Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

„Es steht geschrieben …“ Wie Luther durch die Autorität und die Einheit der Heiligen Schrift zur Reformation geführt wurde

Samstag 1. November 2025 von Pastor Dr. Stefan Felber


Pastor Dr. Stefan Felber

Zum  Vortrag auf Youtube (ab 01:43).

1. Das Leben mit und aus der Schrift: Reformator wider Willen

Als Luther im Jahr 1505 an die Pforte des Augustinerklosters in Erfurt pochte und Einlaß begehrte, war in keiner Weise absehbar, daß mit ihm eine theologische Zeitbombe heranwachsen würde. Denn Luther nahm die Verpflichtungen im Kloster ungeheuer ernst. Eine Zeit der Prüfung begann: Man wollte den Kandidaten erst genau kennenlernen und sehen, wie ernst er sein Gelübde nehmen würde. Eine Generalbeichte mit Rückschau auf das ganze Leben gehörte dazu.

Erst nach seinem Eintritt informierte Luther seine Eltern über seinen Schritt. Sie waren tief getroffen. Der Vater wäre fast verrückt geworden. Er kündigte Martin die väterliche Treue und änderte die Anrede vom respektvollen Sie zurück zum herablassenden Du! Nachdem zwei Brüder Martins an der Pest gestorben waren und Bekannte sich vermittelnd eingeschaltet hatten, gab der Vater jedoch sein Einverständnis.

Kurzum: Luther ging überhaupt nicht mit dem Ziel, Reformator zu werden, ins Kloster. Was aber wollte er? Die Frage wurde ihm gestellt bei der Aufnahme als Novize, vor den versammelten ca. 50 Mönchen. Der Vorsteher (Prior) saß auf den Stufen des Altars. Der Bewerber mußte sich vor ihm niederwerfen. Der Prior fragte:

Was begehrst du?
Der Novize: „Gottes und Eure Barmherzigkeit“.

Der Prior ließ ihn aufstehen und fragte:
Bist Du verheiratet?
Bist du unfrei?
Bist du mit einer heimlichen Krankheit behaftet?

Dann stellte er dem Kandidaten die Härte des Ordenslebens vor Augen: kein eigener Wille, einfache Nahrung, rauhe Kleidung, nächtliches Wachen, Schande des Bettelns, Ermattung durch Fasten, Einsamkeit.[1]

Luther mit vollem Ernst: „Ich bin bereit.“

Auf diese Weise wollte er für sich „Gottes und Eure Barmherzigkeit“ erlangen. Irgendwelche Absichten, als Reformator in die Geschichte einzugehen? Fehlanzeige.

Die Regeln, denen er sich unterwarf, schnitten jede Wirksamkeit in die Welt oder in die Kirche hinein ab: Ohne Erlaubnis des Novizenmeisters durfte man nicht mit anderen sprechen. Unnötige Gespräche über die Regeln waren verboten, ebenso Gespräche über die Verwandtschaft. Beim Gehen sollte der Blick nach unten gerichtet sein. Trinken durfte man nur im Sitzen und mit beiden Händen am Gefäß. Untersagt war der Kontakt mit Gästen und Kranken. Briefe und Geschenke durften ohne Erlaubnis weder verschickt noch empfangen werden. Luther hat mehrfach während dreier Tage weder einen Tropfen Wasser noch einen Bissen Brot zu sich genommen: Nicht nur der Besitz, sondern auch der Leib wurde auf diese Weise geopfert.

Nichts, gar nichts deutete darauf hin, daß eine kraftvolle kirchliche und theologische Zeitbombe tickte. Und doch war Feuer an den Zünder gelegt!

Wie kam das?

Gott wirkte hier ausgerechnet durch die Pflichtlektüre. Die Novizen mußten die Ordensregeln und die Bibel wieder und wieder lesen. Vor der Priesterweihe mußte er einen dicken Folianten[2] durcharbeiten, in dem die Meßliturgie erklärt wurde, außerdem mußten die Sentenzen des Petrus Lombardus – das Grundbuch der scholastischen Theologie – gründlich studiert werden, und Luther konnte noch in späteren Jahren auswendig die Kommentare dazu zitieren.[3]

Ausdrücklich war bestimmt, daß die Bibel begierig gelesen, fromm gehört und sich brennend angeeignet werden sollte. Das, liebe Freunde, war der Zünder, das war die stete Zufuhr, die Luther zu einem ungeheuren Vulkan machte!

Mit dem Ablegen der Gelübde und mit dem Einhalten all der Klosterregeln hoffte Luther, Gott näher zu kommen. Nach der gängigen Anschauung wird der Mönch durch die Klostergelübde in den Stand der Gnade versetzt. Freilich, so stabil war der Zustand nicht. Luthers sensibles Gewissen meldete ständig, er habe den neuen Gnadenstand durch mangelhafte Demut, unreine Gedanken usw. wieder verloren. Er versuchte, häufig zu beichten und die Stundengebete penibel einzuhalten, um sich das Heil zu sichern. Einmal hat er eine sechsstündige Beichte abgelegt. Es kam auf Vollständigkeit an! Sowie einem eine Sünde einfiel, lief man zurück zum Priester. „Wir machten die Beichtväter müde“, schreibt er später.[4] Auch von Staupitz, einer seiner erfahrenen Beichtväter, konnte Luther keinen Trost mehr empfangen.

Bald konnte er die Psalmen, die die Augustiner jede Woche komplett durchbeteten, auswendig, so daß er einen ungeheuren Schatz für Gebet und Theologie mit sich tragen konnte. Aber er merkte, es fehlt beim Beten die Gewißheit des Herzens, es fehlt das getroste Amen. Wenn Beten aber Leistung ist, wer kann dann schon sagen, ob diese Leistung einen zornigen Gott versöhnen kann?

Luther nahm die Stundengebete sehr ernst, und zwar nicht nur, daß man mit vollem Bewußtsein beten sollte, sondern auch daß ihre Quantität, ihre Anzahl! Wegen seiner Lehrverpflichtungen war er oft im Rückstand. Ein Mitmönch las alles doppelt, um den Rückstand aufzuholen, ein anderer bezahlte andere dafür, daß sie stellvertretend die Gebete verrichteten. Das tat Luther nicht, sondern versuchte, alles selbst nachzuholen. Er schloß sich am Wochenende ein, fastete und holte die versäumten Gebete nach. Wegen der zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Papst kam er aber immer weiter in Rückstand. Noch 1520 versuchte er, seiner Ordensregel treu zu sein. Da betrug der Rückstand ein ganzes Vierteljahr. Eine letzte Anstrengung hatte eine schwere Erschöpfung mit Schlaflosigkeit und Sehstörungen zur Folge – daraufhin gab Luther die Stundengebete auf. Vom Leistungszwang wußte er sich zu dieser Zeit ohnehin bereits frei.

Das Bild von 1520 zeigt eine reichlich ausgemergelte Gestalt! Erst später, als Katharina von Bora in sein Leben getreten war, wurde er fülliger …

Damit, liebe Freunde, ist das mittelalterlich-mönchische System, dieses intensive und extensive Beten und Beichten, an sein Ende gekommen, und zwar genau an einer solchen Person, die das System sehr exakt einhalten wollte. Alle menschliche Leistung kann keine Gewißheit erzeugen – das steht uns Protestanten heute wie selbstverständlich und allzu billig vor Augen. Luther aber mußte es erst aus der Bibel lernen und im Herzen spüren: „Die guten Werk die halfen nicht“, und: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren …“

Wie fand Luther aus alledem heraus? Wie schon gesagt, hatte Luther nicht die Absicht, Reformator zu werden, und er hatte auch nicht vor, ein Lehrer der Bibel zu werden[5], wie es dann in Wittenberg geschah mit der Lectura in Biblia, der biblischen Professur, bei der er hauptsächlich alttestamentliche Bücher auslegte. Er wollte Gott gefallen. Darum mußte er sich in die Bibel vertiefen. Er hat nicht am Schreibtisch philosophierend neue Erkenntnisse formuliert. Er hat existentiell gespürt, daß das System der Werkerei nicht zur Gewißheit und nicht zur Seligkeit führen wird.

Doch was war mit der Bibel los in seiner Zeit, wie gut hat man sie überhaupt gekannt? Gelesen hat man viel mehr die Schriften der großen Lehrer und Scholastiker, aber die Bibel, sagt Luther, blieb unter der Bank.

Es war wie heute im Theologiestudium. Man kann seine exegetische Seminararbeit im wesentlichen mithilfe der Sekundärliteratur (oder neuerdings mit künstlicher Intelligenz) bestreiten und eine gute Note erhalten. Das eigene Hirn, ja die Bibel selbst wird immer irrelevanter.

Auch im ausgehenden Mittelalter, in den Klöstern, gab es schon große Bibliotheken. Luther hatte die Bibelkommentare von Origenes, Hieronymus, Augustin, Nikolaus von Lyra und anderen zur Verfügung. Doch die Bibel selbst blieb weithin unverstanden und von den Theologiestudenten viel weniger gelesen als das übrige. Heute ist es ähnlich! Den Psalter habe niemand verstanden, sagte Luther später, und den Römerbrief habe man für eine Reihe von Disputationen zur Zeit des Paulus gehalten, unbrauchbar für das eigene Zeitalter! Die Namen der Propheten und Apostel seien nie zitiert worden![6] Es ist kraß: Karlstadt [drei Jahre jünger als Luther] besaß 1510 bei seiner Wittenberger Promotion zum Doktor der Theologie und noch Jahre danach keine eigene Bibel – damit bildete er keine Ausnahme. 1514 äußerte sich Luther, der selbst mit 20 Jahren noch keine Bibel besessen hatte, kritisch über diese Zustände.[7]

Im Kloster erhielt Luther eine rot eingebundene Bibel. Mit ihr machte er sich intensiv vertraut. Er wußte, wo bestimmte Texte auf den Seiten zu finden waren, und war traurig, daß man ihm diese Ausgabe später wieder wegnahm. 1533 sagte er, daß er seit etlichen Jahren jedes Jahr zweimal die Bibel durchgelesen und alle Ästlein an diesem Baume abgeklopft habe. So gewissenhaft und so intensiv er das Klosterleben nahm, so gewissenhaft studierte er Gottes Wort. Staupitz, sein Beichtvater, und Karlstadt bewunderten ihn dafür.[8]

Ab 1508 mußte er Unterricht in Philosophie geben, gleichzeitig Theologie studieren und sich auf den Unterricht in Theologie, d.h. die biblischen Vorlesungen vorbereiten. Er freute sich besonders darauf, denn ‚die Theologie biete den Kern der Nuß und das Mark des Weizens und der Knochen‘. Er las die vielen Kommentarwerke, von Nikolaus von Lyra und anderen. Aber er mußte die Schriftsteller immer wieder beiseite setzen und sich „in der Biblia würgen“, um nicht beim Predigen immer wieder bei Aristoteles und den Scholastikern zu landen. Alsbald maß er alle Lehrer an der Bibel statt umgekehrt die biblischen Aussagen auf das hin zu biegen, was die Schulweisheit vorgab.

„Alles hätte ich gegeben und wäre selig gewesen, wenn ich ein Evangelium, einen Brief oder einen Psalm wirklich hätte verstehen können.“ „Was hätt‘ ich gegeben, wenn mich jemand von der Messe und Angst des Gewissens befreit hätte und mir das Verständnis eines Psalms, eines Kapitels im Evangelium eröffnet hätte. Ich wäre auf den Knien nach Sankt Jakob in Compostela gekrochen.“[9]

Jedesmal, wenn er von der Gerechtigkeit Gottes las, erschrak er. Denn unter Gerechtigkeit Gottes verstand er das Gericht. Durch das Gericht Gottes konnte man nur verloren und nicht gerettet sein! Irgendwann verstand er: Gerechtigkeit ist Rechtfertigung durch Gott und nicht durch menschliche Werke. Erst von da an „schmeckte“ ihm der Psalter – eine Erfahrung, die sich aus dem ständigen Psalmengebrauch in den Gottesdiensten und Stundengebeten ergab!

Noch einmal: Gerade das Bemühen um ernsthaftes Gebet führte dazu, daß er auch die Psalmen verstehen wollte, und Gewißheit darüber bekommen wollte, was Gerechtigkeit Gottes ist. Denn wie sollte man ernsthaft beten, wenn man nicht versteht, was man betet? Die Psalmen hatte er besonders lieb gewonnen, weil sie so viel von Anfechtung und Leid sprachen, weil sie halfen, die Anfechtungen zu überwinden. Martin Brecht schreibt in seiner großen Luther-Biographie (S. 93):

„Luther beschreibt diesen Vorgang geradezu als Kommen Christi, der für den Angefochtenen die Bibel öffnete und mit seinem Wort Trost und Rat schenkte. Luther hat es erfaßt, daß der Psalter das Buch der Anfechtungen und der Angefochtenen ist. Nur der Angefochtene vermag die Schrift zu verstehen [‚verstehen‘ i.S.v. ‚Hineinversetztwerden‘!; SF]. Voraussetzung dafür ist freilich ein demütiges Herangehen an die Schrift, wie es Luther auch von Staupitz gelernt hatte. In dem Spannungsfeld zwischen den gottesdienstlich gebrauchten Bibeltexten, darunter vor allem dem Psalmengebet, und seinen Anfechtungen ist Luther zum Bibelausleger geworden.“

Dadurch änderte sich auch sein Verständnis von Heiligung. „Für Luther besteht die größte Sünde eines Priesters jetzt nicht mehr in fleischlichem Vergehen, in der Unterlassung des Gebets oder im Stammeln beim Sprechen des Meßkanons, sondern im Unterlassen oder in der falschen Behandlung des Wortes der Wahrheit. Die Synode mag beschließen und ordnen, was sie will, wenn sie nicht dahin wirkt, daß sich die Priester dem reinen Evangelium widmen und dies dem Volk verkündigen, wird alles vergeblich sein“ (S. 94)!

2. Die Autorität der Schrift

Wie konnte Luther es wagen, die Autorität der großen Lehrer der Kirche anzugreifen? Das konnte er nur, weil ihm die Bibel als größere Autorität feststand, auch wenn er nicht alles darin verstand. Bis etwa 1517 ging es ihm aber nur darin, einzelne Lehrpunkte zu kritisieren, nicht darum, das System als Ganzes.[10]

Auch seine eigenen Bücher dürfen ruhig untergehen, wenn nur die Bibel präsent bleibt. So schreibt er 1539 in der Vorrede zum 1. Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften:

„Gern hätte ich‘s gesehen, daß meine Bücher allesamt wären dahinten geblieben und untergangen. Unter anderem ist ein Grund dafür, daß mir vor dem Exempel graut: denn ich sehe wohl, welchen Nutzen es der Kirche gebracht hat, als man außer und neben der heiligen Schrift viele Bücher und große Bibliotheken zu sammeln angefangen hat, besonders – ohne alle Unterscheidung – allerlei Väter, Konzilien und Lehrer zusammenzuraffen. Damit wurde nicht allein die edle Zeit und das Studieren in der Schrift versäumt, sondern auch die reine Erkenntnis des göttlichen Wortes endlich [= für immer] verloren, bis die Biblia (wie es dem fünften Buch Mosis geschah, zur Zeit der Könige Judas) unter der Bank im Staube vergessen wurde.

Und wiewohl es nützlich und nötig ist, daß etlicher Väter und Konzilien Schrift blieben sind als Zeugen und Historien; so denk ich doch, est modus in rebus [„es ist ein Maß in den Dingen“, Horaz], und sei nicht schade, daß vieler Väter und Konzilien Bücher durch Gottes Gnade sind untergegangen. Denn wo sie alle hätten sollen bleiben, sollte wohl niemand weder ein- noch ausgehen können vor den Büchern, und würden’s doch nicht besser gemacht haben, denn man’s in der heiligen Schrift findet.

Auch ist das unsre Meinung gewest, als wir die Biblia selbst zu verdeutschen anfingen, daß wir hofften, es sollt des Schreibens weniger, und des Studierens und Lesens in der Schrift mehr werden. Denn auch alles andre Schreiben in und zu der Schrift, wie Johannes zu Christo, weisen soll; wie er spricht: Ich muß abnehmen, dieser muß zunehmen [Joh 3, 30], damit ein jeglicher selbst möchte aus der frischen Quelle trinken, wie alle Väter, so etwas Guts haben wollen machen, haben tun müssen. Denn so gut werden’s weder Konzilia, Väter, noch wir machen, wenn’s auch aufs höchste und beste geraten kann, als die heilige Schrift, d. i., Gott selbst gemacht hat, ob wir wohl auch den heiligen Geist, Glauben, göttliche Rede und Werk haben müssen, so wir sollen selig werden, als die wir müssen die Propheten und Apostel lassen auf dem Pult sitzen, und wir hienieden zu ihren Füssen hören, was sie sagen, und nicht sagen, was sie hören müssen.

… Wohlan, so laß gehen in Gottes Namen, nur bitte ich freundlich, wer meine Bücher zu dieser Zeit ja haben will, der lasse sie ihm beileibe nicht sein ein Hindernis, die Schrift selbst zu studieren …“

Luther konnte nur deshalb so bescheiden über die zahlreichen eigenen Schriften sprechen, weil er die Klarheit, die Genügsamkeit und die Durchschlagskraft der Bibel selbst erlebt hatte (claritas, sufficientia, auctoritas). Die Bibel ist inspiriert vom Heiligen Geist, sie ist klar und enthält alles, was der Mensch zur Seligkeit braucht, ja sie muß klar sein, sagt er gegen Erasmus, weil Gott sie gegeben hat, damit mit ihr die Kirche geleitet werden kann.

In der Auseinandersetzung um die käufliche Vergebung, also den Ablaß, war das der Schlüssel. Die 95 Thesen von 1517 sind dazu am bekanntesten. Wichtige Wegmarken waren dann die Disputationen von Heidelberg 1518, zu der Luther noch zu Fuß anreiste, und in Leipzig 1519, wohin er im Wagen mit Karlstadt und Melanchthon fuhr, begleitet von 200 bewaffneten Wittenberger Studenten!

Die Disputanten waren Johann Eck auf Seite der Altgläubigen (bzw. heute: der Katholiken), auf Seite der Reformatoren Karlstadt und Luther. Auf die Vorgeschichte kann ich aus Zeitgründen nicht eingehen. Eck selbst hatte sich für Leipzig als Austragungsort entschieden. Die Leipziger theologische Fakultät aber wollte diese Disputation nicht, weil hier nur Zank entstehe und weil die Autorität des Papstes berührt war, über die zu disputieren eigentlich nicht erlaubt war. Die Fakultät gab nach, wollte hinterher inhaltlich aber nicht Stellung nehmen (das sollten Paris und Erfurt anhand der Protokolle tun): politisch vermintes Gelände! Im Vorfeld rieten Luthers Freunde, nicht zu scharf zu werden, sogar Karlstadt betonte seinen Gehorsam gegen die römische Kirche und wollte zur Papstfrage nichts sagen. Luther jedoch sah die Stunde der Entscheidung gekommen. Er wußte, daß

„die Wahrheit letztlich nicht durch ihn oder irgendeinen Menschen, sondern durch ihre eigene Kraft bewahrt wurde“. „Darum war er völlig gelassen. Sein Untergang würde keine Bedeutung haben. Die Wittenberger hielt er für so weit vorangekommen, daß sie ihn nicht mehr brauchten.“

Luther hatte sich intensiv auf die Papstfrage vorbereitet. Spalatin flüsterte er ins Ohr: „Ich weiß nicht, ob der Papst der Antichrist selbst oder sein Apostel ist, so elend wird Christus, d.h. die Wahrheit von ihm in den Dekreten verdorben und gekreuzigt.“[11] Das waren private Fragen. In seinen schriftlichen Vorüberlegungen verwarf er das Papsttum nicht als solches, sondern ordnete es ein als weltliche Obrigkeit nach Röm 13, die u.U. sogar als von Gott verhängte Strafe zu betrachten sei. Der Gedanke war einfach, umstürzend:

„Das Papsttum ist zwar eine menschliche Einrichtung wie die politischen Ordnungen auch, kann aber keine besondere sakrale Würde beanspruchen, weil eine solche sich aus der SCHRIFT nicht begründen läßt. Für Luther gab es in der Kirche keinen Inhaber der obersten Gewalt mehr, dessen Entscheidungen schon an sich rechtens waren.“[12]

Wenig später bestritt Luther dem Papst dann auch die Oberherrschaft in weltlichen Dingen, eine Frage, um die im Mittelalter ständig gerungen worden war (Investiturstreit).

Die Disputation dauerte 17 Tage! Dennoch reichte das nicht, um alle strittigen Punkte zu behandeln, auch nicht, um die angeschnittenen Probleme auszudiskutieren. Das Ende kam durch einen äußeren Umstand: Kurfürst Joachim von Brandenburg war auf der Rückreise von der Kaiserwahl und hatte sich bei Herzog Georg als Gast angesagt. 17 Tage – Sie werden also verstehen, daß ich hier nur einen winzigen Ausschnitt davon wiedergeben kann.

Können Konzile irren? Diese Frage erhob sich, weil Luther einige Ansichten von Jan Hus, die beim Konstanzer Konzil 100 Jahre zuvor verdammt worden waren, als echt christlich anerkannte: Das Kirchenverständnis von Hus stamme von Augustin, auch Hus‘ Lehre von Jesus war unverfänglich. So mußte Luther behaupten: Ein Konzil kann irren; es steht auf jeden Fall unter der Autorität des Schriftwortes. Sogar der Papst kann irren. Johann Eck dagegen verteidigte das Konzil. So kam es zur schärfsten Profilierung:

„Wenn Luther glaubte, daß ein legitim versammeltes Konzil geirrt habe oder irre, dann war er für Eck ein Heide und Zöllner, also außerhalb der Kirchengemeinschaft. Im Gegenzug bestritt Luther, daß Eck ein recht über die Schrift denkender Theologe sei, weil er kein rechtes Zeugnis für die göttliche Begründung des Primats vorgebracht habe.“[13]

In all dem sehen wir, wie die Autorität der Bibel immer im Ringen mit anderen Autoritäten stand: Mal war es die Autorität des Papstes, mal eines Konzils, dann später die Behauptung einzelner, eine persönliche Mitteilung des Heiligen Geistes abseits vom Schriftwort bekommen zu haben (sog. „Schwärmer“ oder „linker Flügel“ der Reformation) … Die Reformatoren Luther, Melanchthon und Calvin beharrten darauf, daß das Wirken des Geistes an den Buchstaben der Heiligen Schrift gebunden ist und bleibt. Darum das Bemühen um eine breite Kenntnis der Bibel, um Bibelübersetzung, um Katechese, Auswendiglernen, um Exegese und Geschichte der Bibel. Das Theologiestudium richtete sich in der Folge viel stärker auf die Bibel und die Ursprachen als zuvor, damit die Bibel ihre Autorität wirklich ins Leben der Kirche und des einzelnen hinein ausüben konnte.

Also: Immer stand die Bibel mitten im Ringen der Autoritäten. Wenn wir in die heutige Kirchenlandschaft schauen, begegnet uns dasselbe Ringen, nur mit anderen Themen. An die Debatte um Homosexualität und Gender muß ich in Bremen ja nicht eigens erinnern! Olaf Latzel wurde von seinen Gegnern inszeniert als Bedrohung bestimmter Minderheiten; gegen diese Bedrohung seien Staat und Kirche verpflichtet, vorzugehen.[14] Auch Johann Eck sah durch Luther eine Bedrohungslage im Verzug. Seit Luther Papst und Konzile herabgestuft hatte, sei nun nichts mehr sicher und alles zweifelhaft. „Mit Androhung des ewigen Gerichtes werden Kaiser und Papst aufgefordert, ihres Amtes zu walten, d.h. gegen Luther vorzugehen.“[15]

Wie aktuell die ganze Auseinandersetzung ist, möchte ich an einer Broschüre zeigen, die der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland anläßlich des Reformationsjubiläums 2017 herausgebracht hat. Sie trägt den Titel „Rechtfertigung und Freiheit – 500 Jahre Reformation 2017“. Lassen Sie mich ein paar Abschnitte daraus zu Gehör bringen.

„2.5.4 Gegenwärtige Herausforderungen

Das sola scriptura lässt sich heute nicht mehr in der gleichen Weise verstehen wie zur Reformationszeit. Anders als die Reformatoren ist man sich heute dessen bewusst, dass das Entstehen der einzelnen biblischen Texte und des biblischen Kanons selber ein Traditionsvorgang ist. Die alte Entgegensetzung von »die Schrift allein« und »Schrift und Tradition«, die noch die Reformation und Gegenreformation bestimmte, funktioniert heute nicht mehr so wie im sechzehnten Jahrhundert.“

Man reibt sich verwundert die Augen. Die EKD hat damit faktisch den Gegensatz von Schrift und Tradition fallengelassen, also den Gegensatz, der überhaupt erst die Reformation als Rückkehr zu den Quellen hervorgebracht hat! Warum soll das sola scriptura nicht mehr „funktionieren“? Was heißt überhaupt „funktionieren“? Natürlich ist die Bibel ein dickes, ein sperriges Buch!

Weiter im EKD-Zitat:

„Aber dennoch gilt: »Nach evangelischer Auffassung müssen sich die Traditionen immer am Ursprungszeugnis der Schrift und ihrer Mitte orientieren, sie müssen von hier aus kritisch bewertet und immer neu angeeignet werden.«“

Wenn die Bibel selbst ein Stück Tradition ist, wie zuvor definiert wurde, dann muß Tradition mit Tradition in Ausgleich gebracht werden. Man rekurriert zuletzt auf eine Mitte der Bibel, nicht mehr auf ihre Ganzheit.

Und hier kommt der Knaller:

„Seit dem siebzehnten Jahrhundert werden die biblischen Texte historisch-kritisch erforscht. Deshalb [!!] können sie nicht mehr so wie zur Zeit der Reformatoren als »Wort Gottes« verstanden werden. Die Reformatoren waren ja grundsätzlich davon ausgegangen, dass die biblischen Texte wirklich von Gott selbst gegeben waren. Angesichts von unterschiedlichen Versionen eines Textabschnitts oder der Entdeckung verschiedener Textschichten lässt sich diese Vorstellung so nicht mehr halten.“

Verstehen Sie, was hier geschieht? Nicht mehr ein geistlicher Vorgang, nämlich die Inspiration, verbürgt die Authentizität der Bibel, sondern diese Authentizität muß von Text zu Text historisch-kritisch festgestellt werden. Die menschliche Vernunft wird mit der historisch-kritischen Methode zum Maßstab für das, was authentisch ist und was Autorität hat. Die Entstehung der historisch-kritischen Exegese seit dem 17. Jahrhundert, obwohl selbst zeitbedingt, wird zum zeitlosen Maßstab. Diese Vergötzung von Wissenschaft ist die evangelische Fassung des Traditionsprinzips. Das Schriftprinzip wird durchs Traditionsprinzip ersetzt.

Die Papsttreuen hatten Luther entgegengehalten: Hinter unsere Konzile können wir nicht zurück, das ist der Stand der Erkenntnis! Evangelische Kirchenleitungen und Fakultäten heute sagen: Hinter die historisch-kritische Methode können wir nicht zurück – das ist der Stand der Erkenntnis! Und das ist nicht nur zeitlich gemeint, sondern dogmatisch, wie die Fortsetzung gleich beweist.

Noch ein Gedanke dazwischen: Die Verschiedenheit der biblischen Handschriften kannte man seit frühester Zeit. Daß deswegen die Inspiration in Frage gestellt würde oder anders zu verstehen war oder die Autorität der Bibel anders zu fassen ist, ist erst ein neues Phänomen.

Weiter im EKD-Zitat:

„Damit aber ergibt sich die Frage, ob, wie und warum sola scriptura auch heute gelten kann. Deutlich sollte geworden sein, dass das reformatorische sola scriptura nicht die Stoßrichtung hat, nur der nehme die Schrift ernst, der sie als Wort für Wort von Gott gegeben verstehe. Wie aber ist dann die Schrift auch heute noch als Wort Gottes zu denken? Warum spielt die Bibel auch im gegenwärtigen kirchlichen Leben eine zentrale Rolle? Zunächst deshalb, weil wir aus diesen Texten über den Gott Israels und den Vater Jesu Christi wissen.“

Auch dieser Passus ist spannend: Anstatt die Frage nach dem Charakter der Bibel theologisch zu beantworten, weicht man auf eine soziologische Schiene aus. Mich erinnert das an die Antwort Evas, als die Schlange zu ihr sagte: „Sollte Gott gesagt haben, ihr dürft nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ Eva antwortete: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten …“ Statt einfach zu zitieren, was Gottes Wort und Gebot war, verweist sie als erstes auf ihre Praxis. So tut der EKD-Text: Weil Menschen in diesen Texten Gottes Stimme vernehmen, deswegen muß es etwas Besonderes sein. Was aber, wenn jemand mit einem Text in der Bibel besondere Mühe hat und mit Bestimmtheit sagt: Das kann Gott nicht gesagt haben? Dann – so wäre mit der EKD zu folgern – dann kann es nicht Gottes Wort sein.

Wie aber hat nun bei Luther nicht nur die Autorität, sondern auch die Einheit der Heiligen Schrift zur Reformation geführt? Damit bin ich bei …

3. Die Einheit der Schrift und die theologischen Folgen

Ich sagte bereits, daß Luther immer erschrak, wenn er von der Gerechtigkeit Gottes las, weil er die Gerechtigkeit Gottes immer mit dem Gericht über Sünde und Sünder verband.

Eine neuralgische Stelle dazu war Röm 1,17 (ich lese ab V. 16):

16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«

Wie nun Luthers Psalmengebet und Psalmenstudium zur reformatorischen Erkenntnis führte, faßte er im Jahr vor seinem Heimgang zusammen (Vorrede zu Band 1 der lateinischen Schriften, 1545, WA 54, 185, 14 – 186, 16, leicht modernisiert):

„Ich war gewiß von einem außerordentlichen Verlangen ergriffen, Paulus in seinem Römerbrief zu verstehen; aber dem stellte sich … ein einziges Wort in den Weg, das c. 1 steht: ‚Gottes Gerechtigkeit wird in ihm offenbar‘. Ich haßte nämlich dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, das ich nach Brauch und Gewohnheit aller Doktoren philosophisch zu verstehen gelehrt worden war: von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, gemäß der Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber … liebte nicht, nein, ich haßte den Gott, der gerecht ist und die Sünder bestraft; und mit heimlichem, wenn nicht Lästern, so doch gewiß gewaltigem Murren war ich unwillig gegen Gott und sagte (mir): ‚als ob es nicht genug wäre, daß die armen Sünder, die durch die Erbsünde ewig verloren sind, mit jeder Art von Unglück durch den Dekalog belastet sind – mußte denn Gott auch noch durch das Evangelium Leid auf Leid fügen und auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn auf uns kehren!‘ So raste ich mit wildem und bestürztem Gewissen. Dennoch klopfte ich rücksichtslos an jener Stelle des Paulus an und dürstete brennend danach zu wissen, was Paulus meinte.

Bis Gott sich meiner, der ich Tag und Nacht grübelte, erbarmte und ich den Zusammenhang der Wörter beachtete, nämlich: Gottes Gerechtigkeit wird in ihm offenbar wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben. Da begann ich die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als ein Geschenk Gottes der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und daß dies der Sinn sei: durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive Gerechtigkeit, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben ist: ‚der Gerechte lebt aus Glauben‘.

Da kam ich mir vor, als sei ich ganz und gar von neuem geboren und durch die offenen Tore in das Paradies selbst eingegangen. Da zeigte mir die ganze Schrift sofort ein anderes Gesicht.“

Kurz gesagt: Luther begann zu verstehen, daß die Gerechtigkeit Gottes als Geschenk zugeteilt wird. Auf einmal wurde ein verhaßtes Wort ein süßes Wort. Sein Nichtverstehen von Röm 1,17 hatte ihm die Tür zum Himmel erst verschlossen, jetzt aber öffnete ihm gerade diese Stelle die Pforte ins Paradies. In einigen Tischreden lokalisiert Luther das Entdeckungserlebnis im Turm; deswegen spricht man von Luthers Turmerlebnis. Andere Berichte geben noch genauer die Toilette auf dem Turm an. Das mag die Phantasie anregen … Tatsächlich war Luthers Arbeitszimmer im Kloakenturm. Der Biograph Brecht meint, daß Luther seine Einsicht bei der exegetischen Arbeit hatte.[16] Belassen wir es dabei.

Luther war immer stärker klar geworden, was er in 1. Kor 1,30 las: „Jesus Christus ist uns von Gott gemacht zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung“. Von daher lernte er, Rechtfertigung und Gerechtigkeit allein und durch Christus zu sehen und zu empfangen. Als Gläubiger darf der Mensch rühmen: Mein ist, was Christus tat, sagte, litt und starb; er ist der Bräutigam, der mit der gläubigen Seele als Braut alles teilt. Die Gerechtigkeit des Glaubens ist – Christus selbst.

Und hier wirkte mit, was Luther als Klosterbruder in den Psalmen auswendig gelernt hatte und jede Woche betete! Er berichtet, wie er im Kopf die Bibel durchgegangen ist und einige Analogien festgestellt habe, daß das Werk Gottes das Werk bedeute, das er in uns wirkt, seine Weisheit bedeutet die Weisheit, durch die er uns weise macht. Dadurch wurde er seiner Entdeckung gewiß.[17]

Hören wir einige Psalmworte, die von der Gerechtigkeit Gottes sprechen; und immer, wenn wir hören „deine Gerechtigkeit“, dann mögen wir still hinzudenken: „nicht meine Gerechtigkeit“!

Psalm 31,2:
Herr, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zuschanden werden,
errette mich durch deine Gerechtigkeit
!

Psalm 36:
7 Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe.  Herr, du hilfst Menschen und Tieren.
8 Wie köstlich ist deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! …
11 Breite deine Güte über die, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit über die Frommen.

Psalm 51:
Errette mich von Blutschuld, Gott, der du mein Gott und Heiland bist, daß meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme.

Psalm 71:

2Errette mich durch deine Gerechtigkeit und hilf mir heraus,
neige deine Ohren zu mir und hilf mir! …

15 Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit,
täglich deine Wohltaten, die ich nicht zählen kann.

 16 Ich gehe einher in der Kraft Gottes des Herrn;
ich preise deine Gerechtigkeit
allein. …

19 Gott, deine Gerechtigkeit reicht bis zum Himmel;
der du große Dinge tust, Gott, wer ist dir gleich?

Psalm 119,142:
Deine Gerechtigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit,
und dein Gesetz ist Wahrheit.

Psalm 145:
7 sie sollen preisen deine große Güte und deine Gerechtigkeit rühmen.
8 Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.

Wenn Gott mich rettet, dann nicht durch meine, sondern durch seine Gerechtigkeit! Das ist der Schlüssel! Die ganze Selbstzerknirschung – so weh sie auch tut, so tief sie auch reicht, so aufgeblasen sie auch sein mag –: Sie tut dem Werk Christi nichts hinzu. Das Werk Christi ist genug! Alles, was dann der Mensch noch im Glauben und geführt vom Heiligen Geist tut, ist nicht mehr sein Werk, sondern Gottes eigenes Werk. Das Dreieck von Christus – Wort Gottes – Glaube, dieses Miteinander ist der Angelpunkt. Würde man davon abgehen, würden Papst und Teufel den Sieg behalten.

Die Konsequenzen waren weitreichend:

  1. Der Ablaß, auf den so viele ihre Hoffnung gesetzt hatten, war jetzt ein Affront gegen Christus. Christus ist die Gerechtigkeit der wahren Kirche; kein Papst darf sich anmaßen, aus einem imaginären Kirchenschatz (bestehend aus den überschüssigen Werken Christi und [!] der Heiligen) etwas auszuteilen. In den 95 Thesen lautet die Nummern 36 und 62:

„Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlaß von Strafe und Schuld, auch ohne Ablaßbrief.“ „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“

  1. Der fromme Christ braucht Maria und die Heiligen nicht mehr um Hilfe anzuflehen. Auch der Reliquienkult ist vorbei. Christus ist genug.
  2. Ein Mönch zu sein ist kein höherer Stand als ein eheliches Leben. Auch weltliche Arbeit ist Gottesdienst!
  3. Messen für die Toten und Winkelmessen einsamer agierender Priester werden überflüssig.
  4. Schriftlesung und Schriftauslegung werden zu den wichtigsten Teilen des Gottesdienstes.

These 54: „Dem Wort Gottes geschieht Unrecht, wenn in ein und derselben Predigt auf den Ablaß die gleiche oder längere Zeit verwendet wird als für jenes.“

  1. Die Gemeinde hat mit der Heiligen Schrift den Prüfstein in der Hand, Lehre und Lehrer zu beurteilen. Ein geistliches Amt bewahrt nicht vor Irrtum, weder Papst noch Konzilien können per se irrtumslos sein.
  2. „Reformation“ erstreckte sich auf zahlreiche Gebiete des kirchlichen und weltlichen Lebens; denn auch weltliche Arbeit ist eine Art Gottesdienst und soll in die Heiligung des Lebens hineingenommen sein. Die christliche Nächstenliebe war nicht mehr Vorbedingung des Heils, sondern ihre Folge, und entfaltet sich in vielen Bereichen, besonders in der Bildung, auch für Mädchen, in der Lese- und Schreibkompetenz, Bibelübersetzung und Bibellesen, in Armenfürsorge usw. usw.

Thesen 43–44a+45:

„Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablaß zu kaufen. Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe und wird der Mensch besser … Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn übergeht und statt dessen für den Ablaß gibt, kauft nicht den Ablaß des Papstes, sondern handelt sich den Zorn Gottes ein.“

Leitspruch der Neuendettelsauer Diakonissen nach Wilhelm Löhe:

„Was will ich? Dienen will ich.
Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich darf!“

All das mag heute so einfach klingen, war aber schwer errungen, und wir sehen heute, wie ausgerechnet Theologen und Kirchenleitungen sie wieder verspielen.

Der Blick auf Jesus Christus ist in allen theologischen Fragen entscheidend …

Luther war Reformator wider Willen. Er nahm die Pflichtlektüre[18] im Kloster ernst und wurde so auf den heilsamen Weg geführt, den wir auch heute nicht verlassen, sondern uns immer wieder vergegenwärtigen und neu erringen sollten …

Stefan Felber, Reformationsgedenken in Bremen am 31.10.2025

 

Alle Beiträge des Reformationsgedenkens 2025 können auf dem Youtube-Kanal der St. Martini-Gemeinde nachgehört werden.

 

[1] Brecht, Band 1, S. 65f.

[2] Autor: der Tübinger Nominalist Gabriel Biel.

[3] Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands, 17f.

[4] Brecht aaO. S. 75.

[5] AaO. S. 89.

[6] Ebd.

[7] AaO. 90 und 91.

[8] AaO. S. 91 und 90.

[9] Zitate aaO. 92, teilweise gemischt sinngemäß und wörtlich.

[10] AaO. 100.

[11] Brecht aaO. 292.

[12] AaO. 294 (Hervorh. S. F.).

[13] AaO. 306.

[14] Wengenroth/Böllmann, Der Fall Latzel, 2025.

[15] Brecht aaO. 311.

[16] Brecht aaO. 220.

[17] Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands, S. 23f.

[18] Welche Pflichtlektüre geben wir der jungen Generation … ??

Dieser Beitrag wurde erstellt am Samstag 1. November 2025 um 15:35 und abgelegt unter Kirche, Kirchengeschichte, Theologie.