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Sündenvergebung praktizieren – Von der befreienden Kraft der Beichte

Sündenvergebung praktizieren – Von der befreienden Kraft der Beichte (1)

I. Einwände gegenüber der Beichte

In der Beichte geht es um die Befreiung von persönlicher Schuld (2). Diese individuelle Bearbeitung von Schuld entfaltet sich nach Martin Luther (3) in drei Dimensionen. Danach geht es um das Aussprechen-dürfen von erkannter und im Herzen gefühlter Schuld, um die stellvertretende Zusage der Vergebung im Namen Gottes und um die Annahme der göttlichen Vergebung im Glauben.

Mit dieser Auffächerung wird ein enges Verständnis von Beichte zugrunde gelegt, wonach die Einzelbeichte die eigentliche Form der Beichte ist. Daneben werden als beichtverwandte Formen des Sündenbekenntnisses u.a. genannt (4): die Herzensbeichte des einzelnen Sünders vor Gott; die Versöhnungsbeichte eines Christen gegenüber dem anderen nach Mt.5; die allgemeine Beichte im Gottesdienst; schließlich das Rüstgebet zu Beginn des Gottesdienstes (confiteor), mit dem die Gemeinde ihre Unwürdigkeit vor Gott bekennt und Vergebung erbittet.

Martin Luther gab so hohe Stücke auf die Einzelbeichte, daß er meinte: nicht die Kirche müsse ihre Gläubigen zur Beichte drängen, sondern die Menschen würden von sich aus ihre Pfarrer bedrängen, damit sie ihnen die Beichte abnehmen. Trotz mancher Neuansätze zur Einzelbeichte zunächst in lutherisch geprägten Erweckungsgebieten im 19.Jh., dann durch Bruderschaften wie die Michaelsbruderschaft und freie Werke wie den CVJM, durch die Geistliche-Gemeinde-Erneuerung und Aufbau-Initiativen, wie den Erlanger Kreis um Manfred Seitz im 20 Jh., bis zur Einführung eines festen wöchentlichen Beichtangebotes am Berliner Dom 2003 – 305 Jahre nach dem Ende des sog. Berliner Beichtstuhlstreites – die Voraussage Luthers hat sich nicht erfüllt. Eher gleicht die Lage dem, was in einem ökumenischen Informationsblatt von 1988 zu lesen ist: „Der Ruf nach Beichte in heutigen lutherischen Gemeinden ist sicher auszuhalten.“(5)

Es sind im Kern drei Einwände, die immer wieder gegenüber der Beichte vorgebracht werden und ihre Verankerung im Leben der Evangelischen Kirche erschweren. Beichte habe mit Zwang zu tun; Beichte bringe die Mittlerschaft der Kirche neu ins Spiel; Beichte habe keinen Sitz im Leben der Evangelischen Kirche.

Einwand 1: Beichte habe mit Zwang zu tun, denn – so wird vor allem aus der kontroverstheologischer Position (6) eingewandt – : man dürfe nicht vergessen, daß die Beichte ihrer Herkunft nach „organischer Bestandteil des katholischen Bußsakraments“ sei und die Gefährdung der Gewissen „im Sinne unevangelischer Gesetzlichkeit“ bestünde. Die Sündenvergebung darf auch nicht von der Aufrichtigkeit und Vollständigkeit des Sündenbekenntnisses abhängig gemacht werden. In diesem Fall wäre nämlich das Sündenbekenntnis und nicht Christus Ursache der Rechtfertigung. Die zentrale Frage ist also die nach dem Stellenwert des Bekenntnisses. Kurz: Was ist die Voraussetzung für die Lossprechung?

Einwand 2: Beichte bringe die Mittlerschaft von Kirche und Klerus neu ins Spiel, denn – so wird aus sozialkritischer Sicht vorgebracht –: bei der Wiedereinführung der Beichte im evangelischen Raum geht es letztlich um „klerikalistische“ Interessen, die das Sozialprestige des zurückgesunkenen kirchlichen Amtes aufwerten wollten.(7) In der antiklerikalen Polemik äußert sich ein Grundproblem. Die Beichte kann mit dem Grundsatz in Konflikt geraten, daß kein menschlicher Vermittler zwischen Gott und Mensch treten darf. Denn dann wäre das Evangelium als befreiender Zuspruch an die Vermittlung der Institution Kirche gebunden. Die zentrale Frage ist die nach dem Subjekt und Medium des Zuspruchs. Kurz: Wer darf die Sündenvergebung an Christi statt zusprechen?

Einwand 3: Beichte habe keinen Sitz im Leben der evangelische Kirche richtet sich gegen fehlende Strukturen. An wen kann man sich mit der Bitte um Einzelbeichte wenden? Wie bereitet man sich auf die Beichte vor? Neben der „Schwellenangst“ (8) des Beichtwilligen werden in pastoraltheologischer Sicht zwei weitere Hindernisse genannt: „das verlorene Vertrauen der Gemeinde in die seelsorgerliche Verschwiegenheit der Amtsträger sowie „die Angst des Seelsorgers davor, Beichte hören zu müssen.“

Zur Bearbeitung der drei Einwände und den in ihnen thematisierten Fragen möchte ich eine zentrale Leitkategorie aus der reformatorischen Theologie heranziehen, nämlich die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Ich möchte darlegen, wie die befreiende Kraft der Beichte als Durchbruch zum Evangelium verstanden werden kann. Über die innere Verschränkung zwischen einer systematisch-theologischen Leitkategorie (Gesetz und Evangelium) und einem auf praktischen Vollzug hin ausgerichteten Erkenntnisgegenstand (Beichte) soll exemplarisch zugleich ein Gesprächsangebot zwischen Praktischer und Systematischer Theologie unterbreitet werden.

Formal ergibt sich eine Dreigliederung dieses Beitrags. Auf die einleitende Problemskizze, in der die drei Einwände gegenüber der Beichte zur Sprache kamen, folgt nun die systematische Betrachtung des Themas unter dem Aspekt von Gesetz und Evangelium. Im III. Teil soll perspektivisch die Anschlußfähigkeit der systematischen Betrachtung für die Wiederbelebung der Beichte geprüft werden. Werden im II. Teil die beiden ersten Einwände widerlegt werden, so im III. Teil der dritte Einwand.

II. Beichte unter dem Aspekt von Gesetz und Evangelium

Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

In dieser reformatorischen Leitunterscheidung geht es um die Beschreibung von zwei existentiellen Grunderfahrungen. „Gesetz“ meint die Begegnung mit einer Forderung oder Norm, an der gemessen ein Mensch erkennt: So sollte, ja, so möchte ich sein, aber so bin ich gerade nicht. „Evangelium“ meint die andere Erfahrung, nämlich angenommen, geliebt, akzeptiert zu werden, ohne Vorleistung, – und das, obwohl das liebende Gegenüber erkennt, wie es um den Menschen steht. Gesetz und Evangelium beschreiben Art und Weisen, wie der Mensch angesprochen wird: anklagend, die Sünde beim Namen nennend – fordernd; oder freisprechend, die Sünde nicht anrechnend – beschenkt. Dabei ist es die persönliche Erfahrung des Scheiterns, des „Nicht-Schaffens“, die erst den Einbruch des Heilsamen ermöglicht. In der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium entsteht ein Kontrast zu der bisher unheilvollen Lebenssituation. Der kann allerdings erst entstehen, wo der Mensch sich auf seine unheilvolle Lebenssituation ansprechen läßt, wo er bereit ist, den Schmerz, die Scham und die Reue zu empfinden, die mit der Erkenntnis verbunden ist: „Du lebst unter der macht der Sünde!“ – Man begegnet, auch im Alltag, Strategien, um sich dem zu entziehen, also die Begegnung mit dem anklagenden Gesetz, zu vermeiden. Ich nenne – im Anschluß an Wilfried Härle (9) – vier solcher Vermeidungsstrategien und ergänze eine fünfte:

der Versuch, das Böse zu kompensieren, indem man auf das Gute verweist, das es im eigenen Leben doch auch gibt; die Entschuldigung durch Verweis auf die Gesellschaft, die schuld ist oder andere Personen; die Verharmlosung von Schuld durch den Vergleich mit anderen, bei dem man noch gut abschneidet; die maßlose Übertreibung, durch die eine Anklage scheinbar aufgenommen und verstärkt wird: „mir gelingt nie etwas“; „ich bin an allem schuld!“ ergänzend zu Härle möchte ich fünftens die Verdrängung von Schuld nennen; hier wird gar nicht erst eine innere Verbindung zur Schuld hergestellt, die dann verharmlost, übertrieben oder kompensiert werden könnte. Die genannten Vermeidungsstrategien hindern daran, die Erfahrung von der Befreiung von Schuld zu machen. Denn erst die Identifikation mit der Schuld, also die Übernahme eigener Anteile ermöglicht die entscheidende Öffnung und Befreiung. So liegt die Funktion des Gesetzes als Forderung und Anklage darin, die unheilvolle Situation aufzudecken. Der Weg zur Neuwerdung führt also über Scham, Reue und Schmerz. Dabei ist das Gesetz selbst nicht der Ausweg. Es kann dazu antreiben, einen solchen Weg zu suchen; aber es kann auch in Resignation und Verzweiflung stürzen. Das war zunächst Luthers Situation im Kloster. Er machte als Mönch die Erfahrung, daß das Gesetz zum Richter und Ankläger wird, weil es die richtige Herzenseinstellung gegenüber einem strafenden Gott fordert. Es fordert nämlich Glauben von ganzen Herzen, obwohl der Mensch, weil Sünder, außerstande ist, diese Forderung zu erfüllen. Das Gesetz Gottes fordert: Du sollst lieben den Herrn deinen Gott von ganzem Herzen (Dtn. 6,5) und klagt damit etwas ein, was der Mensch aus eigenem Vermögen nicht vollbringen kann. Die Funktion des Gesetzes ist die der Gewissensanklage angesichts des nicht erfüllten Gesetzes. Das Evangelium legt aber den Menschen nicht auf das fest, was er ist, sondern spricht ihn auf das hin an, wozu er von Jesus Christus her bestimmt ist, nämlich einen vor Gott gerechtfertigten Menschen.Es soll nun dargelegt werden, wie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium der von Reue und Lossprechung in der Beichte entspricht.

2. Die Reue als Anklage des Gesetzes

Die Contritio wurde nach einer interessanten und wechselvollen Geschichte im Spätmittelalter zum festen Bestandteil des dreigliedrigen römisch-katholischen Bußsakraments, das neben der Reue das Bekenntnis und die Genugtuung umfasste. Nach dem Durchleben von contritio, confessio und satisfactio konnte der Sünder wieder Anschluss ans Heil gewinnen; er war – vermittelt durch die Absolution des Priesters – wieder versöhnt mit der Kirche und Gott. Wir werden nach und nach sehen, wie sich Luther in vierfacher Hinsicht gegen das römische Bußsakrament gewandt hat: (1.) strukturell gegen eine Dreigliederung, (2.) christologisch gegen die satisfactio als ein Bestandteil, (3.) dogmatisch (durch Unterscheidung von Werk Gottes und Werk des Menschen) gegen die contritio und die confessio und (4.) sakramentaltheologisch überhaupt gegen die Buße als eigenständiges Sakrament neben der Taufe.

Über die Reue lehrte die Theologie, mit der Luther aufgewachsen war, daß sie eine wirkliche Zerknirschung des Herzens über die Sünde sein müsse. Zum Teil wird ausdrücklich von der Fähigkeit des Menschen ausgegangen, daß dieser aus eigener Kraft die Liebe und die Reue hervorzubringen vermag, die die Voraussetzung der Sündenvergebung bilden. Gerade diese Lehre hatte Luther im Kloster zur Verzweiflung gebracht, weil die Wirkung des Bußsakraments an die rechte menschliche Vorbereitung gebunden war.(10) Reue ist aber nicht Werk des Menschen, sondern Gottes Werk im Menschen, sein uneigentliches Werke, denn in ihm wird der alte Menschen durch das Scheitern am Gesetz getötet, damit der neue zum Leben entstehen kann. Das ist Gottes eigentliches Werk. Das Scheitern am Gesetz setzt also etwas Positives frei, weil der Umkehr-Gedanke der Reue berücksichtigt wird, nämlich die im Glauben an die göttliche Barmherzigkeit gewonnene Hinwendung des Menschen zu Gott. Contritio ist also nach lutherischer Auffassung zweierlei: Gottes richtende Macht durch das Gesetz und das Erschrecken über dieses Gericht, das dem Gewissen eingejagt wird. (CA 12 spricht von den terrores conscientiae).

Die Lossprechung als Befreiung durch das Evangelium

Nach der Auffassung, mit der Luther in der Kirche aufgewachsen war, ist die Lossprechung ein richterlicher Akt, in dem der Priester als Sachverwalter der göttlichen Barmherzigkeit auftritt. Demgegenüber haben die Reformatoren die rein deklarative Verkündigung des Vergebungswortes Gottes betont.(11) In der Lossprechung legt Gott dem Menschen ‚sein Wort in den Mund’. Im Satz: „Dir sind deine Sünden vergeben“ redet nach evangelischem Verständnis Gott selbst, die Lossprechung ist nach der Apol. CA 12 „vera vox evangelii“, entsprechend Lukas 10,16: „Wer euch hört, der hört mich.“ Manfred Seitz illustriert treffend: „Wer eine Beichte hört, handelt in Gottes Namen. Er ist das Ohr, dessen sich Gott bedient, um uns anzuhören, und er ist der Mund, den Gott gebraucht, um uns mitzuteilen, daß wir freigesprochen sind. So ist die Beichte unabhängig von der Beschaffenheit des Beichtigers.“(12) Damit ist auch alles Notwendige zum Einwand 2 (oben aus der Einleitung) gesagt. Gott selbst ist Subjekt der Lossprechung. Sein Medium ist das Wort, das dem Menschen in den Mund gelegt ist und im Glauben empfangen wird. Der Glaubende glaubt, daß er von seinen Sünden losgesprochen wurde. Und dieser Glaube an die Barmherzigkeit Gottes ersetzt die nach dem katholischen Bußsakrament Gott geschuldete Genugtuung für die begangenen Sünden.

Im Unterschied zu den Sakramenten Taufe und Abendmahl fehlt der Absolution ein „äußerliches Zeichen“, wie Wasser, Brot oder Wein. Das ist der erste Grund, warum Luther sich nach 1520 davon löste, Beichte als Sakrament zu bezeichnen. Der zweite liegt in der engen Verbindung zur Taufe. Im Scheitern am Gesetz geht es im übertragenen Sinne um den Durchgang durch den Tod ins Leben, also die Erneuerung dessen, was in der Taufe bereits geschehen ist. Das alte Ich muß sterben, damit der neue Mensch leben kann. Beichte „ist die Rückkehr in die Ursprungssituation des Soeben-Getauftworden-Seins“, wie Christof Gestrich (13) formuliert.

Beichte unter dem Aspekt von Gesetz und Evangelium

Es soll nun gezeigt werden, wie Gesetz und Evangelium in seiner inneren Dynamik zum Verständnis der befreienden Kraft der Beichte beiträgt. Wir sahen: Die Reue steht in einem inneren Zusammenhang mit der Funktion des Gesetzes als Anklage. Die Lossprechung steht in einem inneren Zusammenhang mit der Funktion des Evangeliums als Befreiung. Die innere Dynamik entsteht darin, daß die befreiende Kraft des Evangeliums wahrnimmt, wer sich als Sünder erkennt. Und wer sich als Sünder bekennt – und damit das Scheitern am Gesetz annimmt -, dem wird die befreiende Kraft des Evangeliums zuteil. Diese Dynamik von Gesetz und Evangelium durchzieht aber das ganze christliche Leben. Dafür steht die reformatorische Neuentdeckung des Begriffs Buße als tägliche Hinkehr zu Gott in Reue und Glauben – gemäß Markus 1,15: Tut Buße, und glaubt an das Evangelium. „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße!, so hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei“ – so Luther bereits 1517 in der ersten der 95 Thesen.

Die Beichte ist nun gewissermaßen eingebettet ist in den umfassenden Vorgang der Buße, also der täglichen Hinkehr zu Gott in Reue und Glauben. Die Einzelbeichte kann in Anspruch genommen werden, wenn sich in der täglichen Buße ein Thema so herauskristallisiert, daß es einen bedrückt und sich langsam oder plötzlich wie ein lähmender Bann auf das Leben legt. Dann reichen Gebet und allgemeine Beichte nicht mehr aus, um zu entlasten. In diesem Fall kann die erkannte Schuld im individuellen Bekenntnis in der Einzelbeichte ausgesprochen werden. Es ist das Bekennen eines Versagens, das nicht in die Verzweiflung führt, sondern zur Befreiung. So hängen Reue und Bekenntnis (als Werk des Menschen) zusammen: Die Reue als Werk Gottes läßt dem Menschen Raum für die Erkenntnis, daß er das, was Gott in seinem Gesetz fordert, nicht erfüllt hat. Und das läßt ihn ausrufen: Ich habe gesündigt! In der Beichte darf das Bekenntnis „abgelegt“ werden. Der Stellenwert der confessio hat sich gegenüber dem katholischen Bußsakrament grundlegend verschoben, so daß es keinen Gewissenszwang mehr gibt. Der Einwand 1 von oben kann mit vier Überlegungen zurückwiesen werden. Wo die Aufzählung zur Voraussetzung der Vergebung wird, da kann auch die göttliche Vergebung nur bedingt geschehen, weil ja abhängig von der Vollständigkeit. Zweitens stünde das Bekenntnis im Mittelpunkt und nicht die Absolution, was wiederum zum Gewissenszwang und Werkgerechtigkeit führt. Drittens ist das Aufzählen aller Sünden nicht schriftgemäß, weil der Mensch ganz und gar Sünder ist und gemäß Psalm 19,13 keiner bis ins letzte weiß, wie oft er gesündigt hat. Viertens schließlich ist die Funktion des Beichthörenden verschieden. Er ist nicht geistlicher Richter, der ein stellvertretendes Urteil Gottes spricht, und muß entsprechend auch nicht alle Details der Sünde kennen und auf ein vollständiges Bekenntnis drängen.

III. Zur Anschlußfähigkeit der theologischen Betrachtungen für die kirchliche Praxis der Sündenvergebung

Klar ist: Für das kirchliche Leben anschlußfähig kann sich die Einzelbeichte nur erweisen, wenn die drei zentralen Einwände ausgeräumt sind: Beichte habe etwas mit Zwang zu tun – Beichte setzte die kirchliche Mittlerschaft voraus – Beichte habe keinen Sitz im Leben der ev. Kirche.

Die beiden ersten Einwände sind bereits widerlegt worden. Zum Schluß soll der Einwand 3 bedacht werden: die Beichte habe keinen Sitz im Leben der Ev. Kirche. Neben der „Schwellenangst“ des Beichtwilligen wurde das fehlende Vertrauen der Gemeinde in die seelsorgerliche Verschwiegenheit der Amtsträger vorgebracht. Überhaupt fehle es an Strukturen. Hinter dem Einwand steht die Frage nach Praxis und Bedingungen der evangelischen Beichte. Als anschlussfähig zur Bearbeitung des 3. Einwands erweisen sich Dietrich Bonhoeffers Reflexionen zur Beichte aus seiner Schrift „Gemeinsames Leben“, in der ja praktische Erfahrungen mit der Beichte im Predigerseminar verarbeitet werden. Zudem nehme ich auf eigene Erfahrungen Bezug, die beim regelmäßigen Abnehmen der Beichte am Berliner Dom gemacht werden konnten.(14)

Die Verzahnung von systematischer Analyse und Empirie entspricht dem Versuch, Brücken auch innerhalb der Theologischen Disziplinen zu schlagen. Buße und Beichte als Gesetz und Evangelium kehren in der vierfachen Bestimmung dessen wieder, worum es nach Bonhoeffer (15) in der Beichte geht, nämlich um verschiedene Formen des Durchbruchs: zur Gemeinschaft, zum Kreuz, zum Leben, zur Gewißheit – die befreiende Kraft der Beichte als Durchbrucherfahrung.

Beichte als Durchbruch zur Gemeinschaft. Wo die Schwellenangst überwunden ist, bleibt der Mensch mit der Schuld nicht allein. Das Kommen in die Beichte kann mit Bonhoeffer als der Durchbruch in die Gemeinschaft beschrieben werden. Die Isolation des Menschen von Gott, sich selbst und den anderen Menschen ist aufgebrochen. Sünde hat einsam gemacht. Die Versöhnungsperspektive kann durchbrechen. Die Sünde bezog ihre Macht zum großen Teil aus dem Dunkel, der Verstecktheit und Anonymität. Das Aussprechen der Sünde als Realität des eigenen Lebens befreit aus diesem Bann. Um die „Schwellenangst“ des Beichtwilligen zu überwinden, kann ein verläßliches, regelmäßiges und offenes Beichtangebot hilfreich sein, wenn man z.B. weiß, daß an einem bestimmten Tag die Kirche offen steht zum Beichtgespräch. Auch Information über Inhalt und Form der Beichte kann helfen, Schwellenängste abzubauen, etwa ein Flyer am Ausgang der Kirche.

Beichte als Durchbruch zum Kreuz. Ein Mensch kann sich nur das vergeben lassen, was er als eigene Schuld erkannt hat. Vergebung ohne Schuldanerkennung ist ebenso unmöglich wie innere Befreiung ohne Anerkennung der Knechtschaft. Menschen, die in die Beichte kommen, identifizieren sich freiwillig mit ihrer je individuellen Schuld und wählen nicht eine der eingangs genannten Vermeidungsstrategien. Wo der Mensch sein Scheitern vorbringt, da ist der Stolz im Kreuz überwunden. Der Gedanke von der Reue als Anklage des Gesetzes (vgl. oben II.2) begegnet bei Bonhoeffer unter dem Stichwort: Durchbruch zum Kreuz. „Im Bekenntnis konkreter Sünden stirbt der Mensch unter Schmerzen einen schmachvollen Tod.“(16)

Als konkrete Sünden wird das Scheitern an Geboten bekannt, wie „Du sollst nicht töten!“, wenn es etwa um Schwangerschaftsabbruch geht, oder „Du sollst nicht Ehe brechen!“ – in der Partnerschaft. Die theologische Anschlußfähigkeit dieser Beobachtung ergibt sich über die systematische Unterscheidung zwischen Schuld und Sünde. Menschen, die in die Beichte gehen, haben allgemein gesprochen ein intuitives Verständnis davon, daß ihr verfehltes Handeln, also ihre ethische Schuld, etwas mit der gestörten Gottesbeziehung zu tun hat, also der Sünde. In der Beichte von heute werden hauptsächlich moralische Verfehlungen, ethische Schuld thematisiert. Es geht weniger um das verfehlte Sein vor Gott, als um das dem anderen Menschen oder sich selbst gegenüber – auch wenn letztlich alle drei Dimensionen im Blick scheinen. In dieser Beobachtung sehe ich zum einen die Aktualität der reformatorischen Einsicht, daß moralische Schuld in der Sünde wurzelt. Pointiert gesagt: Wer Schuld auf sich lädt, hat eine Ahnung davon, daß etwas mit seiner Gottesbeziehung nicht stimmt, daß letztlich alle ethische Schuld im Scheitern am ersten Gebot gründet. Zum andern haben sie eine Ahnung davon, daß im Scheitern am Gesetz etwas Positives steckt. Die verheißungsvolle Ahnung vom Evangelium ist bereits da, wo Schuld bekannt wird.

In der Beichte geschieht hier das, was Bonhoeffer den „Durchbruch zum neuen Leben“ nennt: „Wo Sünde gehaßt, bekannt und vergeben ist, dort ist der Bruch mit der Vergangenheit.“(17) – ‘Das Alte ist vergangen’. Menschen, die in die Beichte kommen, wollen ihre Schuld „ablegen“. Da ist zunächst die große Entzauberung oder Befreiung, die allein schon durch das Aussprechen von Schuld geschieht und die Beichte in diesem Aspekt anschlußfähig für psychologische Betrachtungen macht. Bei der Bearbeitung von Schuld in der Beichte kommt zum Aussprechen der Sünde etwas Entscheidendes hinzu: der Zuspruch der Vergebung. Wie oft nämlich wurde ein Problem, das das Gewissen belastet, im Freundeskreis oder an anderer Stelle besprochen? Wie oft hat der Schwangerschaftsabbruch, der Jahre zurückliegt, „dem Gewissen Schrecken eingejagt“ (vgl. CA 12)? Wie oft war das Empfinden da: Ich bin schuldig – auch vor Gott? Du sollst nicht töten – als Anklage, als Gesetz, das die Gewissen martert?

Der Gedanke von der Lossprechung als Befreiung durch das Evangelium, der oben unter II.3 entfaltet wurde, begegnet bei Bonhoeffer in der Figur der Beichte als Durchbruch zur Gewißheit. Es ist die Gewißheit, daß die in der Beichte zugesprochene Vergebung wirklich Gottes Vergebung ist. Wer schafft in uns hier Gewißheit?, fragt Bonhoeffer und gibt zur Antwort: „Diese Gewißheit schafft Gott selbst durch den Bruder.“(18) Die Vergebung hat in der Beichte einen Zeugen. Ihm darf ich glauben. Es ist das persönliche Spüren der annehmenden göttlichen Liebe.

Im Ergebnis sehen wir: Von der Macht der Sünde kann man nur frei werden, wer seinen Anteil an ihr übernimmt – Gesetz und Evangelium. In der Einrichtung eines verläßlichen Beichtangebotes wird der existentiellen Durchbrucherfahrung zum Heil eine Struktur geschaffen. Schuld darf ausgesprochen werden und Vergebung empfangen. Die befreiende Kraft der Beichte als Durchbrucherfahrung ist eine kirchliche Perspektive, die Horizonte öffnet – in gesellschaftlicher, ökumenischer und interdisziplinärer Hinsicht. In gesellschaftliche Hinsicht eröffnet Beichte eine von mehreren Möglichkeiten, Schuld zu verarbeiten. Die Kirche bietet im festen Beichtangebot einen Ort der Versöhnung für den Einzelnen, der nicht mehr allein bleiben muß mit seiner Schuld. In ökumenische Hinsicht eröffnet bereits die Beschäftigung mit dem Thema Beichte ein Angebot für den Dialog mit der katholischen Kirche ebenso wie mit Vertretern evangelischen Konfessionen, etwa mit der reformierten oder anglikanischen Tradition. Auch in interdisziplinäre Hinsicht eröffnet das Thema Perspektiven: Verarbeitung von Schuld ist salopp gesagt ein Top-Thema in Disziplinen wie der klinischen Psychologie, Zweigen innerhalb der Politikwissenschaft, der Zeitgeschichte oder des Strafrechts. Der Beitrag der Theologie bei der Klärung von Schuldverarbeitung und Versöhnung ist interdisziplinär gefragt.

Anmerkungen

1 Leicht überarbeiteter Vortrag an der Universität Greifswald am 27.6.2005 (Vortragssteil zum Teil beibehalten).

2 Es geht nicht um die gesellschaftliche oder politische Dimension von Schuld und Versöhnung vgl. dazu meine Studie „Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland“ (Gütersloh 2004; engl. im Druck).

3 Vgl. Eine kurze Vermahnung zu der Beicht, 1529, WA 30/1, 233ff.

4 Vgl. zum Nachfolgenden: M. Herbst, Art. Beichte, in: Ev. Lexikon für Theologie und Gemeinde I, 199-201, 200f.

5 J. Jeziorowski, Sündenvergebung als Lebenshilfe, in: KNA – Ökumenische Information Nr. 3/13.Januar 1988, 6.

6 Nachfolgende Zitate bei: R. Hermann, Zur evangelischen Lehre von der Buße, in: Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke II, hrsg. von H. Beintker, Berlin 1981, 144.

7 Zitat und Position belegt bei: J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung, 3.A. Göttingen 1980, 22.

8 Zitate bei A. Stein, Schuld-Vergebung-Beichte, in: Handbuch der Praktischen Theologie II, 313.

9 Vgl. W. Härle, Dogmatik, 502f.

10 Vgl. R. Seeberg, Dogmengeschichte IV,1, 158ff.

11 Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei W. Pannenberg, Syst. Theologie III, 280f.

12 M. Seitz, Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge, Spiritualität,196.

13 Ist die Beichte erneuerungsfähig?, in: Berliner Theologische Zeitschrift 100/1993, 187-196, 193.

14 Seit dem Buß- und Bettag 2003 gibt es am Berliner Dom die Möglichkeit, zu einem festen Zeitpunkt, nämlich mittwochs zwischen 16.00 und 17.00 Uhr, zur Einzelbeichte zu kommen.

15 Vgl. zum Nachfolgenden: Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) 5, 93ff.

16 DBW 5, 96.

17 Ibd.

18 DBW 5, 97.

Mit freundlicher Genehmigung aus: Deutsches Pfarrerblatt 3, März 2008, 127-130.

Zum Autor: Prof. Dr. Ralf K. Wüstenberg lehrt seit 2005 Systematische Theologie an der Freien Universität Berlin. 1995 Promotion über Bonhoeffer an der Humboldt-Universität Berlin. Habilitation an der Rupprecht-Karls-Universität über die politische Dimension der Versöhnung 2003. 2003 bis 2005 Pfarrer am Berliner Dom.