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Wider die Psychologisierung der Schuldfrage

Wider die Psychologisierung der Schuldfrage

Die Psychologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wirkmechanismen menschlichen Verhaltens und Erlebens zu erforschen. Dabei hat sie sich durchaus religionskritisch mit dem Schulderleben und den damit zusammenhängenden menschlichen Gefühlen und Empfindungen auseinandergesetzt. Sie fragte nach, wie es zu menschlichen Schuldgefühlen kommt und wie man diese durchaus bedrängenden Gefühle wieder los werden kann. Die Antworten der Psychologie auf die Schuldfrage waren nur in ihren Anfängen Aufsehen erregend oder gar provozierend. Inzwischen sind sie geistiges Allgemeingut und ganz unbewußt lassen wir uns in unserem Alltag von ihren Erklärungsmodellen leiten.

Im Folgenden will ich einige dieser Erklärungsmuster samt ihren Auswirkungen darstellen und hinterfragen. Hat die psychologische Sichtweise der Schuld unseren eigenen Umgang mit ihr verändert? Haben wir uns vielleicht unbewußt längst die psychologische Sicht zu eigen gemacht und uns damit vom biblischen Schuldverständnis entfernt?

Schuld erklären oder vergeben?

Um menschliches Verhalten zu erklären oder zu ändern, haben sich innerhalb der Psychologie unterschiedliche Verstehensmodelle entwickelt. Gemeinsam ist diesen Modellen, daß Schuld immer auf einen in der Tiefe der menschlichen Psyche sich abspielenden Konflikt zurückzuführen ist.

Nach dem tiefenpsychologischen Erklärungsversuch Sigmund Freuds geht das Schulderleben von Menschen auf einen Dauerkonflikt zurück, der zwischen unterschiedlichen Kräften bzw. Instanzen ausgetragen wird. Freud sieht das menschliche Ich zwischen diesen Kräften eingezwängt. Auf der einen Seite wirken die Kräfte des sogenannten „Es“, den triebhaften Anforderungen des Unterbewussten. Auf der anderen Seite drängt das sogenannte „Über-Ich“ mit seinen durch Erziehung, Gesellschaft oder Religion geprägten Anforderungen, Geboten und Normen. Dem von beiden Seiten bedrängten Ich bleibt in dieser Situation nur die Möglichkeit, mit Angst oder Schuldgefühlen zu reagieren. Schuldhafte Gefühle und auch Verhalten werden damit erklärbar. Schuld ist nichts anderes als eine Flucht aus dem psychischen Dauerkonflikt. – Von ähnlichen Grundannahmen ausgehend und an der Tiefenpsychologie anknüpfend, beschreibt der entwicklungspsychologische Ansatz menschliches Fehlverhalten. Dieser geht davon aus, daß Kinder, denen es in der frühen Phase ihres Lebens an Zuwendung mangelt, außerstande sind, jenes Urvertrauen aufzubauen, das für ein positives Verhältnis zu anderen Menschen und zur menschlichen Gemeinschaft unabdingbar ist. Da sie kein Urvertrauen aufbauen können, geraten sie in Konflikt mit der Gesellschaft und werden schuldig. Schuld kann somit als Ergebnis nicht ausreichend erfolgter frühkindlicher Sozialisation interpretiert werden.– Dem sozialpsychologische Erklärungsmuster liegt zugrunde, daß menschliches Verhalten als Folge ganz bestimmter gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse zu begreifen ist. Schuldhaftes Verhalten ist von den jeweiligen Normen und Werten einer Kultur oder Gruppe abhängig. Da sich diese Werte jedoch von Kultur zu Kultur unterscheiden, bleibt Schuld immer relativ bzw. richtet sich nach den jeweiligen gesellschaftlichen oder zeitbedingten Gegebenheiten.

Die verschiedenen psychologischen Modelle lassen die Schuld in einem ganz und gar anthropologischen Horizont erscheinen. Schuld wird als Ergebnis eines kindheitlichen, sozialen oder auch innerpsychischen Konfliktes verstehbar und damit erklärbar. Da der Einzelne für diesen Konflikt nicht verantwortlich ist, wird seine Schuld letztlich auch entschuldbar.

Wie ist diese psychologische Perspektive nun aus biblischer Sicht zu bewerten? Zunächst werden wir die psychologische Sichtweise nicht einfach ausblenden können. Tatsächlich gibt es Konflikte, in die wir hineingestellt sind und wir oft gar nicht anders können als schuldhaft zu reagieren. Seelische und soziale Konflikte produzieren neue Konflikte, produzieren neue Schuld. Dennoch können wir das aus einem Konflikt resultierende Fehlverhalten nicht einfach entschuldigen. Wir würden in diesem Falle den Menschen nicht mehr als verantwortliches Subjekt, sondern nur noch als Objekt seiner Umstände ansehen. Schuld aus theologischer Sicht ist eben nicht nur das Ergebnis einer mangelnden Sozialisation. Schuld ist tiefer anzusetzen. Der Mensch wird nicht nur deshalb schuldig, weil die Verhältnisse Schuld produzieren, sondern deshalb weil er selbst durch und durch Sünder ist. Dieses Sündersein aber lässt ihn immer wieder neu einzelne schuldhafte Handlungen hervorbringen, für die er auch verantwortlich ist.

Wir sehen also beides: den Schuldzusammenhang, indem ein Mensch sich befindet. Gleichwohl aber heben wir auch seine Verantwortlichkeit hervor.

Opfer oder Täter?

Die Folge der psychologischen Sichtweise besteht unter anderem in einer veränderten Bewertung von Schuld. So erleben wir im Bereich der Strafgesetzgebung, daß Mörder auf ihre Schuldfähigkeit überprüft werden. Die Frage wird aufgeworfen, ob der Beschuldigte wirklich als Täter oder vielmehr als Opfer seiner Lebensgeschichte und Umstände anzusehen ist. Ist seine Schuldunfähigkeit erwiesen, so wirkt sich dies auf jeden Fall strafmildernd aus.

Doch nicht nur im Bereich der Justiz, auch im Bereich der Seelsorge und Therapie zeigt das veränderte Schuldverständnis seine Wirkung. Psychische Krankheiten, Süchte und Depressionen erscheinen nicht selten als einziger Ausweg aus Konflikten des Lebens, die der einzelne nicht zu lösen oder zu ertragen vermag. Übermäßiger Alkoholgenuss oder Medikamentenmißbrauch sind dann nicht in erster Linie Ausdruck individuellen Versagens in der Lebensführung, sondern primär durch soziale oder psychische Verhältnisse bedingt. Nun wird verständlich, wenn sich einer, um seinen belastenden Lebensverhältnissen zu entfliehen oder um diese besser ertragen zu können, in den Alkohol oder in Drogen flüchtet. Ähnliches gilt im Bereich von sexuellen Konflikten. So wird etwa eine intime Beziehung einer verheirateten Frau zu einem fremden Mann auf dem Hintergrund einer unerfüllten oder schwierigen Ehe verständlich. Nicht selten raten Therapeuten dazu, die bisherige Ehe zu verlassen, um auf diesem Weg zu größerer Freiheit und Lebenserfüllung zu gelangen.

Wir sehen spätestens an dieser Stelle das Defizit des psychologischen Erklärungsmusters. Zwar können die genannten humanwissenschaftlichen Aspekte verdeutlichen, daß Schuld immer auch soziale und psychologische Aspekte besitzt. Die humanwissenschaftliche Betrachtungsweise kann helfen, sorgsam zu sein und im Umgang mit Schuld zu differenzieren. Gleichwohl aber vermag sie das eigentliche Problem nicht an der Wurzel zu packen. Es reicht nicht, Schuld zu verstehen und sie zu erklären. Schuld ist immer ein Verstoß gegen das Gebot Gottes. Daher will wie bekannt und vergeben werden. Der Weg dazu führt über das Kreuz von Jesus Christus. Hier erfährt sich der Mensch trotz seiner Schuld geliebt. Jesus übernimmt die Schuld des Sünders als seine eigene. Am Kreuz endet die Schuld. Hier wird ein echter Neuanfang möglich.

Echte Schuld oder nur Schuldgefühle?

In dem Maße wie wir auf die psychologische Seite der Schuld aufmerksam wurden, haben wir es auch gelernt, von Schuldgefühlen zu sprechen. Die Ursachen von Schuldgefühlen können sehr unterschiedlich sein. So empfinden Angehörige eines Verstorbenen häufig Schuldgefühle, weil sie sich nicht ausreichend um ihn gekümmert haben. Christliche Eltern können Schuldgefühle entwickeln und fragen, was sie falsch gemacht haben, wenn ihre Kinder den Glauben ablehnen. Jemand verspürt Schuldgefühle, wenn er sich Ansprüchen anderer verweigert und „Nein“ gesagt hat. Die Frage, ob es ich dabei um echte oder um falsche Schuldgefühle handelt ist nicht in jedem Fall einfach zu beantworten. Seelsorger neigen eher dazu, Schuldgefühle zu verharmlosen und die Betreffenden zu entlasten. Gleichzeitig aber kann es für die Betroffenen auch eine große Hilfe sein, ihre Schuldgefühle ernst zu nehmen und sie vor Gott zu bringen. In jedem Fall ist zwischen echten und unechten Schuldgefühlen zu unterscheiden. Die echten beruhen auf realer Schuld und bedürfen der Vergebung durch Gott. Unechte können auch Ausdruck einer Ichschwäche oder gar einer tieferliegenden Störung sein. Nach Ulrich Eibach beziehen sich echte Schuldgefühle immer auf ein Objekt, an welchem die betreffende Person schuldig geworden ist, bezogen. Unecht dagegen sind die Schuldgefühle dann, wenn sie entweder überhaupt nicht auf ein wahrnehmbares Objekt bezogen sind oder aber wenn sie zwar auf ein Objekt bezogen sind, aber in keinem rechten Verhältnis zu diesem Objekt stehen. Dies bedeutet, daß das vermeintlich geschädigte Objekt um die Schädigung gar nicht weiß oder diese überhaupt nicht also solche empfindet. Hans van der Geest spricht in letzterem Fall davon, daß im Falle eines unechten Schuldgefühls die Schuld keinen „Nennwert“ habe. Dies bedeutet, daß eine Tat subjektiv zwar als Schuld bewertet werden kann. Objektiv aber handle es sich um keine Schuld im eigentlichen Sinn.

Verschiedene Kriterien, wie etwa die Nachfrage nach den konkreten Umständen oder die Unterscheidung, ob sich eine Schuld nur in Gedanken oder auch in Taten vollzog, können eine Hilfe bei der Unterscheidung sein. Auch die Frage, wie schwer ein Vergehen war und ob das angebliche Opfer die vermeintliche Schuld überhaupt als solche empfindet, kann an dieser Stelle hilfreich sein (Ulrich Eibach, Seelische Krankheit und christlicher Glaube, Neukirchen 1992,  67ff).

Letztlich aber bleiben dem Seelsorger in dieser schwierigen Frage nur sein eigenes Urteilsvermögen und seine Selbsterfahrung. Für die Praxis der Seelsorge gilt, daß echte oder auch nur vermeintliche Schuldgefühle nicht vorschnell bagatellisiert oder beschwichtigt werden sollten. Schuldgefühle, welcher Art auch immer, gilt es zunächst ernst zu nehmen.

So sehr die Psychologie beitragen kann, Schuldzusammenhänge zu erhellen, so stößt sie doch an eine Grenze, wo es darum geht Schuld als Sünde vor dem lebendigen Gott zu begreifen. Mit Anselm von Canterbury ist daher zu sagen: Non considerasti quanti ponderis sit peccatum – du hast das Gewicht, die ganze Tiefe und das ganze Ausmaß der Schuld noch wirklich nicht erfaßt.

Aus: Theologische Orientierung Nr. 152
Albrecht-Bengel-Haus Tübingen