Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz
Montag 11. August 2008 von Prof. Dr. Dietrich Murswiek
Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz
Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
A. Zur Zulässigkeit und zum vorläufigen Rechtsschutz
1. Die gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon sowie gegen die dazu ergangenen Begleitgesetze gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
2. Der Beschwerdeführer kann sich sowohl auf sein Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt gemäß Art. 38 GG berufen als auch auf sein Grundrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG.
3. Das Grundrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG garantiert nicht nur ein Widerstandsrecht für den Fall, daß die Grundlagen der Verfassung beseitigt zu werden drohen. Aus dieser Vorschrift ergibt sich auch ein dem Widerstandrecht vorgelagertes Recht auf Unterlassung aller Handlungen, welche eine Widerstandslage auslösen würden, also ein Recht auf Unterlassung von Handlungen, welche die nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsgrundlagen ganz oder teilweise beseitigen würden. Dieses Recht kann mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.
4. Eine auf das sich aus Art. 20 Abs. 4 GG ergebende Recht auf Unterlassung der Beeinträchtigung von durch Art. 79 Abs. 3 GG (im Unterschied zu dem in dieser Norm ebenfalls – und ausdrücklich – geregelten Widerstandsrecht) gestützte Verfassungsbeschwerde ist nicht subsidiär gegenüber Verfassungsbeschwerden, die auf andere Grundrechte gestützt werden.
5. Auch die Organklage eines Bundestagsabgeordneten, der sich darauf beruft, durch den Vertrag von Lissabon würden die Rechte und Befugnisse des Bundestages so ausgehöhlt, daß eine hinreichende demokratische Legitimation der deutschen Staatsgewalt nicht mehr möglich sei, ist zulässig.
6. Durch die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde seitens des Bundespräsidenten würde der Vertrag von Lissabon für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Würde das Bundesverfassungsgericht dann später die Verfassungswidrigkeit des Vertrages feststellen, so wäre Deutschland trotz Unvereinbarkeit dieses Vertrages mit fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes an diesen Vertrag gebunden. Deshalb muß die Ratifikation bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache unterbleiben. Ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, die dem Bundespräsidenten die Ratifikation vorläufig untersagt, wäre zulässig und begründet.
B. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
I. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen der betroffenen Grundrechte
7. Das Grundrecht auf Unterlassung der Beeinträchtigung der fundamentalen Verfassungsprinzipien (Art. 20 Abs. 4 GG) und das Grundrecht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt (Art. 38 GG), wie das Bundesverfassungsgerichtes im Maastricht-Urteil entwickelt hat, überschneiden sich in ihren Tatbeständen: Beide Grundrechte gewährleisten ein subjektives Recht auf Beachtung objektiver Verfassungsprinzipien. Diese Prinzipien sind bei beiden Grundrechten im wesentlichen identisch.
8. Art. 20 Abs. 4 GG garantiert ein Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Mit „verfassungsmäßiger Ordnung“ im Sinne dieser Bestimmung sind die fundamentalen Verfassungsprinzipien gemeint, die nach Art. 79 Abs. 3 GG jeder Verfassungsänderung entzogen sind. Dieses Recht zum – notfalls gewaltsamen – Widerstand setzt voraus, daß der einzelne zunächst ein Recht darauf hat, daß diejenigen Handlungen, die zum Widerstand berechtigen würden, unterlassen werden. Dieser Unterlassungsanspruch ist in Art. 20 Abs. 4 GG implizit enthalten. Er ist dann verletzt, wenn eines der objektiven Verfassungsprinzipien beseitigt oder dauerhaft beeinträchtig wird, die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sind.
9. Zu den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Prinzipien gehören nicht nur das Demokratieprinzip, das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip, sondern auch der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.
10. Aus Art. 79 Abs. 3 GG folgt auch, daß die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte an die Europäische Union nur unter der Voraussetzung übertragen darf, daß die Europäische Union den von dieser Vorschrift geschützten fundamentalen Verfassungsprinzipien entspricht; die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG konkretisiert diese sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen. Folglich ist das Grundrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG auch dann verletzt, wenn Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen werden und diese nicht den Grundsätzen des Art. 23 Abs.1 Satz 1 GG genügt.
11. Das Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt (Art. 38 GG) gibt jedem wahlberechtigten Staatsbürger nicht nur das Wahlrecht und das Recht auf Beachtung der verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze, sondern auch einen subjektiven Anspruch darauf, daß die in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt demokratisch legitimiert ist. Dazu gehört nicht nur, daß der Gegenstand der demokratischen Legitimation nicht durch Übertragung zu vieler Hoheitsrechte auf die Europäische Union ausgehöhlt wird, sondern auch, daß die Organisation der Hoheitsgewalt, an deren Legitimation der Einzelne nach Art. 38 GG teilzuhaben berechtigt ist, demokratischen Grundsätzen entspricht.
12. Art. 38 GG ist unter dem Aspekt der Aushöhlung der Aufgaben und Befugnisse des Bundestages dann verletzt, wenn die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union Hoheitsrechte die Grenzen überschreitet, die Art. 79 Abs. 3 GG der europäischen Integration unter dem Aspekt des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit setzt.
13. Art. 38 GG ist unter dem Aspekt mangelnder demokratischer Organisation der Staatsgewalt jedenfalls dann verletzt, wenn die Organisation und die Entscheidungsverfahren der deutschen Staatsgewalt auf Bundesebene nicht mehr den Anforderungen des Demokratieprinzips entsprechen. Entsprechendes muß aber auch für die europäische Hoheitsgewalt gelten, an deren Legitimation der Wähler mittelbar teilhat. Somit ergibt sich aus Art. 38 GG ein subjektives Recht auf Einhaltung des Demokratieprinzips sowohl auf Bundesebene als auch auf der Ebene der Europäischen Union.
14. Der Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auf Unterlassung von Beeinträchtigungen der fundamentalen Verfassungsprinzipien gemäß Art. 20 Abs. 4 GG und der Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Hoheitsgewalt gemäß Art. 38 GG sind demnach in folgender Hinsicht deckungsgleich: Beide Grundrechte sind verletzt, wenn die Organisation und das Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt in Deutschland oder in der Europäischen Union nicht dem Demokratieprinzip entsprechen; und beide Grundrechte sind verletzt, wenn die sich aus dem Grundsatz der souveränen Staatlichkeit ergebenden Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union überschritten werden. Demgegenüber führt die Verletzung der anderen durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien nur zur Verletzung von Art. 20 Abs. 4 GG.
II. Zur Verletzung des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit
15. Mit der Vergemeinschaftung der Innen- und Justizpolitik durch den Vertrag von Lissabon ist die sektorale Begrenzung der Union auf vornehmlich wirtschaftsrelevante Politikfelder überwunden. Mit den Zuständigkeiten für die innere Sicherheit und die Strafverfolgung ist die Europäische Union mit ihren Kompetenzen in Kerngebiete der Staatlichkeit vorgedrungen.
16. Die Europäische Union wird mit dem Vertrag von Lissabon Völkerrechtssubjekt. Ihre Zuständigkeiten erstrecken sich auf praktisch alle Gebiete der Politik und ermöglichen es der Europäischen Union, auch auf der völkerrechtlichen Ebene wie ein Staat zu agieren. Dazu hat die Europäische Union einen außenpolitischen Apparat, der quasistaatlichen Charakter hat sowie weitreichende außenpolitische Kompetenzen.
17. Für die Rechtsetzung hat die Europäische Union jetzt flächendeckende, praktisch alle Bereiche der Politik abdeckende Kompetenzen. Soweit diese Kompetenzen aufgrund restriktiv formulierter Kompetenztitel im einzelnen nicht ausreichen, um Ziele der Union zu verwirklichen, kann die Union selbst ihre Kompetenzen mit Hilfe der Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV) erweitern. Im Hinblick auf ihre nicht mehr auf die Wirtschaft beschränkten, sondern sich über vielfältige Politikbereiche erstreckenden Tätigkeitsfelder und im Hinblick auf ihre unbeschränkbar weit formulierten Ziele, besitzt die Europäische Union mit der jetzt sozusagen universell anwendbaren Flexibilitätsklausel eine umfassende Kompetenz-Kompetenz. Auf diese Weise kann sie den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber praktisch überall dort verdrängen, wo er im Augenblick noch etwas zu sagen hat.
18. Dem Souveränitätsverlust der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber steht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht entgegen. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist nur noch ein formales Kompetenzverteilungsprinzip; materiell hat es keine effektiv begrenzende und daher keine die Souveränität der Mitgliedstaaten sichernde Funktion mehr, weil es jetzt flächendeckende Einzelermächtigungen in praktisch allen Politikbereichen gibt, deren verbleibende Lücken mit Hilfe der Flexibilitätsklausel geschlossen werden können.
19. Das Recht der Union besitzt uneingeschränkten Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten, auch vor deren Verfassungsrecht; die „Solange“- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die bisher noch eine Reservefunktion des Bundesverfassungsgerichts für den Schutz der Grundrechte gegen Rechtsakte der Europäischen Union sicherte, kann nach dem Vertrag von Lissabon nicht aufrechterhalten werden.
20. Der Gerichtshof der Europäischen Union, der sich als „Motor der Integration“ versteht, und in Kompetenzfragen praktisch immer zugunsten der Europäischen Gemeinschaft entschieden hat, beansprucht die Kompetenz-Kompetenz für die Entscheidung über die Frage, welche Kompetenzen der Europäischen Union zustehen. Nachdem die Europäische Union mit dem Vertrag von Lissabon nicht nur flächendeckende Rechtsetzungskompetenzen, sondern auch noch eine Kompetenz-Kompetenz zur Füllung aller verbliebenen Lücken erhalten hat, läßt sich die bisherige Position des Bundesverfassungsgerichts, daß es die Befugnis habe, bei „ausbrechenden“, also die Grenzen der Ermächtigung überschreitenden europäischen Rechtsakten die Unwirksamkeit dieser Akte für Deutschland festzustellen, nicht mehr aufrechterhalten.
21. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Rat anstelle des früheren Einstimmigkeitsprinzips drängt den Einfluß der einzelnen Mitgliedstaaten zugunsten der Europäischen Union weiter zurück.
22. Das Subsidiaritätsprinzip als generalklauselartig formuliertes Kompetenzausübungsprinzip ist nicht geeignet, dafür zu sorgen, daß der Schwerpunkt der Rechtsetzung auf der Ebene der Mitgliedstaaten bleibt, zumal mit dem EU-Gerichtshof ausgerechnet der„Motor der Integration“ zum Wächter der Subsidiarität eingesetzt worden ist. Dieses Prinzip hätte einer konkreten Ausgestaltung in Form abschließender, begrenzter Kompetenzen oder negativer Kompetenzkataloge und eines unabhängigen Überwachungsorgans, etwa eines Kompetenzkonfliktgerichtshofs, bedurft.
23. Die Europäische Union hat sich mit dem Vertrag von Lissabon zu einer quasistaatlichen Organisation entwickelt, der alle Merkmale zukommen, die völkerrechtlich oder staatstheoretisch einen Staat auszeichnen – abgesehen davon, daß die Mitgliedstaaten sie nicht als Staat verstehen wollen und sie sich selbst nicht als Staat versteht. Das einzige, was ihr zur Staatlichkeit im völkerrechtlichen Sinne noch fehlt, ist, daß sie von den Mitgliedstaaten zum Staat proklamiert wird oder sie sich selbst zum Staat proklamiert.
24. Angesichts der Fülle der Kompetenzen, die der Europäischen Union übertragen worden sind und angesichts des entsprechenden Kompetenzverlusts der Mitgliedstaaten ist die Grenze dessen, was der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit an Übertragung von Hoheitsrechten noch zuläßt, jetzt überschritten. Ob die Europäische Union sich als „Staat“ bezeichnet oder nicht oder ob sie ein Staat im Sinne des Völkerrechts ist oder lediglich ein Völkerrechtssubjekt, das in staatsanaloger Weise auf der völkerrechtlichen Ebene agiert, ist insoweit irrelevant. Das Grundgesetz gibt eine materiell zu konkretisierende Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten vor; ob sie überschritten ist, hängt nicht von äußerlichen Bezeichnungen und Symbolen ab. Andernfalls könnte die verfassungsrechtliche Grenze der Übertragung von Hoheitsrechten einfach durch die Wahl des geeigneten Vokabulars umgangen werden.
III. Zur Verletzung des Demokratieprinzips durch den Vertrag von Lissabon
25. Durch die Aushöhlung der Aufgaben und Befugnisse des Bundestages, insbesondere durch die Verlagerung von Zuständigkeiten für die Innen- und Justizpolitik sowie – in Verbindung damit – durch die Flexibilitätsklausel, welche der Europäischen Union eine Kompetenz-Kompetenz verschafft, wird zugleich das Demokratieprinzip bezüglich der Ausübung der Staatsgewalt in Deutschland verletzt.
26. Diese Verlagerung von Rechtsetzungskompetenzen nach Brüssel verschafft zugleich der Bundesregierung gegenüber dem Parlament eine übermächtige Stellung. Der Bundestag ist weithin nur noch für den Vollzug von höherrangigem europäischem Recht zuständig, welches die Bundesregierung im Rat der Europäischen Union mit erlassen hat. So kann die Regierung – im Verbund mit den anderen europäischen Regierungen –dem Bundestag Vorschriften machen, die dieser gehorsam erfüllen muß. Dies ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.
27. Diese Konstellation führt schon bisher gelegentlich zu dem berühmten „Spiel über die Bande“: Kann ein Minister eine von ihm gewünschte Regelung in Deutschland nicht durchsetzen, regt er bei der Kommission den Erlaß einer entsprechenden europäischen Richtlinie an. Wenn er sich mit seinen europäischen Fachkollegen einigt, beschließen sie eine EU-Richtlinie, die ohne großen Widerstand durch die Entscheidungsprozeduren läuft und von der nationalen Öffentlichkeit einschließlich des nationalen Parlaments erst dann richtig wahrgenommen wird, wenn sie bereits in Kraft ist.
28. Die Möglichkeiten dieses „Spiels über die Bande“ werden durch die Flexibilitätsklausel in Verbindung mit den neu hinzugewonnen Rechtsetzungskompetenzen noch wesentlich verstärkt. Die Bundesregierung könnte jetzt beispielsweise, wenn sie zur Abwehr terroristischer Bedrohungen Überwachungsmaßnahmen durchsetzen will, die in Deutschland auf zu großen Widerstand im Parlament stoßen oder am Bundesverfassungsgericht scheitern, mit Hilfe der Flexibilitätsklausel dafür sorgen, daß sich die Europäische Union eine Kompetenzgrundlage für die Regelung derartiger Maßnahmen verschafft. So kann ohne Zustimmung des Bundestages eine europäische Ermächtigungsgrundlage für Überwachungsmaßnahmen geschaffen werden, für die es in Deutschland keine Chance einer parlamentarischen Mehrheit gäbe. Und die EU Regelung hätte zudem Vorrang nicht nur vor den einfachen innerstaatlichen Gesetzen, sondern auch vor dem Grundgesetz, mit der Konsequenz, daß die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ausgeschaltet wäre.
29. Die Europäische Union leidet unter einem strukturellen Demokratiedefizit. Dieses wird durch den Vertrag von Lissabon nicht verringert, sondern tendenziell verschärft.
30. Der Rat der Europäischen Union kann nicht mehr hinreichende, von den Völkern der Mitgliedstaaten abgeleitete demokratische Legitimität vermitteln. Dem stehen mangelnde Transparenz des Entscheidungsverfahrens und eine zu lange Kette von Vermittlungsschritten für die indirekte Ableitung der Legitimität entgegen. Vor allem aber wird die Legitimitätskette durch das jetzt als Regelfall zur Anwendung kommende Mehrheitsprinzip für die Ratsentscheidungen unterbrochen.
31. Aber auch die Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips ist unter Aspekten der demokratischen Legitimation nicht zu rechtfertigen, weil einmal beschlossene Rechtsakte nicht mehr aufgehoben werden können, selbst wenn eine große Mehrheit dies will, solange nur ein einziger Staat an dem Rechtsakt festhalten will. Daher genügt das Einstimmigkeitsprinzip nur dann dem Demokratieprinzip, wenn es durch geeignete Regeln ergänzt wird, die dieses Problem lösen, beispielsweise durch Verfallsdaten für die beschlossenen Rechtsakte.
32. Eine entsprechende Problematik weist die Regelung von materiellen Politikinhalten im primären Gemeinschaftsrecht auf.
33. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union läßt sich nicht dadurch beseitigen, daß man dem Europäischen Parlament größere Kompetenzen gibt, solange das Europäische Parlament selbst nicht demokratisch legitimiert ist. Dies ist solange nicht der Fall, wie es nicht auf der Basis demokratischer Gleichheit gewählt wird.
34. Die Europäische Union könnte auf eine demokratische Basis gestellt werden, wenn die europäischen Völker sich zu einem europäischen Unionsvolk konstituierten, welches nach dem Prinzip der gleichen Wahl und der Stimmrechtsgleichheit das Europäische Parlament wählte; der Rat müßte die Rolle einer Staatenkammer übernehmen. Eine solche Lösung wäre freilich nur möglich, wenn die Völker der Mitgliedstaaten dem kraft ihrer verfassunggebenden Gewalt zustimmten. In Deutschland jedenfalls wäre eine verfassunggebende Entscheidung des Volkes nötig; eine Verfassungsänderung reichte nicht aus.
35. Ob das mit dem Grundgesetz unvereinbare Demokratiedefizit der Europäischen Union erst durch den Vertrag von Lissabon hervorgebracht worden ist oder schon früher vorhanden war, ist für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes unerheblich. Durch den Vertrag von Lissabon werden jedenfalls neue Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen, und das Grundgesetz läßt die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union nicht zu, wenn diese nicht demokratischen Grundsätzen entspricht. – Entsprechendes gilt übrigens auch für den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit: Sollte die Grenze der Übertragung von Hoheitsrechten, die das Grundgesetz setzt, schon früher überschritten worden sein, dürfen jedenfalls keine neuen Hoheitsrechte mehr übertragen werden.
36. Etliche Einzelbestimmungen des Vertrages von Lissabon verstoßen in spezieller Weise gegen das Demokratieprinzip. Dazu gehören insbesondere diejenigen Bestimmungen, die Änderungen der funktionellen EU-Verfassung (also des EUV und des AEUV) ohne Zustimmung durch den Bundestag ermöglichen, ebenso diejenigen, die den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Rat ohne ausreichende Mitwirkung des Bundestages möglich machen. Vor allem die Kompetenzerweiterung der Europäischen Union mit Hilfe der „Flexibilitätsklausel“ ohne Zustimmung des Bundestages ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.
37. Der Vertrag von Lissabon konstituiert ein neues Legitimationssubjekt, das Unionsvolk als Gesamtheit der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, das jetzt gleichberechtigt neben die Völker der Mitgliedstaaten als Legitimationsquelle der Europäischen Union gestellt wird. Dazu hätten die Völker der Mitgliedstaaten gefragt werden müssen.
III. Verstöße der deutschen Begleitgesetzgebung gegen das Demokratieprinzip
38. Auch die Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon – das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes und das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union – sind unter verschiedenen Aspekten mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.
39. Dies gilt besonders für die Übertragung sehr weitreichender Entscheidungsrechte an den Europaausschuß, der durch diese Gesetze ermächtigt wird, anstelle des Bundestagsplenums über die Zustimmung zu EU-Beschlüssen zu treffen, die ihrem materiellen Gehalt nach die EU-Verträge ändern und sich auch in Deutschland verfassungsändernd auswirken.
40. Das deutsche Begleitgesetz nimmt dem Bundestag für weite Bereiche die Möglichkeit, sich mit einem Veto gegen ein Beschluß des Europäischen Rates zu wehren, durch den für eine bestimmte Materie der Übergang vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip bei Rechtsetzungsakten des Rates angeordnet wird. Die Möglichkeit derart weitreichender Änderungen des primären Gemeinschaftsrechts gegen den Willen des Bundestages ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.
IV. Ergebnis zur Verfassungsbeschwerde
41. Die Verfassungsbeschwerde ist wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Grundrechten aus Art. 20 Abs. 4 GG und aus Art. 38 GG begründet.
C. Zur Begründetheit der Organklage
42. Auch die Organklage ist begründet. Der Antragsteller als Bundestagsabgeordneter wird durch das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und durch die Begleitgesetze in seinem Statusrecht aus Art. 38 GG verletzt.
43. Das Recht des Abgeordneten auf Mitwirkung an der Repräsentation des Volkes wird durch die Aushöhlung der Aufgaben und Befugnisse des Bundestages sowie durch eine Reihe spezieller Vorschriften des Vertrages von Lissabon verletzt.
44. Auch die Begleitgesetze verletzen das Recht des Abgeordneten auf Mitwirkung an der Repräsentation des Volkes. Dies gilt insbesondere für die Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse in einen Ausschuß, dem der Abgeordnete nicht angehört.
D. Schlußbemerkung
45. Der Prozeß der europäischen Integration hat die Grenze erreicht, die ihr unter dem Aspekt der souveränen Staatlichkeit sowie unter dem Aspekt des Demokratieprinzips vom Grundgesetz gesetzt sind. Das heißt nicht, daß die weitere Verdichtung der europäischen Integration für immer ausgeschlossen ist. Die vom Grundgesetz gesetzte Grenze darf aber nur überschritten werden, wenn zuvor das Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt mit einer verfassunggebenden Entscheidung den Weg dazu frei macht.
[Die ausführliche Fassung dieses Beitrages kann in der Geschäftsstelle des Gemeindenetzwerkes in Düshorn angefordert werden.]
Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 11. August 2008 um 9:26 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.