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Wider die Selbstsäkularisierung des europäischen Christentums

Donnerstag 30. August 2007 von Prof. Dr. Thomas Schirrmacher


Prof. Dr. Thomas Schirrmacher

Wider die Selbstsäkularisierung des europäischen Christentums

„Ich ermahne euch daher, Geschwister, durch die Barmherzigkeit Gottes, eure ganzes Leben mit Haut und Haaren darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, was euer vernünftiger Gottesdienst ist. Und paßt euch nicht dem Schema dieser Welt an, sondern werdet durch die Erneuerung eures Denkens verändert, damit ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, das Wohlgefällige und das Vollkommene.“
(Römer 12,1-2)

Paulus fordert die Christen auf, sich ständig durch „Erneuerung des Denkens“ „verändern“ zu lassen (Röm 12,2). Nur so kann der Christ der Anpassung an den Zeitgeist (Röm 12,1) entgehen. Der Zeitgeist findet sich daher nicht vor allem in der „bösen Welt“ „draußen“, sondern in unseren Köpfen. Nur wer bereit ist, sich immer wieder neu selbstkritisch zu fragen, was eigentlich die Maßstäbe seines Denken sind und wozu sie führen, kann sie und dann auch sein Handeln ändern. Petrus fordert Christen auf, allen Menschen Antworten zu geben, die Rechenschaft von ihnen fordern (2 Petr 3,14-17). Nur wer sich zuerst selbst Rechenschaft gibt und danach bereit ist, Zeit in das Verstehen anderer Denkgebäude zu investieren, kann auch die Fragen der Anhänger anderer Weltanschauungen sinnvoll beantworten.

Zur Zeit des Nationalsozialismus war der Weltanschauungsvergleich so wenig ausgeprägt, daß vielen nicht bewußt war, daß Hitler mit seiner absichtlich immer wieder „Weltanschauung“ genannten Sicht, daß Gott die Welt zum Kampf der Rassen geschaffen hat, alle Lebensbereiche ganz anders definierte und gestaltete als etwa der christliche Glaube oder das demokratische Denken. Viele Christen kannten ihre eigene Weltanschauung zu wenig (beispielsweise die Konsequenzen des Glaubens an den Schöpfer, der kein Ansehen der Person kennt, bis in alle Verästelungen des gesellschaftlichen Lebens hinein), ebenso wandten sie zu wenig Zeit auf, um andere Weltanschauung gründlich zu verstehen, zu beantworten oder auch durch Offenlegung vor ihnen zu warnen.

Amerika und Europa sind zwar kulturgeschichtlich eng verbunden, entwickeln sich allerdings weltanschaulich und religiös immer mehr auseinander. Während Europa trotz manch neu aufflammender Christlichkeit im Gefolge der weltweiten Bedrohung durch den islamischen Terrorismus aufs Ganze gesehen immer noch weiter entchristlicht wird – sei es durch das Desinteresse des Einzelnen, sei es durch Maßnahmen der Gesetzgebung –, erlebt das Christentum in den USA eine ganz neue Blüte. In den USA hat Religion in Form der „Zivilreligion“ immer schon einen festen Platz in Politik und Öffentlichkeit, trotz der viel strikteren Trennung von Kirche und Staat im Vergleich zu Mitteleuropa. Die gegenwärtig starke Zunahme des religiösen Lebens, etwa das Erstarken der Evangelikalen unter den Weißen und Afroamerikanern und der katholischen Kirche unter den Latinos, macht Religion jedoch wieder zu einem politisch bedeutsameren Faktor, im Guten wie im Schlechten. Dabei wird leider übersehen, dass die verschiedenen atheistischen Richtungen besser organisiert sind und in der Öffentlichkeit wesentlich offensiver und mit eindeutigeren Bekenntnissen in Erscheinung treten.

Weltanschauliche Diskussionen werden in den USA überhaupt viel stärker in der Öffentlichkeit ausgetragen als bei uns. Man denke etwa an die Diskussion um Evolution oder Schöpfung beziehungsweise „Intelligent Design“. Medienwirksame Streitgespräche führender Professoren vor vollen Hörsälen sind an amerikanischen Universitäten weit verbreitet. Dabei diskutieren Christen mit Atheisten, Katholiken mit Protestanten, Muslime mit Christen, Evolutionisten mit Kreationisten, Abtreibungsgegner mit Abtreibungsbefürwortern, Sozialisten mit Kapitalisten, Befürworter und Gegner der Todesstrafe und viele andere mehr. Deswegen ist auch der Vergleich zwischen Weltanschauungen und Religionen Gegenstand vieler Veröffentlichungen, während wir in Europa meist die direkte Konfrontation scheuen und eher die Einzeldarstellung oder gar die verborgene Lobbyarbeit und Unterwanderung der Institutionen wählen, um Weltanschauungen zu verbreiten. Für solche Vergleiche muß man dabei natürlich jeweils eine bestimmte Version einer Weltanschauung zum Ausgangspunkt nehmen. Wenn man Islam und Christentum vergleichen will, kann man bei aller notwendigen Differenzierung eben nur typische Positionen formulieren, die die Gegenüberstellung handlicher und eindeutiger machen. Das hat sicher den Nachteil, daß der tatsächliche Alltag ihrer Zigmillionen Anhänger möglicherweise etwas anders aussieht. Andererseits führt die übermäßige Differenzierung in Europa oft dazu, daß gar nicht mehr wirklich verglichen wird und bei zentralen Grundfragen alles beliebig ist und zerredet wird.

Wenn mit diesem Buch nun ein Klassiker des Weltanschauungsvergleichs aus den USA für europäische beziehungsweise deutsche Leser zugänglich gemacht wird, muß man diesen Hintergrund im Auge behalten. Ebenso muß man berücksichtigen, daß die Positionen teilweise mit amerikanischen Autoren und Texten belegt werden, aber auch mit deutschen „Klassikern“ wie den Vätern des Marxismus, beziehungsweise mit den in Deutschland zwar vorhandenen, aber nicht wie in den USA offensiv verbreiteten Bekenntnistexten wie den Humanistischen Manifesten.

Was jedoch für den deutschen Leser viel eher neu sein dürfte, ist das öffentliche Bekennen der eigenen Weltanschauungen, vor allem wenn es sich nicht um eine offizielle Religion handelt. Ich möchte das am Beispiel der drei humanistischen Manifeste deutlich machen, die der Autor als Grundlage für die Darstellung des Säkularen Humanismus wählt. Natürlich ist dieser Humanismus auch in Deutschland weit verbreitet, aber seine organisierte Form ist zahlenmäßig klein, daß heißt, er bleibt eher eine private Einstellung, die man nicht unbedingt lautstark öffentlich zur Kenntnis gibt. Und er findet sich häufig bei Menschen, die offiziell anderen weltanschaulichen oder religiösen Gruppen angehören, weswegen es viel stärker zu Mischformen kommt. Auch das Christentum ist von seinen „Gegnern“ oft kaum zu unterscheiden, eine Tatsache, die der oberste Repräsentant der Protestanten in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, ebenfalls im Hinblick auf seine eigene Vergangenheit treffend als „Selbstsäkularisierung“ bezeichnet hat. Weltanschauliche Gegner des Christentums wirken häufig innerhalb der Kirchen und überzeugte Christen finden statt dessen oft ihr Betätigungsfeld außerhalb der großen Kirchen. Deswegen sind bei uns die Trennlinien zwischen den Weltanschauungen optisch wenig sichtbar.

Der protestantische Theologie Helmut Thielicke definierte „Weltanschauung“ in seiner „Theologischen Ethik“ wie folgt: „Unter Weltanschauung verstehen wir den Versuch, alle innerweltlichen Erscheinungen unter ein letztes Thema zu subsumieren, das als Weltformel jene Erscheinungen sinngebend trägt. Damit werden alle Lebensgebiete auf einen einheitlichen Nenner gebracht, gleichgültig, ob es sich um das Verständnis der Geschichte, der Natur, der Wissenschaft oder der Kunst handelt.“ Auch wenn Thielicke Weltanschauungen hier im Unterschied zu Religion definieren will, haben Religionen genau dieselbe Funktion, nur daß ihr letztes „Thema“ transzendenter Natur ist. Sie wählen etwas über der Welt Stehendes als letzten Fixpunkt und personifizieren es mehr oder weniger je nach Art der Religion.

Weltanschauungen strahlen in alle Lebensbereiche aus. Daß ist Amerikanern meist bewußter als Europäern, gilt aber in Europa und Deutschland ebenso wie überall. Das vorliegende Buch hilft für eine Auswahl bedeutender Weltanschauung einmal die Konsequenzen für alle Bereiche der Gesellschaft und Wissenschaft zu durchdenken. Das führt weg von meist unfruchtbaren Stellvertreterdiskussionen, wie wir sie in Deutschland lieben. Wir diskutieren nämlich oft ein Detail sehr intensiv, ohne offenzulegen, daß die verschiedenen Konsequenzen sich aus ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ergeben. Die Weltanschauung der meisten deutschen Politiker bleibt im Verborgenen und es wird lieber so getan, als gingen ihre Vorschläge und Ansätze auf pures Nachdenken und Kennen der Fakten zurück. In Wirklichkeit setzen die meisten Politiker jedoch nur ihre Weltanschauung um, was um so leichter ist, je weniger sie diese benennen und rechtfertigen müssen. Ich wünsche allen Lesern, daß sie mit Paulus selbstkritisch ihr eigenes Denken reflektieren, mit den umfassenden Entwürfen anderer Weltanschauungen vergleichen und dann ein durchdachtes Fundament für ihr Leben erarbeiten und entsprechend handeln.

Prof. Dr. Thomas Schirrmacher. Rektor des Martin Bucer Seminars, Bonn, Zürich, Prag, Ankara. Ao. Prof. für Religionssoziologie an der Staatlichen Universität Oradea, Rumänien. Prof. für Internationale Entwicklung, ACTS University, Bangalore, Indien

Der abgedruckte Text ist das Vorwort von: David A. Noebel, Kampf um Wahrheit – Die bedeutendsten Weltanschauungen im Vergleich. Resch-Verlag: Gäfeling, ISBN 978-3-935197-41-0. 29.90 € [D]. 504 S. (www.resch-verlag.com)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 30. August 2007 um 17:45 und abgelegt unter Buchempfehlungen, Gesellschaft / Politik, Theologie.