: der eine wird ein Karthäuser, der andere ein Barfüßer; der will mit Fasten, der mit Beten, einer mit dem, der andere mit einem andern Werk selig werden. Und es sind doch allesamt selbsterwählte Werke und Orden, von Gott nie geboten, nur von Menschen erdacht! Neben ihnen her geben sie nicht mehr auf den Glauben acht und lernen immer weiter auf die Werke bauen, so lange, bis sie so tief hineinkommen, daß sie darüber uneins werden. Ein jeder will der Beste sein und verachtet den andern, wie jetzt unsere Observanten sich brüsten und aufblasen. Gegen solche Werkheiligen und fromm scheinenden Lehrer bittet hier (1.Thess. 5,23) Paulus, wenn er sagt, Gott sei ein Gott des Friedens und der Einigkeit. Denn ihn können solche uneinigen, unfriedsamen Heiligen nicht haben noch festhalten, außer wenn sie ihre eigne Sache fallenlassen und alle miteinander im Geist und Glauben zusammenkommen und erkennen, daß die Werke nur Unterschiede, Sünde und Unfrieden machen, während allein der Glaube rechtschaffen, einig und friedsam macht. So steht es in Ps. 68,7: „Gott macht, daß wir einig in dem Hause wohnen.“ Und Ps. 133,1: „Ei, wie fein und lieblich ist’s, daß die Brüder einig beieinander wohnen.“

Der Friede kommt von nirgends her als davon, daß man lehrt, wie kein Werk, keine äußerliche Weise rechtschaffen, gerecht und selig macht, sondern nur der Glaube, d.h. die gute Zuversicht zu der unsichtbaren Gnade Gottes, die uns versprochen ist; davon habe ich in den „guten Werken“ viel gesagt. Und wo dieser Glaube nicht ist, da müssen viel Werke sein, die dann Unfrieden und Uneinigkeit zur Folge haben, so daß kein Gott mehr dableibt. Deshalb begnügt sich S. Paulus hier (1.Thess. 5,23) nicht, zu sagen: „daß euer Geist, eure Seele usw.“, sondern „euer ganzer Geist“; denn an ihm liegt es ganz und gar. Er gebraucht hier in der griechischen Sprache ein feines Wort: to holokleron pneuma hymon, d.h. „euer Geist, der das ganze Erbe besitzt“, als wolle er sagen: „Lasset euch durch keine Lehre von den Werken irremachen; der gläubige Christ hat’s allein ganz und gar. Es liegt nur am Glauben des Geistes; diesen das ganze Erbe besitzenden Geist, bitte ich, wolle euch Gott behüten vor den falschen Lehren, die durch Werke Zuversicht zu Gott hervorrufen wollen; das sind doch irregeführte Gewissen, weil sie nicht einzig auf Gottes Gnade solche Zuversicht bauen.“

Wenn nun ein solcher das ganze Erbe besitzender Geist erhalten bleibt, dann kann auch die Seele und der Leib ohne Irrtum und böse Werke bleiben. Andernfalls, wo der Geist ohne Glauben ist, ist’s nicht möglich, daß die Seele und das ganze Leben nicht unrichtig und irre gehen sollte, auch wenn sie ihre gute Meinung und Gutdünken anwenden und selber Andacht und Wohlgefallen dabei verspüren mag. Ebenso sind dann wegen dieses Irrtums und falschen Gutdünkens der Seele auch alle Werke des Leibes böse und verworfen, auch wenn sich jemand zu tot fastete und aller Heiligen Werke täte. Darum ist’s nötig, daß uns Gott zuerst den Geist, dann Seele und Leib behüte, daß wir nicht umsonst wirken und leben; so sollen wir wirklich heilig werden, nicht allein los von den offenkundigen Sünden, sondern viel mehr auch von den falschen und gleißenden guten Werken.

Das sei zur Erklärung der zwei Worte „Seele“ und „Geist“ gesagt, deshalb, weil sie sehr gebräuchlich sind in der Schrift; damit mag es für diesmal genug sein.

Dann kommt das Wörtlein „Magnifikat“. Das heißt: „groß machen“, „erheben“ und „viel von einem halten“, von dem gebraucht, der große und viele und gute Dinge vermag, weiß und tun will, wie es denn in diesem Lobgesang nachher folgt. Gleichwie also das Wort „Magnifikat“ wie ein Titel eines Buches anzeigt, wovon darin geschrieben ist, ebenso zeigt auch Maria mit diesem Wort an, wovon ihr Lobgesang lauten soll: nämlich von großen Taten und Werken Gottes, um unsern Glauben zu stärken, alle Geringen zu trösten und alle hohen Menschen auf Erden zu schrecken. Zu diesem dreifachen Gebrauch oder Nutzen müssen wir den Lobgesang dienen lassen und dies erkennen; denn sie hat nicht für sich allein, sondern für uns alle gesungen, daß wir ihr nachsingen sollen. Nun kann’s nicht sein, daß jemand erschrecke oder sich tröste auf Grund von solchen großen Taten Gottes, wenn er nicht glaubt, Gott vermöge und wisse große Taten zu tun; aber nicht allein dies, sondern er muß auch glauben, Gott wolle so tun und habe eine Vorliebe dafür, solches zu tun. Ja, es ist auch nicht genug, daß du glaubst, er wolle an andern, aber nicht an dir große Taten tun, und wolle so dich von solch göttlicher Tat ausnehmen; so machen die es, die Gott nicht fürchten, wenn sie mächtig sind, und die kleinmütig verzagen, wenn sie in Bedrängnis sind.

Derartige Formen von Glauben sind nichts und ganz tot, wie ein Wahn, den eine Fabel gezeugt hat. Du mußt vielmehr ohne alles Wanken, ohne alles Zweifeln den Willen Gottes über dich dir vor Augen stellen, daß du fest glaubst, er werde und wolle auch mit dir große Dinge tun. Dieser Glaube lebt und webt; der dringt durch und ändert den ganzen Menschen; der zwingt dich, daß du in Furcht sein mußt, wenn du hoch bist, und getrost sein darfst, wenn du niedrig bist. Und je höher du bist, desto mehr mußt du dich fürchten; je tiefer du bedrückt bist, desto mehr kannst du dich trösten. Das bewirkt kein Glaube von einer jener andern Arten. Wie willst du es in Todesnöten machen? Da darfst du doch nicht bloß glauben, daß Gott dir zu helfen vermöge und wisse, sondern auch, daß er dir helfen wolle; muß doch ein ganz unsagbar großes Werk geschehen, damit du vom ewigen Tod erlöst, ewig selig und Gottes Erbkind werdest. Dieser Glaube vermag alle Dinge, wie Christus sagt (Mk. 9,23), der hat allein Bestand, der gelangt auch zur Erfahrung des göttlichen Wirkens und dadurch zur Liebe zu Gott; so kommt er denn Gott gegenüber zum Loben und Singen, daß der Mensch Großes von Gott hält und ihn recht groß macht.

Denn Gott wird nicht in seiner Natur von uns groß gemacht, da er ja unwandelbar ist, sondern in unserer Erkenntnis und Empfindung, d.h. indem wir viel von ihm halten und ihn groß achten, vor allem in Beziehung auf seine Güte und Gnade. Darum spricht die heilige Mutter nicht: „Meine Stimme“, auch nicht „meine Hand“, auch nicht „Meine Gedanken“, auch nicht „Meine Vernunft“ oder „mein Wille“ „macht den Herrn groß“. Denn ihrer gibt’s viele, die Gott mit lauter Stimme preisen, mit köstlichen Worten von ihm predigen, viel von ihm reden, disputieren, schreiben und malen; viele, die sich Gedanken über ihn machen und mit der Vernunft nach ihm trachten und spekulieren; und zudem viele, die in falscher Andacht und mit falschem Willen ihn erheben. Vielmehr sagt sie so: „Meine Seele macht ihn groß“, d.h. „mein ganzes Leben, weben, meine Sinne und Kräfte halten viel von ihm“. So ist sie gleichsam in ihn verzückt und fühlt sich emporgehoben in seinen gnädigen, guten Willen, wie der folgende Vers (Luk. 1,47) zeigt.

In ähnlicher Weise erleben wir es bei uns: wenn uns jemand etwas besonders Gutes tut, bewegt sich gleichsam unser ganzes Leben zu ihm hin, und wir sprechen: „Oh, ich halte viel von ihm“, d.h. eigentlich „Meine Seele macht ihn groß“. Wie viel mehr wird eine solch lebendige Bewegung sich regen, wenn wir Gottes Güte empfinden, die überschwenglich groß ist in seinen Werken! Alle Worte und Gedanken werden uns dann zu wenig werden, und das ganze Leben muß sich bewegen lassen, als wollte alles gerne davon singen und sagen, was in uns lebt.

Aber dabei gibt’s nun zweierlei falsche Geister, die das Magnifikat nicht recht singen können: die ersten sind die Leute, die Gott nicht eher loben, als bis er ihnen eine Wohltat erweist, wie David sagt Ps. 49,19: „Sie loben dich, wenn du ihnen wohl tust.“ Diese scheinen Gott gar sehr zu loben. Aber weil sie niemals Unterdrückung erleiden wollen und die Tiefe, können sie niemals das rechte Wirken Gottes erfahren, und darum auch niemals Gott recht lieben und loben. In dieser Art ist jetzt alle Welt voll vom Dienst und Lob Gottes mit Singen, Predigen, Orgeln und Musizieren, und das Magnifikat wird herrlich gesungen; aber daneben ist’s zum Erbarmen, daß solch köstlicher Gesang so ganz ohne Kraft und Saft von uns gebraucht werden soll. Denn wir singen nicht eher, als bis es wohl geht; geht’s aber übel, ist das Singen aus. Da hält man dann nichts mehr von Gott, und wir meinen, Gott könne oder wolle nichts bei uns wirken; damit muß das Magnifikat auch ausbleiben.

Die andern sind noch gefährlicher, die nach der andern Seite abweichen: Sie machen sich groß mit Gottes Gütern, ohne doch diese rein der Güte Gottes zuzuschreiben; sie wollen auch etwas daran haben, wollen darob von anderen Menschen geehrt und angesehen sein. Sie schauen ihr großes Gut an, das Gottes Werk bei ihnen ist, klammern sich daran und beanspruchen es als ihr Eigentum und halten sich den andern gegenüber, die so etwas nicht haben, für etwas Besonderes. Das ist fürwahr ein glatter, schlüpfriger Standpunkt: Gottes Güter machen Herzen, wie es deren Natur entspricht, hoffärtig und selbstgefällig. Darum ist’s hier nötig, das letzte Wörtlein zu beachten: „Gott“. Denn Maria sagt nicht: „Meine Seele macht groß – sich selbst“, oder „hält viel von mir“; sie wollte auch gar nichts von sich gehalten haben. Vielmehr macht sie allein Gott groß; dem schreibt sie es ganz allein zu. Sie zieht sich aus und trägt’s alles gänzlich wieder zu Gott hinauf, von dem sie es empfangen hatte. Denn obwohl sie eine solch überschwengliche Tat Gottes in sich empfand, war sie und blieb sie doch so gesinnt, daß sie sich nicht über den geringsten Menschen auf Erden erhob; wenn sie es getan hätte, wäre sie mit Luzifer in den Abgrund der Hölle gefallen. Sie hat nicht anders gedacht: sie wollte, wenn eine andere Magd diese Güter von Gott bekäme, ebenso fröhlich sein und es ihr ebenso wohl gönnen als sich selbst, ja, sie wollte sich allein solcher Ehre für unwürdig und alle andern für würdig erachten; und sie wäre auch dann noch wohl zufrieden gewesen, wenn Gott ihr diese Güter weggenommen und vor ihren Augen einer andern gegeben hätte. So ganz und gar nichts von dem allen hat sie sich angemaßt und hat Gott seine Güter frei und ledig und zu eigen gelassen; sie ist nicht mehr als eine fröhliche Herberge und willige Wirtin dieses Gastes gewesen. Darum hat sie auch das alles ewiglich behalten.

Sieh, das heißt Gott allein groß machen, nur von ihm allein groß denken und für uns keinen Anspruch erheben. Daraus sieht man, wie vielfachen Anlaß sie gehabt hat, zu fallen und zu sündigen, so daß es kein kleines Wunder ist, wie sie sich der Hoffart und Anmaßung enthalten, als daß sie solche Güter empfangen hat. Erwägst du nicht, welch wunderbares Herz dies ist? Sie sieht sich als Gottesmutter über alle Menschen hinausgehoben und bleibt doch so einfältig und gelassen dabei, daß sie deshalb nicht eine geringe Dienstmagd für unter ihr stehen angesehen hätte. Oh, wir armen Menschen! Wenn wir ein wenig Gut, Gewalt oder Ehre haben, ja ein wenig hübscher sind als andere, sind wir nicht imstande, uns einem Geringeren gleichzustellen, und gibt’s im Ansprüchemachen kein Maß; was wollten wir erst tun, wenn wir große, hohe Güter hätten?

Darum läßt uns Gott auch arm und unglücklich bleiben, weil wir seine lieblichen Güter nicht unbefleckt lassen; wir bringen’s nicht fertig, von uns gleich viel zu halten wie zuvor, sondern lassen unser Selbstbewußtsein immer mitwachsen und abnehmen, je nachdem die Güter kommen oder gehen. Aber dies Herz Marias steht fest und gleich zu aller Zeit: sie läßt Gott in sich wirken nach seinem Willen und nimmt nicht mehr daraus als einen guten Trost, Freude und Zuversicht in Gott. So sollten wir es auch machen; das wäre ein rechtes Magnifikat gesungen!

Und mein Geist freuet sich in Gott, meinem Heiland

Was der Geist sei, ist jetzt schon gesagt worden: er ist es nämlich, der die unbegreiflichen Dinge durch den Glauben erfaßt. Darum nennt sie auch Gott ihren Heiland oder ihre Seligkeit, obwohl sie das doch nicht sah und nicht empfand; vielmehr traute sie in fester Zuversicht darauf, er sei ihr Heiland und ihre Seligkeit, ein Glaube, den sie aus dem Gotteswerk, das in ihr geschehen war, empfangen hatte. Und fürwahr, der rechten Ordnung entsprechend fängt sie an, wenn sie Gott eher ihren Herrn nennt als ihren Heiland und eher ihren Heiland, als daß sie seine Werke erzählt. Damit lehrt sie uns, wie wir Gott bloß und recht der Ordnung entsprechend lieben und loben sollen, und ja nichts, was unser ist, an ihm suchen; der aber liebt und lobt Gott allein und recht, der ihn nur darum lobt, daß er gut ist, und der nichts weiter als seine bloße Gütigkeit ansieht, und nur in ihr seine Lust und Freude hat. Das ist eine hohe, reine, liebliche Weise zu lieben und zu loben, die einem solch hohen, lieblichen Geist wohl ansteht, wie ihn diese Jungfrau hat.

Die unreinen und verkehrten Liebhaber, welche auf nichts als auf bloßen Genuß ausgehen und das Ihre an Gott suchen, die lieben und loben nicht seine bloße Gütigkeit, sondern sehen auf sich selber und achten nur darauf, wie viel Gott ihnen gegenüber gut ist, d.h. in welchem Maße er seine Güte ihnen fühlbar erzeigt und ihnen wohltut. Sie halten viel von ihm, sind fröhlich, singen und loben ihn, solange dieses Fühlen anhält. Wenn sich aber Gott verbirgt und seiner Güte Glanz an sich zieht, so daß sie bloß und elend sind, so ist es zugleich auch mit ihrem Lieben und Loben aus, und sie vermögen nicht die bloße, unfühlbare Güte, wie sie in Gott verborgen ist, zu lieben und zu loben. Damit beweisen sie, daß nicht ihr Geist in Gott, dem Heiland, sich erfreut hat; es ist kein rechtes Lieben und Loben der bloßen Güte dagewesen, sondern sie haben viel mehr Lust gehabt am Heil als am Heiland, mehr an den Gaben als an dem Geber, mehr an der Kreatur als an Gott. Denn sie können nicht gleichbleiben im Haben und Mangelleiden, in Reichtum und Armut, wie S. Paulus sagt (Phil. 4,12): „Ich habe es gelernt, daß ich übrig haben und Mangel leiden kann.“

Von diesen sagt Ps. 49,19: „Sie loben dich, so lange du ihnen wohltust“, als wollte er sagen: „Sie haben sich im Auge und nicht dich; wenn sie nur Lust und Güter von dir bekämen, so gäben sie nichts auf dich.“ In diesem Sinne sagt auch Christus Joh. 6,26 zu denen, die ihn suchten: „Wahrlich, ich sage euch, ihr suchet mich nicht deshalb, weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr gegessen habt und satt geworden seid.“ Solche unreinen, falschen Geister beschmutzen alle Gaben Gottes und hindern ihn, so daß er ihnen nicht viel gibt, auch nicht zu ihrer Seligkeit an ihnen wirken kann.

Davon wollen wir ein feines, vorbildliches Beispiel hören. Es hat einmal ein rechtschaffenes Weib ein Gesicht gesehen, wie drei Jungfrauen an einem Altar saßen. Während der Messe kam ein hübscher kleiner Junge vom Altar her gelaufen und ging zu der ersten Jungfrau, tat freundlich zu ihr, herzte sie und lachte sie lieblich an. Danach ging er zu der zweiten, tat aber nicht so freundlich zu ihr, herzte sie auch nicht; doch hob er ihren Schleier auf und lächelte sie freundlich an. Der dritten aber machte er kein freundliches Zeichen, schlug sie ins Gesicht, raufte sie und stieß sie, und ging ganz unfreundlich mit ihr um; dann lief er schnell wieder zum Altar hinauf und verschwand.

Dann wurde jenem Weibe dieses Gesicht in folgender Weise ausgelegt: Die erste Jungfrau bedeutet die unreinen, selbstsüchtigen Geister; ihnen muß Gott viel Gutes und mehr ihren eigenen Willen tun als sie den seinen; sie wollen nichts entbehren, allzeit aber Trost und Lust an Gott haben, ohne sich an seiner Güte genügen zu lassen. Die zweite Jungfrau bedeutet die Geister, die angefangen haben, Gott zu dienen und wohl etwas Mangel leiden, doch nicht völlig; sie sind nicht frei von Eigennutz und Selbstsucht. Gott muß ihnen zuweilen einen liebreichen Blick zuwerfen und sie seine Güte empfinden lassen, daß sie dadurch auch seine bloße Gütigkeit lieben und loben lernen. Aber die dritte Jungfrau, das arme Aschenbrödel, hat nichts als lauter Mangel und Ungemach, sucht keinen Nutzen und läßt sich daran genügen, daß Gott gut ist, auch wenn sie es niemals empfinden sollte (was doch unmöglich ist). Sie bleibt ein und dieselbe, so oder so, liebt und lobt Gottes Gütigkeit ebensosehr, wenn sie nicht spürbar, als wenn sie spürbar wird; sie klammert sich nicht an die Güter, wenn solche vorhanden sind, wird auch nicht abtrünnig, wenn solche nicht vorhanden sind. Das ist die rechte Braut, die zu Christus spricht: „Ich will nicht das Deine, ich will dich selber haben; du bist mir nicht lieber, wenn’s mir wohl geht, auch nicht weniger lieb, wenn’s mir schlecht geht.“

Solche Geister erfüllen das, was Jes. 30,21 geschrieben steht: „Ihr sollt nicht weichen von der geraden, richtigen Gottesstraßen, weder zur linken, noch zur rechten Seite“, d.h. sie sollen gleichmäßig und richtig Gott lieben und loben, nicht sich selber suchen und ihren eigenen Nutzen. Einen solchen Geist hatte David: Als er durch seinen Sohn Absalom von Jerusalem vertrieben wurde und es drauf und dran war, daß er für immer verworfen, nie mehr König sein und zu Gottes Gunst kommen würde, sprach er (2. Sam. 15,25f.): „Gehet hinweg; will mich Gott haben, wird er mich wohl wieder hineinführen, spricht er aber: Ich will dich nicht, so bin ich bereit dazu.“ Oh, was für ein reiner Geist ist das gewesen, der in der höchsten Not nicht davon abläßt, Gottes Güte zu lieben, zu loben und ihr zu folgen. Einen solchen Geist läßt hier die Mutter Gottes, Maria, sehen: mitten in den großen, überschwenglichen Gütern schwebend, klammert sie sich doch nicht daran, sucht nicht ihren eigenen Nutzen darin, sondern hält ihren Geist rein im Lieben und Loben der bloßen Gütigkeit Gottes; so ist sie bereit, willig und gern es anzunehmen, wenn Gott sie der Güter wieder berauben und ihr nur noch einen armen, nackten, Mangel habenden Geist lassen wollte.

Nun ist man ja so viel mehr gefährdet, wenn man im Besitz von Reichtum und großen Ehren oder großer Macht sich mäßigen soll, als wenn man in Armut, Schande und Schwachheit ist; denn Reichtum, Ehre und Macht geben einen starken Anreiz und Anlaß zum Bösen. Dementsprechend ist hier der wunderbar reine Geist Marias um so viel mehr zu preisen; denn sie steht in solch übermäßigen Ehren, und läßt sich dennoch nicht davon anfechten, tut, als sähe sie es nicht, und bleibt gleich und richtig auf der Straße. Sie hängt nur an der göttlichen Gütigkeit, die sie nicht sieht noch empfindet, und läßt die Güter fahren, die sie empfindet; sie hat daran keine Lust und sucht nicht ihren eigenen Nutzen. So sing sie wahrlich aus rechtem, wahrem Grund: „Mein Geist erfreuet sich in Gott, meinem Heiland.“ Wahrlich, das ist ein Geist, der nur im Glauben frohlockt und hüpft; sie ist nicht fröhlich von den Gütern Gottes, die sie empfand, sondern nur von Gott, den sie nicht empfand, als von ihrem Heil, wie sie ihn nur im Glauben erkannte. Oh, das sind die rechten, niedrigen, leeren, hungrigen, gottesfürchtigen Geister. Davon im nachfolgenden mehr.

Daraus können wir erkennen und beurteilen, wie voll zur Zeit die Welt von falschen Predigern und Heiligen ist, die dem armen Volk von guten Werken viel predigen. Nun gibt es zwar einige wenige, die auch das predigen, wie sie gute Werke tun sollen; der größere Teil predigt Menschenlehre und -werke, die sie selber erdacht und aufgestellt haben. Aber doch sind leider die Allerbesten unter ihnen noch sehr weit von der rechten, richtigen Straße entfernt, so daß sie das Volk immer auf die rechts gelegene Straße treiben; denn sie lehren die guten Werke zu tun und ein gutes Leben zu führen nicht um Gottes bloßer Gütigkeit willen, sondern um ihres eigenen Nutzens willen. Denn wenn es keinen Himmel und keine Hölle gäbe, und sie dürften sich keinen Genuß von Gottes Güte versprechen, so ließen sie seine Güte wohl fahren, ohne sie zu lieben und zu loben. Das sind lauter Genießer und Mietlinge, Dienstknechte und nicht Kinder, Fremdlinge und nicht Erben. Sie machen sich selber zum Abgott, und Gott soll sie lieben und loben, und gerade das ihnen tun, was sie ihm tun sollten. Sie haben keinen Geist, Gott ist auch nicht ihr Heiland, sondern seine Güter sind ihr Heiland, mit denen ihnen Gott wie ein Knecht dienen muß. Das sind die Kinder von Israel, die in der Wüste sich nicht mit dem Himmelsbrot begnügten, sondern auch Fleisch, Zwiebel und Knoblauch essen wollten. (4. Mo. 11,4 ff.)

Nun ist leider alle Welt, alle Klöster, alle Kirchen voll mit solchen Leuten, die alle miteinander in dem falschen, verkehrten, unrichtigen Geist wandeln, treiben und jagen. Sie erheben die guten Werke so hoch, daß sie den Himmel damit zu verdienen meinen, während doch vor allen Dingen die bloße Gütigkeit Gottes gepredigt und erkannt werden sollte. Denn – das sollten wir wissen – ebenso, wie Gott aus lauter Güte uns selig macht ohne alles Verdienst durch Werke, so sollten wir auch wieder die Werke, ohne irgendwelchen Lohn oder Nutzen zu suchen, um der bloßen Güte Gottes willen tun, und darin nichts weiteres begehren als sein Wohlgefallen. Wir sollten nicht um den Lohn sorgen, der wird sich von selbst richtig finden und ohne unser Bemühen folgen. Denn obgleich es unmöglich ist, daß der Lohn nicht folgen sollte, wenn wir aus reinem, rechteingestelltem Geist, ohne Lohn oder Nutzen zu suchen, wohl tun, so will doch Gott diesen selbstsüchtigen, unreinen Geist nicht haben: einem solchen fällt auch niemals der Lohn zu. Es ist gerade wie bei einem Kind, das als ein Erbe dem Vater willig umsonst dient, nur um seines Vaters willen; und wenn ein Kind dem Vater nur um Erb‘ und Gut dient, so ist’s verdientermaßen ein verhaßtes Kind und wert, daß es der Vater verstoße.

Denn er hat angesehen die Nichtigkeit seiner Magd, darum werden mich selig preisen alle Kindeskinder.

Das Wörtlein „humilitas“ haben etliche hier zur „Demut“ gemacht, als hätte die Jungfrau Maria auf ihre Demut hingewiesen und sich ihrer gerühmt. Daher kommt’s, daß sich etliche Prälaten auch „humiles“ nennen, was gar weit von der Wahrheit entfernt ist. Denn vor Gottes Augen kann sich niemand eines guten Dinges ohne Sünde und Verderben rühmen. Man darf sich vor ihm keines weiteren Dings rühmen als seiner lauteren Güte und Gnade, die er uns Unwürdigen erwiesen hat; denn nicht für uns, sondern allein für Gott sollen wir Liebe und Lob haben, und das soll uns erhalten, wie Salomo Spr. 25,6 f. lehrt: „Du sollst nicht mit Selbstruhm erscheinen vor dem König und nicht stehen vor den großen Herren; es ist für dich besser, man sagt zu dir: ‚Sitze herauf‘, als daß du erniedrigt wirst vor dem Fürsten.“ Wie sollte man denn dieser reinen, rechtschaffenen Jungfrau solche Vermessenheit und solchen Hochmut zuschreiben, daß sie sich ihrer Demut vor Gott rühmte! Das ist doch die allerhöchste Tugend, und niemand achtet sich für demütig oder rühmt sich deshalb, als wer der Allerhochmütigste ist. Gott allein erkennt die Demut; er beurteilt und offenbart sie auch allein, so daß der Mensch niemals weniger von der Demut weiß als eben dann, wenn er recht demütig ist.

Der Sprachgebrauch der Schrift ist, daß in ihr „humiliare“ „erniedrigen“ und „zu nichts machen“ heißt, und darum heißen die Christen in der Schrift an vielen Stellen „pauperes“, „afflicti“, „humiliati“, „arme“, „nichtige“, „verworfene“ Leute, wie Ps. 116,10: „Ich bin gar sehr zunichte worden.“ So ist humilitas nichts anderes als ein Wesen oder Zustand, bei dem man verachtet, unansehnlich und niedrig ist, wie es die armen, kranken, hungrigen, durstigen, gefangenen, leidenden und sterbenden Menschen sind. So war es bei Hiob in seiner Anfechtung und bei David, als er verstoßen wurde aus seinem Reich, und bei Christus samt allen Christen in ihren Nöten. Das sind die Tiefen, von denen oben gesagt wurde, daß Gottes Augen nur in die Tiefe sehen, Menschenaugen dagegen nur in die Höhe. Darum heißt Jerusalem in der Schrift eine Stätte, darauf Gottes Augen sehen, d.h. die Christenheit liegt in der Tiefe und ist unansehnlich vor der Welt; drum sieht sie Gott an und hat seine Augen unverwandt über ihr, wie er sagt Ps. 32,8: „Ich will meine Augen unverwandt auf dich richten.“ So sagt auch S. Paulus 1.Kor. 1,27 f.: „Gott erwählt alles, was töricht ist vor der Welt ist, auf daß er zuschanden mache alles, was da klug ist vor der Welt, und erwählt, was da schwach und untüchtig ist, auf daß er zuschanden mache alles, was da stark und gewaltig ist. Er erwählt, was da nichts ist vor der Welt, auf daß er zunichte mache alles, was etwas ist vor der Welt.“ Damit macht er die Welt zur Torheit mit all ihrer Weisheit und ihrem Vermögen und gibt eine andere Weisheit und ein anderes Vermögen. Weil es nun einmal seine Art ist, in die Tiefe auf die unansehnlichen Dinge zu sehen, habe ich das Wörtlein „humilitas“ verdeutscht mit „Nichtigkeit“ oder „unansehnliches Wesen“.

Was also Maria sagen will, ist das: „Gott hat mich armes, verachtetes, unansehnliches Mägdlein angesehen und hätte doch wohl reiche, hohe, edle, mächtige Königinnen gefunden, Töchter von Fürsten und großen Herren. Er hätte doch wohl des Hannas oder Kaiphas Tochter finden können, die die Obersten im Land gewesen wären; aber er hat auf mich seine Augen voll lauterer Güte geworfen und so eine geringe, verschmähte Magd dazu gebraucht. Denn vor ihm sollte sich niemand rühmen, daß er dessen würdig gewesen wäre oder sei; und auch ich muß bekennen, daß es lauter Gnade und Güte und daß gar nichts mein Verdienst oder meine Würdigkeit ist.“

Nun haben wir oben schon genug davon gesagt, wie die liebliche Jungfrau mit ihrem unansehnlichen Wesen und Stand ganz unversehens zu dieser Ehre gekommen ist, daß Gott sie so übergnädig angesehen hat. Darum rühmt sie sich nicht ihrer Würdigkeit noch ihrer Unwürdigkeit, sondern allein des Ansehens Gottes, das so übergütig und übergnädig ist, daß er auch eine solche geringe Magd angesehen hat und so herrlich und ehrenvoll ansehen wollte. Deshalb tun die ihr Unrecht, die da sagen, sie habe sich nicht ihrer Jungfrauschaft, sondern ihrer Demut gerühmt. Sie hat sich weder ihrer Jungfrauschaft noch ihrer Demut gerühmt, sondern einzig des gnädigen, göttlichen Ansehens; darum liegt die Betonung nicht auf dem Wörtlein „humilitatem“, sondern auf dem Wörtlein „respexit“. Denn ihre Nichtigkeit ist nicht zu loben, sondern Gottes Ansehen; gerade wie wenn ein Fürst einem armen Bettler die Hand reicht, so ist nicht des Bettlers Nichtigkeit, sondern des Fürsten Gnade und Güte zu preisen.

Damit aber dieser falsche Wahn ausgetrieben und die rechte Demut in ihrem Unterschied von der falschen erkannt werde, wollen wir ein wenig abschweifen und von der Demut etwas sagen; denn darüber besteht bei vielen eine sehr irrige Meinung. Demut heißen wir auf deutsch, was S. Paulus auf griechisch tapeinophrosyne nennt, und was auf lateinisch affectus vilitatis oder sensus humilium rerum (d.h. ein Wille zu oder ein Sinn für geringe, verachtete Dinge) heißt. Nun findet man hier viele, die das Wasser in den Brunnen tragen; das sind Menschen, die zeigen sich in geringen Kleidern, Stellungen, Gebärden, Stätten und Worten, sind auch darauf bedacht und gehen damit um, jedoch in der Absicht, daß sie dadurch vor den Hohen, Reichen, Gelehrten, Heiligen, ja auch vor Gott als Leute angesehen werden möchten, die gerne mit geringen Dingen umgehn. Denn wenn sie wüßten, daß man davon nichts halten wollte, ließen sie es fein anstehen. Das ist eine gemachte Demut. Denn ihr heuchlerisches Auge sieht nur auf den Lohn und den Erfolg der Demut, und nicht auf die geringen Dinge, abgesehen vom Lohn und Erfolg. Darum ist, wo der Lohn und der Erfolg nicht mehr in die Augen springt, die Demut aus. Solche Menschen kann man nicht „affectos vilitare“ heißen; sie haben keinen Willen und kein Herz zu geringen Dingen, sondern haben nur die Gedanken, den Mund, die Hand, das Kleid und die Gebärden dabei. Ihr Herz aber schaut nach hohen, großen Dingen empor; zu ihnen gedenkt es durch solch demütiges Blendwerk zu kommen. Und solche halten sich selber für demütige, heilige Leute!

Die wahrhaft Demütigen sehen nicht auf den Erfolg der Demut, sondern mit einfältigem Herzen sehen sie auf die niedrigen Dinge, gehen gerne damit um und werden selbst nie gewahr, daß sie demütig sind: Da quillt das Wasser aus dem Brunnen, da ist’s eine selbstverständliche, ungesuchte Folge, daß sie geringe Gebärde, Rede, Stätte, Stellung und Kleidung an sich haben und tragen, dagegen große und hohe Dinge meiden, wo sie können. Davon sagt David Ps. 131,1: „Herr, mein Herz ist nicht hoffärtig, und meine Augen haben nicht emporgesehen usw.“ Und Hiob 22,29 heißt es: „Wer sich erniedrigt, der wird zu Ehren kommen, und wer seine Augen niederschlägt, der wird selig werden.“ So kommt es darum auch, daß solchen allezeit die Ehre unversehens widerfährt, und ihre Erhöhung kommt, ohne daß sie daran denken. Denn sie haben sich in aller Einfalt genügen lassen an ihrem geringen Wesen und nie nach der Höhe getrachtet. Aber die falschen Demütigen wundert es, daß ihre Ehre und Erhöhung so lange ausbleibt, und ihr heimlicher, falscher Hochmut läßt sich nicht genügen an seinem geringen Wesen, sondern denkt heimlich nur höher und höher. Darum, wie ich gesagt habe: Rechte Demut weiß niemals, daß sie demütig ist; denn wenn sie es wüßte, so würde sie hochmütig vom Ansehen dieser schönen Tugend. Vielmehr hängt sie mit Herz, Gemüt und allen Sinnen an den geringen Dingen; die hat sie unablässig im Auge, das sind ihre Vorstellungen, mit denen sie umgeht. Und weil sie die im Auge hat, kann sie sich selbst nicht sehen noch ihrer selbst gewahr werden; noch viel weniger kann sie der hohen Dinge innewerden.

Darum muß ihr die Ehre und Höhe unversehens zukommen und sie in Gedanken vorfinden, denen die Ehre und Höhe fremd sind. So sagt Luk. 1,29, daß der Gruß des Engels der Maria in ihren Augen seltsam erschien und daß sie sich Gedanken machte, was das für ein Gruß wäre, auf den sie nie gefaßt war. Wäre der Gruß der Tochter des Kaiphas gebracht worden, so würde diese sich keine Gedanken darüber gemacht haben, was das für ein Gruß wäre; sie hätte ihn alsbald angenommen und gedacht: „Ei, das ist gut so und schön.“

Umgekehrt weiß falsche Demut nie, daß sie Hochmut ist. Denn wenn sie das wüßte, würde sie bald demütig vom Ansehen dieser häßlichen Untugend. Vielmehr hängt sie mit Herz, Gemüt und Sinn an den hohen Dingen; die hat sie unablässig im Auge; das sind ihre Vorstellungen, mit denen sie umgeht. Und so lange sie damit umgeht, kann sie selber nicht sehen noch ihrer selbst gewahr werden. Darum kommt ihr die Ehre nicht unerwartet und unversehens, sondern findet gleichartige Gedanken vor; die Beschämung und Erniedrigung aber kommt ihr unversehens und ganz in nur zu viele andersartige Gedanken hinein.

Deshalb ist’s nichts nütze, wenn man Demut in der Weise lehrt, daß man geringe, verachtete Dinge vor die Augen stellt; umgekehrt wird niemand davon hochmütig, daß man hohe Dinge vor die Augen stellt. Nicht die Vorstellungen, sondern das Sehen muß man abtun: wir müssen hier leben unter hohen und niedrigen Vorstellungen, aber (wie Christus Mat. 18,9 sagt) das Auge muß ausgestochen sein. Mose erzählt 1. Mo. 3,7 nicht, daß Adam und Eva nach dem Fall andre Dinge gesehen haben als vorher, sondern er sagt, ihre Augen seien aufgetan worden, daß sie sich nackt sahen, obwohl sie doch vorher auch nackt waren, freilich es nicht gewahr wurden. Die Königin Esther trug eine reiche Krone auf ihrem Haupt und sprach doch (Stücke in Esther 3,11), es sei in ihren Augen wie ein unreines Tuch. Da waren nicht die hohen Vorstellungen von ihr genommen, vielmehr ihr als einer mächtigen Königin in Menge vor die Augen gerückt, und es war keine niedrige Vorstellung vor ihr. Aber die Art ihres Sehens war niedrig; Herz und Gemüt sah nicht nach großen Dingen. Darum tat Gott Wunder durch sie. Wo müssen nicht die Dinge, sondern wir verwandelt werden in Gemüt und Sinn; dann wird sich’s von selbst lernen, hohe Dinge zu verachten und zu fliehen, niedrige Dinge zu achten und zu suchen. Dann ist die Demut grundgut und beständig in jeder Hinsicht und wird doch ihrer selbst niemals gewahr. Das geht mit Lust zu, und das Herz bleibt sich stets gleich, wie auch die Dinge sich wandeln oder geben, hoch oder niedrig, groß oder klein.

Oh, es steckt ein gar großer Hochmut unter den demütigen Kleidern, Worten und Gebärden, von denen die Welt zur Zeit voll ist. Sie machen sich selber in der Weise verächtlich, daß sie dann doch von niemand verachtet sein wollen; sie fliehen die Ehre so, daß sie dann doch damit verfolgt sein wollen; sie meiden die hohen Dinge, damit man sich dann doch um sie bemühe, sie preise und ihre Sache nicht die geringste sein lasse. Aber diese Jungfrau hier redet von nichts anderem als von ihrer Nichtigkeit, worin sie gerne gelebt hat und geblieben ist; sie hat nie an Ehre oder Höhe gedacht, ist auch nicht dessen innegeworden, daß sie demütig gewesen ist. Die Demut ist etwas so Feines und so Kostbares, daß sie es nicht ertragen kann, ihr Eigenstes anzusehen, sondern dies zu schauen ist allein dem göttlichen Sehen vorbehalten, wie Ps. 113,6 sagt: „Er siehet an die Niedrigen im Himmel und auf Erden.“ Denn wer seine eigene Demut sehen könnte, der könnte über sich selber das Urteil fällen, daß er zur Seligkeit gelange, und damit wäre Gottes Gericht schon hinfällig; wissen wir doch, daß Gott die Demütigen gewiß selig macht. Darum muß Gott es sich selber vorbehalten, die Demut zu erkennen und anzusehen, und muß sie vor uns verbergen, indem er uns geringe Dinge vor Augen stellt und uns darin übt; bei denen vergessen wir es, uns selber anzusehen. Dazu dient nun so viel Leiden, Sterben und allerlei Ungemach auf Erden, damit wir zu schaffen und Mühe und Arbeit haben, das falsche Auge auszustechen.

Nun sehen wir klar aus diesem Wörtlein „Humilitas“, daß die Jungfrau Maria ein verachtetes, geringes Mägdlein ohne Ansehen gewesen ist, wobei sie Gott gedient hat, ohne zu wissen, daß ihr unansehnlicher Stand so hohes Ansehen genieße vor Gott. Dadurch sollen wir uns trösten lassen: Es mag wohl gern sein, daß wir erniedrigt und verachtet sind; dennoch sollen wir darin nicht verzagen, als sei Gott zornig über uns, sondern vielmehr hoffen, daß er uns gnädig ist. Wir sollen allein darum bekümmert sein, weil wir nicht willig genug und gern in solcher Erniedrigung sind, damit nicht vielleicht das falsche Auge zu weit offen stehe und uns betrüge, indem es heimlich nach der Höhe oder nach eigenem Wohlgefallen sucht, womit die Demut ganz in Trümmer geht. Denn was hilft’s die Verdammten, daß sie auf die niedrigste Stufe herabgedrückt sind, solange sie nicht gern und willig darin sind? Und was schadet’s allen Engeln, daß sie aufs höchste erhaben sind, solange sie nicht mit falscher Lust daran hängen? Kur: Es lehrt uns dieser Vers Gott recht erkennen, dadurch, daß er deutlich macht, Gott sehe auf die Niedrigen, Verachteten. Und der erkennt Gott recht, der weiß, daß Gott auf die Niedrigen sieht, wie schon oben gesagt ist, und aus dieser Erkenntnis folgt dann Liebe und Vertrauen zu Gott, daß sich der Mensch ihm willig ergibt und folgt.