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Zum Verständnis des Kreuzesgeschehens

Samstag 15. November 2008 von Prof. Dr. Peter Stuhlmacher


Prof. Dr. Peter Stuhlmacher

Zum Verständnis des Kreuzesgeschehens

Wie alle geschichtlichen Ereignisse konnte und kann man die Kreuzigung Jesu verschieden beurteilen. Das Neue Testament erlaubt uns, mit einiger Genauigkeit anzugeben, wie die Gegner Jesu, seine Anhängerschaft und Jesus selbst die Ereignisse gedeutet haben. Erst wenn man sich alle drei Betrachtungsweisen vergegenwärtigt, kann man ermessen, warum die Urchristenheit zu der Überzeugung gekommen ist, daß Jesus – wie es in Röm 4,25 heißt – „(von Gott) wegen unserer Verfehlungen hingegeben und wegen unserer Rechtfertigung auferweckt (wurde)“ (vgl. mit Jes 53,11-12).

1. Das Urteil der Gegner Jesu

Die Evangelien berichten übereinstimmend, daß Jesus sich durch seine Verkündigung schon in Galiläa Feinde unter den Juden gemacht hat (vgl. nur Mk 2,7; 3,6; Lk 4,28-30). Die mächtigsten Gegner aber sind ihm in Jerusalem erwachsen, als er bei der sog. Tempelreinigung die für den Tempel verantwortliche Priesterschaft vor die Wahl gestellt hat, entweder ihm und seiner Botschaft von der Gottesherrschaft zu folgen oder weiterhin ihren (ohne Umkehr nutzlosen) kultischen Dienst zu versehen (vgl. Mk 11,15-17; Joh 2,13-17). Mit dieser Aktion hat Jesus sein Leben bewußt aufs Spiel gesetzt und sich für Israel zum Opfer geweiht (s. u.). Ihretwegen haben die Priester dann auch die Tötung Jesu betrieben und durchgesetzt. Nachdem sich Judas angeboten hatte, seinen Herrn bei passender Gelegenheit auszuliefern, haben die Hochpriester Jesus durch die Tempelpolizei bei Nacht in Gethsemane verhaften und in den hochpriesterlichen Palast bringen lassen. Dort hat sich zunächst das Haupt des hochpriesterlichen Clans, Hannas, sein Bild von der Sache gemacht. Anschließend hat er Jesus an seinen Schwiegersohn Kaiphas übergeben, der das Amt des Hochpriesters innehatte und damit zugleich der oberste religiöse Richter in Israel war (vgl. Joh 18,12-14.19-24). Kaiphas hatte mittlerweile die erreichbaren Mitglieder des jüdischen Staatsgerichtshofes in seinem eigenen Palast zusammenrufen lassen. Da die gegen Jesus aufgebotenen Zeugen vor diesem Gremium keine rechtlich verwertbare Aussage über Jesu Wort gegen den Tempel zustande brachten (vgl. Mk 14,56-59 par.), hat Kaiphas die Verhandlung an sich gezogen und Jesus direkt auf seine messianischen Ansprüche befragt. Als er auf die Frage des Kaiphas: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ antwortete: „Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen“ (Mk 14,62), war sein Schicksal besiegelt: Hier gab sich ein Mann aus Galiläa gegenüber dem Hochpriester nicht nur als Messias und Gottes Sohn aus. Sondern er maßte sich außerdem noch an, den hohen jüdischen Richtern anzukündigen, sie würden ihn zur Rechten Gottes sitzen (vgl. Ps 110,1) und als den Menschensohn mit den Wolken des Himmels kommen sehen (vgl. Dan 7,13), um über sie und alle Welt Gericht zu halten. Der Mensch aus Galiläa war also ein Gotteslästerer und ein religiöser “Verführer” (vgl. Joh 7,12; 11,45-53; Mt 27,63) obendrein. Wie die Tempelreinigung gezeigt hatte, wollte er Israel verleiten, nicht länger dem von Gott auf dem Zion gestifteten (und in der Tora verankerten) Kult, sondern seiner Person und Botschaft anzuhängen. Auf dieses Vergehen stand der Tod, und zwar durch Steinigung und anschließende Aufhängung ans Holz (vgl. Dtn 5,11; 13,6; 17,12; 18,20; 21,22- 23). Da den Juden aber das Recht entzogen war, Todesurteile zu vollstrecken (vgl. Joh 18,31), haben die jüdischen Oberen Jesus am nächsten Morgen bei Pilatus angezeigt, und zwar mit dem Hinweis, es handele sich um einen Pseudomessias. Dieser Verdacht zwang den römischen Statthalter zum Handeln. Das Vorgehen der Hochpriester gegen Jesus ist historisch verständlich: Jesus hatte in für sie unerträglicher Art und Weise gegen die religiöse Ordnung in Israel verstoßen. Indem sie seine Hinrichtung durchsetzten, haben sie die ihnen anvertraute heilige Kultordnung verteidigt, in deren Mitte die göttliche Erlaubnis stand, Israel Tag für Tag und Jahr für Jahr mit Hilfe symbolischer Sühnopfer aus seiner Sündenschuld vor Gott auslösen zu dürfen. Man kann den jüdischen Richtern zwar vorwerfen, sie hätten Jesu Person und Botschaft verkannt (vgl. 1.Kor 2,8; Apg 3,17; 13,27), darf aber trotzdem nicht übersehen, daß sie von ihrem Standpunkt aus religionsrechtlich vernünftig gehandelt haben. Das Verhalten des Pilatus ist schwieriger zu beurteilen. Er war von der Schuld Jesu offenbar nicht restlos überzeugt, aber Jesus hat sich ihm gegenüber auch nicht nennenswert verteidigt (vgl. Mk 15,2-5; Joh 19,8-9). Daraufhin hat Pilatus zunächst den Landesherrn Jesu, Herodes Antipas, in den Fall eingeschaltet (vgl. Lk 23,6-12). Dieser hat Jesus mit Hohn und Spott ins Prätorium zurückgesandt. Daraufhin hat Pilatus versucht, Jesus dadurch vor dem Tod zu bewahren, daß er anbot, ihn oder den Zeloten Barabbas aus Anlaß des Passafestes freizugeben. Erst als die Volksmenge für Barabbas und gegen Jesus entschieden hatte, hat er Jesus zur Kreuzigung verurteilt, und zwar als einen Mann, der das Majestätsrecht des römischen Staates gefährdete. Da die Römer im 1. Jh. n. Chr. alle messianischen Aufwiegler, die ihre Herrschaft über Palästina in Frage stellten, so rasch wie möglich beseitigt haben, ist Pilatus mit Jesus genau so verfahren, wie es die politische Raison von ihm forderte. Die Gegner Jesu haben also in seinem Ende auf Golgatha das verdiente Ende eines Menschen gesehen, der die religiöse Ordnung im Lande in unerträglicher Art und Weise störte und dessen Einfluß auf die jüdischen Massen Anlaß zu politischer Besorgnis bot.

2. Das Urteil in der Jüngerschaft Jesu

Die Evangelien verschweigen nicht, daß Jesus von Judas an die Hochpriester verraten und außerdem noch im entscheidenden Moment von allen engen Begleitern verlassen worden ist (vgl. Mk 14,50). Nach antikem Maßstab hat diese mangelnde Treue auf Jesus und seine Sache ein denkbar schlechtes Licht geworfen. Dieser Eindruck wird durch die beiden Ausnahmen kaum verbessert, die in den Texten erwähnt werden. Nach Joh 19,25-27 haben die Mutter Jesu sowie der im Johannesevangelium öfters genannte „Jünger, den Jesus liebte“ unter dem Kreuz ausgeharrt, und Jesus hat seine Mutter dem Schutz dieses Jüngers anvertraut. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Szene historisch oder symbolisch zu verstehen ist. Die von dem römischen Hinrichtungskommando bewachte „Schädelstätte“ (Joh 19,17) bot nicht ohne weiteres Gelegenheit für letzte Gespräche Jesu mit Angehörigen und Schülern. Auf jeden Fall waren es auch wieder nur Frauen aus Jesu Umgebung, die seine Grablegung beobachtet haben und am Ostermorgen aufgebrochen sind, um den nur eilig bestatteten Toten vollends herzurichten. Bei den zur Osterzeit in Jerusalem herrschenden niedrigen Temperaturen war diese Absicht keineswegs so abwegig, wie kritische Kommentatoren meinen. Daß die Nachricht vom leeren Grab nur auf Frauen zurückgeht, spricht nicht gegen, sondern für ihre Historizität. Die Motive für das Versagen der Jünger Jesu lassen sich nur vermuten. Nach Mt 27,3-10 hat Judas die Verurteilung Jesu zum Tode bedauert. Möglicherweise hat er Jesus durch sein Vorgehen nur zum machtvollen messianischen Durchgreifen nötigen wollen. Petrus und die Angehörigen des Zwölferkreises sind untergetaucht, weil sie nicht ohne Grund befürchteten, ebenfalls verhaftet und verurteilt zu werden (vgl. Mk 14,51-52). Die am Ostertage nach Emmaus wandernden beiden Jünger machen keinen Hehl daraus, daß sie gehofft hatten, Jesus sei der Mann, „der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21). Die gemeinsame Zeit mit ihm und die Belehrung, die Jesus ihnen hatte zuteil werden lassen, haben offensichtlich nicht ausgereicht, um die Jünger unerschütterlich von der Besonderheit seiner Person und der Notwendigkeit seines Opfertodes zu überzeugen. Jesu Gefangennahme, seine Verurteilung und Hinrichtung am Kreuz haben die Männer und Frauen aus Jesu engster Umgebung fast verzweifeln lassen. Erst auf Grund der Osterereignisse haben sie gelernt, an Jesus als Herrn und Messias zu glauben, und in der Kraft des Heiligen Geistes haben sie sich dann auch an die Lehre Jesu erinnert, haben sie festgehalten, inhaltlich durchdrungen und weitertradiert (vgl. Joh 14,25-26 und 16,13).

3. Jesu eigenes Todesverständnis

Nur weil die Lehre Jesu auf diese Weise bewahrt worden ist, können wir auch noch sagen, wie Jesus selbst den ihm in Jerusalem drohenden Tod angesehen hat. An mindestens fünf Stellen stoßen wir in den Evangelien auf Jesusworte, die eine Sinndeutung seines Todes enthalten. Ihre Ursprünglichkeit ist zwar heiß umstritten, aber es gibt keine triftigen Gründe, sie Jesus abzusprechen, und sie ergeben interessanterweise eine übereinstimmende Perspektive. Wenn man sich fragt, wie Jesus überhaupt dazu gekommen ist, mit seinem Tod zu rechnen, muß man sich an den Widerstand erinnern, der ihm von Galiläa an entgegengeschlagen ist (s. o.). Er ließ von Anfang der öffentlichen Wirksamkeit Jesu an ein schlimmes Ende befürchten, und Jesus hat es auch kommen sehen. Nach Lk 13,32-33 hat er zu Pharisäern, die ihm rieten, sich vor Nachstellungen seines Landesherrn, Herodes Antipas, in Sicherheit zu bringen, gesagt: „32 Geht und sagt diesem Fuchs: Ich treibe Dämonen aus und heile Kranke, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich mein Werk vollenden. 33 Doch heute und morgen und am folgenden Tag muß ich weiterwandern; denn ein Prophet darf nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen.“ Der Ausspruch bezeugt nicht nur Jesu prophetisches Selbstverständnis, sondern auch, daß er mit seinem Ende in Jerusalem gerechnet hat. Vom Prophetenmord in Jerusalem spricht sowohl das Alte Testament (vgl. nur Jer 26,8-11; 2.Chron 24,21) als auch die frühjüdische Prophetenlegende. Außerdem muß man sich daran erinnern, daß z. Z. Jesu die Erinnerung an die jüdischen Märtyrer lebendig war, die unter dem syrischen König Antiochus Epiphanes (175-164/63 v. Chr.) lieber in den Tod gegangen waren als das Gesetz zu brechen. Nach dem zweiten und vierten Makkabäerbuch haben sie Gott angefleht, ihr Tod möchte Israel nicht zum Schaden, sondern zum Segen gereichen (vgl. 2.Makk 3,37-38; 4.Makk 6,29; 9,23-24; 12,18; 17,20.22; 18,4). Auch das Gebet der drei Männer im Feuerofen aus Dan 3 (in der griechischen Fassung der sog. Septuaginta) läßt diesen Gedanken erkennen. Es heißt dort: „39 … laß uns mit … demütigem Sinn bei dir Aufnahme finden, genauso als kämen wir mit Brandopfern von Widdern und Stieren und Tausenden fetter Lämmer. 40Solcherart gelange heute unser Opfer vor dein Angesichts und entsühne deine Anhänger; denn die auf dich vertrauen, werden nicht zuschanden.“ Jesus war ein frommer Jude und war angesichts des ihm vor Augen stehenden gewaltsamen Todes von ähnlichen Gedanken bewegt wie jene Märtyrer. Wenn man versucht, Jesus solche Überlegungen abzusprechen und alle gleich zu nennenden Logien zu nachösterlichen Traditionsbildungen erklärt, nimmt man Jesu Lehre ihre jüdische Eigenart.

3.1

Die Urform der sog. Leidensweissagungen Jesu (vgl. Mk 8,31-33; 9,31-32; 10,32-34 par) ist in einem Spruch Jesu zu sehen, der gelautet hat: „Der Sohn des Menschen wird den Menschen (von Gott) ausgeliefert werden“ (Mk 9,31). Im Hintergrund dieses Ausspruches stehen sehr wahrscheinlich zwei Stellen aus dem Jesajabuch. Die erste ist Jes 43,3-4: „43,3 Denn ich, Jahwe, bin dein Gott, der Heilige Israels ist dein Helfer. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld hin, Kusch und Saba an deiner Statt. 4 Weil du mir so teuer bist in meinen Augen, so wertgeschätzt, und ich dich liebe, gebe ich Menschen für dich hin und Völker für dein Leben.“ [Die Jesajarolle aus Höhle 1 von Qumran vor “Menschen“ den Artikel, so daß man lesen kann: “den Menschen”]. Jes 43,3-4 ist im antiken Judentum auf das Endgericht gedeutet worden, in dem die Gottlosen zugunsten Israels als Lösegeld in den Tod gegeben werden (vgl. z.B. lQ34 f. 3; 1,5). Wenn Jesus diese Deutung gekannt hat, ist er als der Mensch(ensohn) bewußt an die Stelle dieser Gottlosen getreten. Die zweite Stelle stammt aus Jes 53,12. Hier heißt es von dem im Auftrag Gottes stellvertretend für Israel (und die Heiden) leidenden Gottesknecht: „Darum will ich ihm die Vielen als Anteil geben, und die Mächtigen fallen ihm als Beute zu dafür, daß er sein Leben in den Tod dahingegeben hat und unter die Übeltäter gezählt ward, während er doch die Schuld der Vielen trug und für die Sünder eintrat.“ Erkennt man die Berührungen zwischen Mk 9,31 und den beiden Zitaten aus dem Jesaja-Buch, kann man sagen: Jesus hat .sein Leben als das von Gott zur Hingabe für Israel ausersehene Lösegeld angesehen und sich selbst bei seinem Gang ins Leiden als den für das Gottesvolk (und die Heiden) leidenden Gottesknecht verstanden.

3.2

In Mk 10,45 und Mt 20,28 ist folgendes Jesuswort überliefert, das die eben getroffene Feststellung bestätigt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Auch dieser Ausspruch speist sich aus Jes 43,3-5 und 53,12 und bestätigt, daß Jesus mit seinem gewaltsamen Tod gerechnet und sein Leben als das von Gott selbst zur Auslösung seines Volkes aus Sündenschuld ausersehene Lösegeld angesehen hat. Warum diese Auslösung nötig war, lehrt Mk 8,37 (vgl. mit Ps 48,8-9). Jesus erklärt hier, daß kein Mensch sein durch Sündenschuld verwirktes Leben im Endgericht durch ein selbst aufgebrachtes Lösegeld wird auslösen können. Diese endgerichtliche Perspektive gibt der ganzen auf den Christus Jesus bezogenen Opfertradition ihren Heilssinn: Rettung gibt es für das um seiner Sünden willen im Endgericht vom Vernichtungsurteil bedrohte Gottesvolk (und die Heiden) nur, wenn Gott selbst ein Lösegeld für sie alle bereitstellt und wirksam macht. Eben dieses Lösegeld sollte und wollte Jesus selbst sein.

3.3

Von hier aus ergibt sich nun auch eine erstaunliche Verbindung zur Tempelreinigung. Bei dieser messianischen Zeichenhandlung ist Jesus in der Königlichen Säulenhalle gegen den Handel (mit Tauben und Opfermaterie) sowie den Geldwechsel eingeschritten (vgl. Mk 11,15; Mt 21,12; Joh 2,14). Das Wechselgeschäft war nötig, weil alle wichtigen Käufe und Abgaben im Tempel in tyrischer Währung getätigt werden mußten; sie war damals besonders wertbeständig. Ohne tyrisches Geld konnten die Pilger weder Sonderopfer bezahlen, noch auch die Tempelsteuer entrichten. Zur jährlichen Zahlung dieser Steuer waren alle erwachsenen Juden verpflichtet, weil sie im Lichte von Ex 30,12 als Lösegeld für die Israeliten angesehen wurde. Heiden durften sich an dieser Steuer nicht beteiligen. Aus den Mitteln dieser Steuer wurde u. a. das von den Priestern an jedem Morgen und jedem Abend im Tempel für Israel darzubringende „immerwährende Brandopfer“ (Tamidopfer) bezahlt (vgl. Ex 29,38-42 und Num 28,3-8). Es bestand aus jeweils einem Schafwidder und einigen Zugaben. Nach Jub 6, 14; 50,11 wurde Israel durch die Darbringung eben dieses Sündopfers am Morgen und am Abend der Sündenvergebung teilhaftig und so vor dem Vernichtungsgericht bewahrt. Mit seinem in Mk 11,17 überlieferten Ausspruch: „Steht nicht geschrieben: ‘Mein Haus soll ein Bethaus sein für alle Völker’? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.“ spielt Jesus nicht nur auf Jes 56,7 an, sondern auch auf Jer 7,11, also ein Wort aus der Scheltrede des Propheten Jeremia gegen die Tempelpriesterschaft. Offenbar hat er den in Jerusalem ohne Rücksicht auf seine Botschaft betriebenen Opferkult als illusionär angesehen. Jesu symbolischer Versuch, den Handel mit Opfertieren und die Entrichtung der Tempelsteuer in tyrischer Währung zu unterbinden, erklärt sich am besten, wenn er zu der Überzeugung gekommen war, Israel könne nur noch durch ein einziges Lösegeld aus seiner Sündenschuld vor Gott ausgelöst werden, nämlich durch Jesu eigene stellvertretende Lebenshingabe für „die Vielen“ (vgl. Jes 53,12). Der innere Zusammenhang zwischen Mk 8,37; 10,45 und 11,15-17 zeigt, daß Jesus sein Leiden und seinen Tod vom Gedanken des von Gott gewollten Sündopfers und der Hingabe des Gottesknechts für Israel her verstanden hat. Rettung im Endgericht gab es für das Gottesvolk, das von einer unbußfertigen Priesterschaft angeführt wurde, nur noch durch die Umkehr zu Jesu Person und Botschaft sowie die stellvertretende Lebenspreisgabe des messianischen Gottessohnes selbst.

3.4

Die Stiftungsworte, mit denen Jesus beim Abschiedspassamahl mit den Zwölfen das Herrenmahl eingesetzt hat, Mk 14,22.24, bestätigen diese Sicht. Sowohl das Brotwort als auch und vor allem das Kelchwort sprechen von der Opferweihe Jesu zugunsten seiner Tischgenossen; sie lauten: „Nehmt, das ist mein Leib.“ Und: „Das ist mein Bundesblut, das für viele vergossen wird.“ Im Hintergrund des Kelchwortes stehen Ex 24,8; Jes 53,10-12 sowie Jer 31,31.34. Wir stehen damit wieder vor der für Jesus charakteristischen Verschränkung von Sühne- und Gottesknechtstradition. Indem sie von dem Brot essen, das Jesus ihnen bricht, und aus dem einen Kelch trinken, den er ihnen reicht, erhalten die Zwölf Anteil an ihm selbst, der stellvertretend für sie in den Tod geht. Jesus weiht sich für sie dem Tode, um sie einzustiften in den (neuen) Bund, der dem am Sinai von Gott mit Israel gestifteten (alten) Bund entspricht. Nach Jes 25,6-9 wird der neue Bund in dem großen messianischen Dankopfermahl gefeiert, das Gott selbst für alle Völker auf dem Zion anrichten wird. Auf dieses Mahl hat Jesus bei der letzten Mahlfeier mit seinen Jüngern vorausgeschaut (vgl. Mk 14,25; Mt 26,29; Lk 22,18).

4. Ergebnis

Die angeführten Belege aus den synoptischen Evangelien zeigen mit wünschenswerter Deutlichkeit, daß Jesus selbst seine Jünger gelehrt hat, wie sein Leiden und das Kreuz auf Golgatha als rettendes Handeln Gottes für Israel und alle Menschen zu verstehen sei. Die Jünger haben sich an diese Lehre erinnert, als sie durch die Erscheinungen des auferstandenen Christus Gewißheit darüber empfangen hatten, daß Gott Jesu Opfergang ans Kreuz bestätigt und ihn in den Himmeln zum „Herrn und Messias“ eingesetzt habe (vgl. Apg 2,36; Röm 1,3-4). Fortan bildete das ihnen geoffenbarte Evangelium von dem “für uns” gestorbenen Christus (vgl. 1Kor 15,3b-5) den Kern und Maßstab ihrer Verkündigung.

Aus: Peter Stuhlmacher, Was geschah auf Golgatha?, Stuttgart (Calwer Verlag) 1998, 20-32. Vgl. außerdem: Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des NTs, Bd. 1, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2005, §§ 9-11.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Samstag 15. November 2008 um 16:44 und abgelegt unter Theologie.