Zivilcourage
Mittwoch 5. November 2025 von Pastor Dr. Stefan Felber

1. Anlaß und Lage
Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck sagte 1864 zu seinem engsten Freund:
„Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, daß es ganz achtbaren Leute an Zivilcourage fehlt.“[1]
Wie sieht es aus mit dem Mut zum Widerspruch? Nach Bismarck ist Mut da, wenn es auf dem Schlachtfeld um Leben und Tod geht, aber im bürgerlichen Leben ist der Deutsche doch ein harmoniebedürftiger Typ, der sich gerne an die Mehrheit anschließt. Das aber machte ihn anfällig für politische Abenteuer. Eben deshalb hat Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler nach 1945, einmal in einer Kölner Rede festgestellt, das größte Problem der Deutschen sei ihre Obrigkeitshörigkeit – und diese resultiere aus einer „falschen Auffassung vom Staat, von der Macht und von der Stellung der Einzelperson“.[2]
Im Ausland wird mit Sorge die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland beobachtet. Vor einer Woche wurde wegen eines fast zwei Jahre alten ironischen Tweets des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz eine kleine Hausdurchsuchung durchgeführt. Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Nessler kommentiert diese und ähnliche Vorgänge so: „Wir sind auf der abschüssigen Bahn von einem Rechtsstaat hin zum Einschüchterungsstaat.“ Um so mehr ist es wichtig, daß wir uns hier ermutigen, die Wahrheit nicht zurückzuhalten, und ggfs. Gefängnis und Enteignung riskieren müssen, wenn uns die Ewigkeit wichtiger ist als die zeitlichen Güter.
Es geht aber nicht nur um die Ewigkeit, sondern auch um die irdische Freiheit. Wer sich in den Tagen des Reformationsgedenkens den Weg der Kirche im 16. Jahrhundert vergegenwärtigt, merkt rasch, daß es ohne den Freimut (Luthers und anderer Reformatoren), kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten kritisch gegenüberzutreten, keinen Fortschritt für die Freiheit und letztlich für den Wohlstand unseres Landes gegeben hätte. Es war freilich nicht zuerst Luther, sondern es waren die jüdischen und christlichen Märtyrer von den verfolgten Propheten des Alten Bundes über den gesteinigten Stephanus (Apg 7) bis zu den verfolgten Christen unserer Zeit, die für die befreiende Wahrheit ihr Blut vergossen und so den Boden unserer Freiheit gedüngt haben.
Der christliche Freimut, Gottes Wort ohne Menschenfurcht zu predigen, war die wirkmächtigste Wurzel der bürgerlichen Freiheiten. Die griechischen Impulse zur Demokratie, die im Geschichtsunterricht an unseren Schulen hochgehalten werden, versandeten in den Militärdiktaturen der Griechen und Römer. Während die römischen Kaiser göttliche Verehrung beanspruchten, verlangte das Christentum vom Staat religiöse Zurückhaltung. Es dauerte lange, bis Könige und Kaiser begriffen, daß sie bei der Besetzung von Bischofsstühlen nicht mitreden sollten. Völlig abgeschlossen ist der Prozeß immer noch nicht (ein gewisses Mitspracherecht haben die Länderregierungen bei Bischofsbesetzungen bis heute; siehe hiergegen die These 90 in unseren neuen 95 Thesen). Teilweise bewegt sich der Prozeß der Entflechtung von Kirche und Staat wieder in die Richtung einer neuen Verflechtung, denken wir nur an die Prozesse gegen Olaf Latzel und Päivi Räsänen in Finnland (vorgestern life zu verfolgen!) – darum ist es so wichtig, daß wir uns über hier über die christliche Freiheit verständigen. Zivilcourage brauchen wir, nicht eine von oben gelenkte Zivilreligion![3] Wer Demokratie sichern will, fördert das biblische Christentum. Wer aber einer staatlich gelenkten Zivilreligion das Wort redet, fördert den alten Totalitarismus.
Die Religionsfreiheit ist laut Grundgesetz (Art. 4) das am stärksten gesicherte Grundrecht in Deutschland. Wenn Christen den Mut verlieren, ihre Freiheit auch zu nutzen, wird dieses Grundrecht über kurz oder lang ausgehöhlt werden. Dafür gibt es manche Anzeichen. Prominent hat der US-Vizepräsident auf dieses Problem in Europa hingewiesen (Vance in München) und leider dafür mehr Unverständnis als Zustimmung geerntet. Von Seiten der evangelischen Kirche wäre eigentlich großes Verständnis zu erwarten, denn „mutig – stark – beherzt“ lautete das Motto des letzten Kirchentages (Mai 2025). Aus den Kirchenämtern kommen jedoch Signale, die mehr an die Losungen gewisser Parteien erinnern als an die biblische Botschaft, von der Genderideologie bis hin zu einer neuen Kriegstreiberei (Befürwortung einer riesigen Aufrüstung von Kirchenleitern).
Wie wir gleich an einigen Bibelworten sehen werden, gab es im Volk Gottes schon immer Defizite, etwas anders als die die Mehrheit zu bekennen!
2. Biblische Grundlagen zu „Freimut“
Wer in der Bibel nach Impulsen für unser Thema sucht, stößt im Alten Testament auf die Aufgabe der Propheten, dem Volk und den geistlichen und weltlichen Obrigkeiten unverfälscht das Wort Gottes zu sagen, und im Neuen Testament auf den Begriff „Freimut“, griechisch parrhäsia, was für Offenheit, Mut, tapferes Aussprechen der Wahrheit steht. Der Prophet Micha konnte sagen (3,8):
Ich aber bin voll Kraft, voll Geist des Herrn, voll Recht und Stärke, daß ich Jakob seine Übertretung und Israel seine Sünde anzeigen kann.
Das Wirken der Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel könnte als positives Beispiel dienen; jeder von ihnen hätte einen eigenen Vortrag verdient! Lassen Sie mich aber um der Kürze willen nur drei kleine und feine Fenster in die biblische Thematik öffnen: ein alttestamentliches, ein neutestamentliches und ein gesamtbiblisches Beispiel.
a) Klagelieder 2,14[4]
Deine Propheten haben dir trügerische und törichte Gesichte verkündet und dir deine Schuld nicht offenbart, wodurch sie dein Geschick [LXX: deine Gefangenschaft] abgewandt hätten, sondern sie haben dich Worte hören lassen, die Trug waren und dich verführten.
„Deine Propheten“ – wie das? Der Vers zeigt: Das Wirken der Propheten, deren Wort in die Heilige Schrift gelangte, war nur eine Minderheit. Die Propheten, von denen hier die Rede ist, haben wir nicht mehr. Die Mehrheit redete dem Volk nach dem Mund. Das Wort der Minderheit ist heute die Bibel!
Die Klagelieder Jeremias blicken auf die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier zurück. Der Tempel ist zerstört, König und Oberschicht sind weggeführt. Nun, Anlaß zu Haß und Anklage zwischen den Völkern? Nein! Haß gegen die Babylonier? Nein! Voller Trauer und Selbstanklage gibt Israel sich selbst die Schuld für den Verlust der Freiheit. Es ist eine der ausführlichen Bußlitanei des Alten Testaments.
Im vorangehenden Vers 13 fragt Jeremia: Mit was soll ich das Unglück der Tochter Zions vergleichen? Antwort: „Dein Schaden ist so groß wie das Meer“, also unermeßlich groß! Und die zweite Frage: Wer kann dich heilen? Antwort: niemand, kein Mensch (vgl. Jer 30,12ff.).
Dritte Frage: Wie kam es zu dem grauenhaften Versagen? Die ausdrückliche Antwort: „Sie – deine Propheten – haben Deine Schuld nicht offenbart“. Damit haben die falschen Propheten einen ganz unaufgebbaren Aspekt ihres Auftrags verfehlt: Sie wollten nur das Angenehme weitergeben. Sie wollten Frieden verkündigen, sie wollten geliebt sein, sie wollten Karriere machen. Aber sie hätten wissen und aufdecken müssen, daß im gesetzlosen Verhalten der Abfall vom Schöpfer und so der Tod verborgen lag. In den Geboten Gottes ist es aufgedeckt! Die Tora hat den Weg zum Leben gewiesen! Doch Propheten und Priester, die Kirchenleiter des Alten Bundes, wollten geliebt sein. So verzichteten sie darauf, Buße zu predigen und zu sagen: Kehrt um, sucht den Herrn und Schöpfer, nicht die Furchtbarkeitsgötter, sucht den guten Hirten, nicht die Götter der schnellen Lust, flieht zu dem, dem alles Geld gehört, statt zum Reichtum selbst!
Die Klagelieder greifen auf andere Prophetenworte zurück:
Jes 58,1:
Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!Â
Jer 2,8: Die Priester fragten nicht: Wo ist der Herr?, und die Hüter des Gesetzes achteten meiner nicht, und die Hirten wurden mir untreu, und die Propheten weissagten im Namen des Baal und hingen den Götzen an, die nicht helfen können.Â
Hes 22,28: Und seine Propheten streichen ihnen mit Tünche darüber, haben Truggesichte und wahrsagen ihnen Lügen; sie sagen: »So spricht Gott der Herr«, wo doch der Herr gar nicht geredet hat.Â
Auch darum, liebe Freunde, wollen die neuen 95 Thesen Worte der Buße sein, wie die 95 Thesen Luthers gegen den käuflichen Sündenablaß. Unsere Thesen sollen ein Amt ausüben, das von den Predigern lange vernachlässigt wurde: Die guten Gebote Gottes werden verschwiegen, und viele Predigten sind mehr Psychotherapie und Bauchpinselei als Wort Gottes. Bei Jeremia hieß es „Friede, Friede – und ist doch nicht Friede“. Kein Ablaß, keine CO2-Steuer, keine Zivilreligion mit ihrer billigen Sozialromantik wird den Frieden mit Gott bringen, geschweige den Frieden in der Gesellschaft. Gottes Segen gibt es nur auf Gottes Wegen, wie es die Klagelieder hier in aller Klarheit zusammenfassen.
b) Apostelgeschichte 4,18–31: 3 x „Freimut“
13 Sie (die jüdische Obrigkeit) sahen aber den Freimut des Petrus und Johannes und wunderten sich; denn sie merkten, daß sie ungelehrte und einfache Leute waren, und wußten auch von ihnen, daß sie mit Jesus gewesen waren …
18 Und sie riefen sie und geboten ihnen, keinesfalls zu verkünden oder zu lehren in dem Namen Jesu. 19 Petrus aber und Johannes antworteten und sprachen zu ihnen: Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, daß wir euch mehr gehorchen als Gott. 20 Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.
21 Da drohten sie ihnen und ließen sie gehen um des Volkes willen, weil sie nichts fanden, was Strafe verdient hätte; denn alle lobten Gott für das, was geschehen war. 22 Denn der Mensch war über vierzig Jahre alt, an dem dieses Zeichen der Heilung geschehen war.
23 Und als man sie hatte gehen lassen, kamen sie zu den Ihren und berichteten, was die Hohenpriester und Ältesten zu ihnen gesagt hatten. 24 Als sie das hörten, erhoben sie ihre Stimme einmütig zu Gott und sprachen: Herr, du hast Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht, 25 du hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt (Psalm 2,1–2): »Warum toben die Heiden, und die Völker nehmen sich vor, was vergeblich ist? 26 Die Könige der Erde treten zusammen, und die Fürsten versammeln sich wider den Herrn und seinen Christus.« 27 Wahrhaftig, sie haben sich versammelt in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, 28 zu tun, was deine Hand und dein Ratschluß zuvor bestimmt haben, daß es geschehen sollte. 29 Und nun, Herr, sieh an ihr Drohen und gib deinen Knechten, mit allem Freimut zu reden dein Wort. 30 Strecke deine Hand aus zur Heilung und lass Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus. 31 Und als sie gebetet hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut.
Mit Freimut (parrhäsia, 10 x in Apg[5]) verkündeten die Apostel vor dem jüdischen Hohen Rat, daß Jesus der Christus ist und daß Jesus der allein seligmachende Name ist (V. 12). Die Apostel weigerten sich, darüber zu schweigen: Dieses beschweigen heißt, sich davon zu scheiden. Mit Worten aus den Psalmen und mit eigenen Worten betete die Gemeinde um Freimut. Die Bitte wird erhört, die Stätte erbebt, und sie alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt, der ein Geist des freimütigen Wortes ist: „Sie redeten das Wort Gottes mit Freimut.“[6]
Hebr 10,35: „Werft eure Parrhäsia nicht weg, die eine große Belohnung hat!“
c) „Fürchte dich nicht!
Das göttliche „Fürchte dich nicht!“ wird in der Bibel angeblich 365 Mal wiederholt; ich habe ca. 170 Mal gezählt.[7] Dieses Wort sollte uns von Tag zu Tag furchtlos durchs Leben gehen lassen! Am häufigsten finden wir es bei Jesaja[8], etwa in dem wunderbaren Trostwort: „Fürchte dich nicht – ich habe dich bei deinem Namen gerufen – du bist mein!“ (43,1) Das heißt: Du gehörst nur mir, dem Guten Hirten – keinem anderen! Von Abraham zieht sich über Isaak, Jakob, Mose, Jesaja eine große Linie zu Paulus ins Neue Testament. Sie alle durften hören: Fürchte dich nicht!
Paulus mag anfangs Bedenken gehabt haben, in Korinth zu missionieren. Diese Stadt war ein großer moralischer Sumpf, sexuell total verkommen, auf dem Tempelberg waren ungezählte öffentliche Prostituierte im Dienst für die Göttin Aphrodite angestellt; ein Drittel der Bevölkerung waren Sklaven: Leute, die kaum Zeit hatten, über die Dinge des täglichen Bedarfs hinaus zu denken. – Sollte da Predigen etwas bewirken? Da sprach Jesus nachts in einer Vision zu Paulus: „Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ICH bin mit dir …“ (Apg 18,9f.): der Immanuel!
So brauchen auch wir keine Angst vor katastrophalen Zuständen und verkommenen Hirnen zu haben, weder in der Welt noch in der Kirche. Wir haben einen klaren Auftrag und ein unumstößliches Mittel, das sogar den Teufel besiegt: Gottes Wort ist wie Dynamit. Es schmilzt kalte Herzen, es kann Tote lebendig und steinerne Herzen weichmachen. Wo Gottes Wort weitergegeben wird, sind überirdische Kräfte am Werk.
Zum letzten Mal hören wir in Offb 1 das „Fürchte dich nicht!“ unseres Herrn:
„Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle. Schreibe, was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach“ (V. 18–19).
Spurgeon sagte: „Die Angst überlassen wir denen, die keinen himmlischen Vater haben.“
3. Die 95 Thesen Luthers und andere 95 Thesen
In der Wittenberger Stadtkirche hielt Luther seine Predigt gegen den Ablaß (Sermon von Ablaß und Gnade); hier fand zum ersten Mal ein Gottesdienst in deutscher Sprache statt.
Das Vermächtnis der Reformation stellt auch uns vor die Frage: Ist mit der Wahrheitserkenntnis auch ein mutiges Wahrheitsbekenntnis verbunden? Oder verstecken wir es für uns selbst?
Wollten wir das tun, dann wäre alles umsonst gewesen. Die biblische Freimut, bürgerlich gesagt: unsere Zivilcourage, gehört notwendig zum Glauben. „Ich glaube, darum rede ich“, schreibt Paulus den Korinthern (2. Kor 4,13). Mystisches Sich-Versenken ist der falsche Weg. Den modernen Menschen, der psychisch so labil und angeschlagen ist, immer noch mehr bestätigen, ist der falsche Weg, eben der, den die Klagelieder so betrauern!
An die Epheser schreibt er (5,10–11):
10 Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, 11 und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf.
In seinen 95 Thesen wollte Luther aufdecken, was dem Glauben einen tiefen Schaden beifügt: Er hat die akademische Theologie eingeladen, zu diskutieren, ob nicht die Käuflichkeit der Sündenvergebung eine Verachtung des Kreuzes Christi darstellt. Es hat große Wellen geschlagen, aber es gab gewaltige Widerstände und es bedurfte großer weiterer Anstrengungen, bis es zu wirklichen Reformen zumindest in Teilen der katholischen Kirche kam, die sich dann von Rom lösen mußten.
Letztlich gab es nur Teilerfolge. Das gilt auch für die Thesen späterer Zeit:
- In den 95 Thesen, die der Kieler Pastor Claus Harms zum Reformationsjubiläum 1817 veröffentlichte, wandte er sich gegen die Unterordnung des Glaubens unter den „Zeitgeist“, wie er es damals schon nannte (seine 1. These). Daß man Gott vom Richterstuhl herabgezogen und jeden sein eigenes Gewissen hinaufgesetzt hat, habe nur geschehen können, weil die Kirche ihr Wächteramt nicht wahrgenommen hat (Harms‘ These 14). An die Stelle der „Gottesfurcht“ sei das (damals hochgehaltene) individuelle Gewissen getreten; die Vorstellung von göttlichen Strafen sei damit verschwunden (Thesen 16 bis 19). Tugendlehre und Glaubenslehre, Glaube und Leben gehören zusammen (These 25 und 26); das Leben habe sich nach dem Wort Gottes zu richten und nicht umgekehrt; wer die Vernunft über die Offenbarung stellt, sehe den Mond für die Sonne an (These 33). These 66 spricht eine Not aus, die wir auch heute haben:
„Vertrauen kann das Volk nicht haben zu den Oberkommissarien der Kirche, davon mehrere in dem Geschrei stehen, daß sie selber den Glauben der Kirche nicht haben.“
Schon Harms hat gesehen: In den oberen Etagen der Kirchenleitungen ist die geistliche Luft dünner. Die Mutlosigkeit der Bischöfe, den alten wahren Glauben zu bekennen, führt zum Exodus der Gläubigen, ohne daß man die Ungläubigen gewinnt (These 81), und letztlich zu neuen Spaltungen.
- 1996 haben einige Pastoren ebenfalls in Wittenberg 95 neue Thesen an die Tür der Schloßkirche geschlagen (man kann die Aufnahme davon immer noch auf Youtube sehen). Angesichts einer um sich greifenden Sittenlosigkeit – genannt werden Homosexualität, Pornographie, Abtreibung, Euthanasie, Drogenfreigabe (These 27) –, forderten sie eine neue Entschlossenheit der Kirchen, Licht und Salz zu sein (These 11) und ihr Wächteramt mutig wahrzunehmen (These 12). Diese Thesen von 1996 befürchten gar ein Zerfallen von Staat und Gesellschaft, wenn die Autorität der Bibel, besonders aber Gottes Gebote weiter mit Füßen getreten werden (Thesen 10. 85. 86). Die Situation der Klagelieder, die wir eingangs gehört haben, leuchtet wieder auf. Eine Kirche, die sich den Tagesparolen der Politik von rechts oder links anpasse, werde überflüssig (These 36). Eine solche Kirche suche Einheit nicht mehr in der Wahrheit, sondern die Wahrheit in der Einheit. Echte Einheit sei aber nur möglich, wenn die Bibel als Wort Gottes wieder ernst genommen wird (These 64).
- Mit den neuen 95 Thesen des Jahres 2025 stellen wir uns in diese Tradition der Reformen. Wir ziehen uns nicht zurück[9] aus den Problemen der Welt und suchen eine heile Gemeinde, die es nicht gibt. Nein, entgegen der Feigheit in den eigenen Reihen und der Furchtsamkeit unseres Fleisches ermuntern wir einander und alle, die es hören: Fürchtet euch nicht!
Zu den Irrtümern und Irrlehren, die unsere Geschwister in den vergangenen 95 Thesen angeprangert haben, ist nun auch noch die Gender-Ideologie getreten, die eine kräftige Antwort und Zurückweisung verlangt. Unsere These 68 (!) lautet: „Jeder Mensch trägt das Bild Gottes als entweder Mann oder Frau.“ Wegen der voranschreitenden Relativierung bieten die Thesen 36 bis 54 eine ausführliche Würdigung der Heiligen Schrift als dem unfehlbaren Wort Gottes.
Alle diese Thesen sind Ausdruck eines mutigen Bekennens – und sie fordern wieder ein mutiges Bekennen ein. So ist auch die Struktur des Wortes Halleluja, das ist die Aufforderung „Lobet den Herrn!“: Wird diese Aufforderung bfolgt, so geht die Aufforderung wiederum an den Nächsten – mit dem Ziel, daß alles, was Odem hat, sagt: „Lobet den Herrn!“ (Ps 150,6).
„Wenn die Kirche sich des Evangeliums schämt, kreuzigt sie Christus und vergeht mit der Welt; wenn die Kirche das Evangelium bezeugt, wird sie gemeinsam mit Christus gekreuzigt und rettet die Welt“ (These 19, natürlich sind einzelne Angehörige der Welt gemeint und nicht ihre Gesamtheit). Und These 87: „Es ist die Pflicht der Kirche, die Regierung und alle Nächsten daran zu erinnern, daß es einen unsterblichen, allmächtigen und allein weisen Herrscher gibt: den dreieinen Gott. Er liebt das Recht, wie die Heilige Schrift oft sagt, und er bestraft die Übertretung seiner guten Gebote.“
4. Zivilcourage und biblischer Freimut!
Nicht nur die Bibel, auch die Kirchengeschichte ist voll von Beispielen, daß das mutige Bekennen gerade einer Minderheit verheißungsvoll ist. Als Kaiser Konstantin vor 1700 Jahren beschloß, seine Weltmacht lieber nicht gegen die Christen, sondern mit ihnen zu stabilisieren, waren zwischen 5 und 10 % der Bewohner seines Reiches getauft. Diese kleine Minderheit war stärker als die vielen, die nicht wußten, auf wen sie hören und wozu sie leben sollten. Auch heute sind keine Massen gefordert, sondern wenige, die umsichtig, mit Geduld, Liebe und Sorgfalt ihren Glauben so verankern, daß er Bestand hat, auch wenn die Stürme des Lebens an ihm rütteln.
Zivilcourage heute heißt nicht, daß wir darauf rechnen, noch einmal wie ein Karl der Große mit staatlicher Macht die Menschen zur Kirche bringen zu können. Wer das erwartet, hat vom Neuen Testament nichts verstanden.
Im Gegenteil ist damit zu rechnen, daß sich die Mietlinge in den Kirchenämtern lieber der staatlichen Macht bedienen, um Kritiker loszuwerden, als sich zu bekehren und ihre Zivilreligion abzustreifen.
Die chinesischen Christen in ihrer großen Bedrängnis durch eine aggressiv atheistische Staatsreligion rufen uns zu:
„Die wahre Kirche hat keine Angst davor, obdachlos zu sein; die wahre Kirche hat Angst davor, rückgratlos zu sein.
Christus wurde am Kreuz ‚in der Luft‘ aufgehängt. Das zeigt, daß die Welt keinen Ort für Christus hat. Doch Jesus hat die Welt besiegt und die Welt zu Gott gezogen.“[10]
Darum laden wir herzlich dazu ein, die neuen 95 Thesen zu bedenken, zu unterzeichnen und sich so in die Geschichte der bisherigen Thesen zu stellen. Und wir fordern Synodale und Kirchenleiter auf, eine biblisch begründete Antwort zu geben! Vielleicht erweist es sich, daß Bismarck und Adenauer mit ihren Urteilen über die Deutschen doch noch Unrecht haben, wenigstens, soweit es die Christen betrifft.
Pastor Dr. Felber, Wittenberg am 1.11.2025
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Relevante Luther-Quellen:
- Brief an Conrad Cordatus, Prediger in Zwickau, 10.7.1531: Daß christliche Prediger von Amts wegen (!) schuldig sind, des Volkes Sünde zu strafen. Walch Band 10, Sp. 1606f.
- Brief an Nicolaus Hausmann, 22.3.1521: Ein Prediger muß im Schwange gehende falsche Lehre angreifen und bekämpfen, aaO. Sp. 1606–1609.
- Brief an einen gewissen Stadtrat, 27.1.1543: Daß man Seelsorger darum, daß sie öffentliche Laster hart strafen nicht absetzen könne, aaO. Sp. 1624–1629.
- In einer Schrift an den Papst sagt Luther: Ihr könnt gar nicht genug Holz sammeln, um mich Ketzer zu verbrennen.
- Luther, Brief an den Grafen von Mansfeld: zwei Pfarrer hatten ihn kritisiert, und der Graf wollte sie amtsentheben! Luther: Die dürfen das, das ist ihre Aufgabe, und sie sollen das sogar machen. Und sie dürfen das sogar für den Fall, daß sie sich geirrt haben. Und wenn der Fürst ein ordentlicher christlicher Fürst sein will, soll er sich bei den beiden entschuldigen.
Dagegen die Botschaft des Ablaßpredigers Tetzel: Man soll die Christen lehren, daß sie alle dem Papst, der vollkommene Gewalt hat über sie, alle zu gebieten in den Dingen, die zur christlichen Religion und Kirchenregiment im Stuhl zu Rom gehören, zu dieselben öffentliche und natürliche Rechte schlecht ohne alle Widersage Gehorsam zu sein schuldig sind. - Brief an Simon, Prediger zu Eisleben, 1544, aaO. Sp. 1614–1617: Daß ein Prediger die Sünden der großen Hansen strafen müsse: Der Pfarrer darf deren Verhalten strafen, also kritisieren, sogar wenn er sich beim Kritisieren irren sollte. Es ist kein Aufruhr. Das darf dem Grafen nicht zugelassen, also erlaubt werden, also daß er nach seinem Gefallen (eigenem unhinterfragbarem Ermessen) und Zorn alles so deutet, wie er es für seine Zwecke braucht. Wer aufgrund seiner Machtposition Menschen zum Schweigen bringen will, wenn diese Kritik üben, versündigt sich an diesen mehr als die Kritiker an der Obrigkeit, selbst wenn sie sich geirrt haben sollten. Der Graf soll den Pfarrer um Entschuldigung bitten!
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[1] R. von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck, 1901, zit. nach Krüger-Lorenzen, Deutsche Redensarten, S. 295.
[2] Konrad Adenauer. Rede am 24. März 1946 in der Universität zu Köln. Vollständige Rede unter https://www.konrad-adenauer.de/seite/24-maerz-1946/ (28.10.2025). Hier ein Auszug der fraglichen Stelle mit Kontext:
„Was sind die tiefsten Gründe dafür, daß wir schließlich in einen solchen Abgrund gestürzt sind? Auf die Einzelheiten kommt es bei einer solchen Untersuchung nicht an; sie sind auch vielfach noch nicht klar gestellt, aber die tieferen, die wirkenden Ursachen dieser Katastrophe liegen klar zutage. Sie reichen weit zurück vor das Jahr 1933. Der Nationalsozialismus hat uns unmittelbar in die Katastrophe hineingeführt. Das ist richtig. Aber der Nationalsozialismus hätte in Deutschland nicht zur Macht kommen können, wenn er nicht in breiten Schichten der Bevölkerung vorbereitetes Land für seine Giftsaat gefunden hätte. Ich betone, in breiten Schichten der Bevölkerung. Es ist nicht richtig, jetzt zu sagen, die Bonzen, die hohen Militärs oder die Großindustriellen tragen allein die Schuld. Gewiß, sie tragen ein volles Maß an Schuld, und ihre persönliche Schuld, deretwegen sie vom deutschen Volk vor deutschen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden müssen, ist um so größer, je größer ihre Macht und ihr Einfluß waren. Aber breite Schichten des Volkes, der Bauern, des Mittelstandes, der Arbeiter, der Intellektuellen, hatten nicht die richtige Geisteshaltung, sonst wäre der Siegeszug des Nationalsozialismus in den Jahren 1933 und folgende im deutschen Volk nicht möglich gewesen. Das deutsche Volk krankt seit vielen Jahrzehnten in allen seinen Schichten an einer falschen Auffassung vom Staat, von der Macht, von der Stellung der Einzelperson. Es hat den Staat zum Götzen gemacht und auf den Altar erhoben. Die Einzelperson, ihre Würde und ihren Wert hat es diesem Götzen geopfert. Die Überzeugung von der Staatsomnipotenz, von dem Vorrang des Staates und der im Staat gesammelten Macht vor allen anderen, den dauernden, den ewigen Gütern der Menschheit, ist in zwei Schüben in Deutschland zur Herrschaft gelangt. Zunächst breitete sich diese Überzeugung von Preußen ausgehend nach den Freiheitskriegen aus. Dann eroberte sie nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 ganz Deutschland.“
[3] = Überschrift des Vorworts meines Buches „Kein König außer dem Kaiser?“.
[4] ESV: Your prophets have seen for you false and deceptive visions; they have not exposed your iniquity to restore your fortunes, but have seen for you oracles that are false and misleading.
[5] Verb + Substantiv: Apg 2,29; 4,13.29.31; 9,28; 13,46; 14,3; 18,26; 26,26; 28,31.
[6] Auch Paulus und Hebr nutzen den Begriff, aber meist als Verhältnis des Menschen zu Gott.
[7] Gezählt anhand „fürcht* nicht“ in Luther 2017 unter Fortlassung der Indikative und Beschreibungen.
[8] Jes 7,4; 8,12; 10,24; 11,3; 12,2; 35,4; 37,6; 40,9; 41,10.13-14; 43,1.5; 44,2.8; 51,7; 54,4.14; 57,11; 63,17.
[9] Vgl. Georg Huntemann, Zerstörung der Person, 1981; etwa S. 28: „Es gibt keine Perspektive zum Nächsten ohne die Perspektive Himmel. Im biblischen Bund wird der Nächste nicht geliebt, weil er liebenswert und sympathisch ist, sondern weil Gott es gebietet, und Gott gebietet es, weil er den Menschen geschaffen hat. Nicht aneinander halten wir uns fest, sondern die Arche unseres Menschseins ist am Felsen Gottes festgebunden – dieser Bund rettet unser Leben.“ Und S. 30: „Gering unter Christen ist heute die Bereitschaft, die Herausforderung der Moralrevolution überhaupt zu sehen, noch geringer ist der Wille, auf die Herausforderung zu antworten! Auch sich selbst als gläubig verstehende Gemeinden beschreiten einen Rückzug aus den Problemen der Welt, der im Egoismus eines Religionskonsums seine erste und in der Feigheit zum Zeugnis seine zweite Ursache hat. Verkündigung und Kampf mit der Macht des Bösen sind einander zugeordnet. Wir können den Versuchten, Verlorenen und Angefochtenen nicht helfen, wenn wir ihre Herausforderung, mit der sie täglich in der uns umgebenden Welt indoktriniert und konfrontiert werden, nicht auch zu unserer Herausforderung machen.“
[10] Jin Mingri, in: Wang Yi u.a. (Hg.), Treuer Ungehorsam. Chinas verfolgte Christen. Erste öffentliche Texte der Hauskirchen zu Staat und Kirche, 2024, S. 105.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 5. November 2025 um 9:20 und abgelegt unter Gemeinde, Gesellschaft / Politik, Kirche, Theologie.











