„Reformation neu feiern: Demokratie stärken“?
Freitag 3. Januar 2025 von Pastor Dr. Stefan Felber
„Unter dieses Motto stellten die evangelischen Kirchen in Niedersachsen den Reformationstag 2024“, liest man auf der Website www.reformation-neu-feiern.de (und zwar ohne Fragezeichen). „Am Reformationstag beschäftigen sich viele Gemeinden mit der Demokratie. Thema sind auch Christinnen und Christen, die rechtsextremen Positionen nahestehen“, schreibt die Evangelische Zeitung (https://www.evangelische-zeitung.de/am-rechten-rand-der-kirche, Eintrag vom 22.10.2024). Tatsächlich wird der Reformationstag in nicht wenigen Gemeinden nicht so sehr mit dankbarem Blick auf die reformatorischen sog. Exklusivpartikel sola scriptura, sola gratia, solus Christus und sola fide gefeiert, sondern mit sorgenvollem Blick auf den Puls der Gesellschaft: Denken noch alle demokratisch?
Als informierter Mensch der Gegenwart wundert man sich: Wer will im Ernst die Demokratie abschaffen? Die „kommunistische Plattform“ der Linken etwa? Versprengte Reste der SED? Aber nein, es geht ja um die „rechten“ Christen. Doch wer gehört da dazu? Und von wem ist ein derartiges Ansinnen bekannt?
Als Kirchenmitglied wundert man sich: Reformationstag … Hat die evangelische Kirche ihr Thema verloren?
Als Bibelleser wundert man sich ebenfalls: Die Bibel gibt doch keine konkrete Staatsform vor. Die Menschenwürde kann in einer liberalen Demokratie ebenso geachtet werden wie in einer konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie (z.B. England, Schweden, Norwegen, Niederlande, Spanien usw.). Die Bibel gibt zwar keine genaue Staatsform, aber sehr wohl Leitlinien für gutes und böses Handeln vor, für das, was Gott gefällt und seiner Schöpfung angemessen ist und das, was seinen Zorn hervorruft und die Schöpfung zerstört. Anstatt Politiker und Volk an die göttlichen Gebote zu erinnern, hat sich der liberale Protestantismus jedoch mehr oder weniger in das Prokrustesbett der Zivilreligion[1] eingefügt: Was darüber steht, wird abgeschnitten; und wenn das Bett unausgefüllt bleibt, wird man gestreckt … Je nach der Meinung, die in den Medien gerade herrschend ist, richten viele Kirchenführer ihre Botschaft aus. Meist wollen sie dazu beitragen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt (= Kern der Zivilreligion) zu stärken. Doch die Exklusivpartikel vertragen sich nicht mit der Inklusionsideologie.
Als Gegenbeispiel neuerer Zeit sei an den früheren Gnadauer Präses Kurt Heimbucher erinnert. In seinem Buch „gez. Kurt Heimbucher. Notizen aus meinem Leben“ (Wuppertal: R. Brockhaus 3 1989, 261 S.) berichtet er von großen Sorgen wegen der Strafrechtsreform 1968. Er sah hier einen Dammbruch; gerade das liberalisierte Sexualstrafrecht sei eine Gefahr für die Jugend. Der Hauptvorstand der Evangelischen Allianz und der Gnadauer Vorstand schrieben damals gemeinsam einen Brief an alle Bundestagsabgeordneten. Außerdem suchte und fand Heimbucher (zusammen mit dem Allianz-Vorsitzenden Paul Schmidt) ein mehrstündiges (!) direktes Gespräch mit Gustav Heinemann, damals Justizminister. Heimbucher fragte: „Könnte es sein, daß wir eines Tages einer politischen Anarchie oder einer neuen Diktatur zusteuern? Gehen wir nicht einem moralischen Chaos ohnegleichen entgegen? Wird dieses Chaos nicht durch die Neufassung des Strafrechts noch wesentlich vergrößert?“ (S. 87) Heinemann antwortete, wie in jenen Jahren auch Helmut Schmidt der katholischen Kirche gegenüber geantwortet hatte: Es könne nicht Aufgabe des Staates sein, Sittenwächter zu spielen. Außerdem müsse man, so Heinemann, Positionen aufgeben, die nicht zu halten seien. Von den zehn Geboten komme nur eine Auswahl für die Gesetzgebung in Betracht, und die Präambel im Grundgesetz („Verantwortung vor Gott“) sei nur ein Appell an den Menschen, aber rechtlich nicht relevant … Als Heinemann Bundespräsident wurde und der § 218 neu gefaßt wurde, schickten Paul Deitenbeck und Heimbucher ein Telegramm an Heinemann mit der Bitte, er möge als Christ das Gesetz nicht unterzeichnen. Heinemann antwortete jedoch nicht – und unterschrieb. Heimbucher war von Heinemann, der im Dritten Reich noch zur Bekennenden Kirche gehört hatte, „tief enttäuscht“ (S. 88).
Es folgten weitere Gespräche im Bundeskanzleramt. Heimbucher sprach offen an, daß die Mißachtung der Gebote Gottes ein schweres Gericht nach sich ziehen würde. Hauptsächlich ging es um die Frage der Kindstötung, aber auch um Gentechnologie (S. 89). Heimbucher resümiert: Es wurde „deutlich, wie sehr Christen … gefordert sind, den Politikern in unserem Volk ethische Richtlinien an die Hand zu geben“ (S. 90).
Treten wir einen Schritt zurück. Der Pietismus früherer Jahrzehnte hat sich, wie das Beispiel zeigt, ganz konkreter ethischer Themen angenommen. Er hat konkret auf die göttlichen Gebote verwiesen und vom Gericht Gottes gesprochen. Demgegenüber erscheinen heutige kirchliche Sorgen um Demokratie und Klima bei gleichzeitiger Nachgiebigkeit gegenüber Abtreibung und Gender-Ideologie sehr abstrakt und lau. Engagement von Christen an dieser Stelle muß oft mit hohem finanziellen und medialen Aufwand erkauft, ja erkämpft werden (ein Ende der Kirchensteuer würde manches zurechtrücken …).
Man hat den Eindruck, als hätte die biblische Linie, die von Heimbucher und seinen Mitstreitern in Gnadau und Landeskirchen vertreten wurde, kaum noch Repräsentanten. Im Gegenteil: Diejenigen, die sich wie er für biblische Positionen einsetzen und diese in Synoden und Parlamenten schützen wollen, werden an den Rand und mitunter herausgedrängt. Das ist der größte Schaden der gegenwärtigen Kirchen, denn es verbaut den Weg zu einer biblischen Erneuerung.
Pastor Dr. Stefan Felber
Quelle: Aufbruch – Informationen des Gemeindehilfsbundes (November 2024)
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Bitte beachten Sie auch das Pro und Kontra in idea zur Frage „Ist es Aufgabe der Kirche die Demokratie zu stärken?“
Literatur:
Eber, Jochen: Der sperrige Luther und das Lutherjahr 2017. Lutherfeiern einst und jetzt, in: Jahrbuch für evangelikale Theologie 27, 2013, S. 123–132.
Eber, Jochen: Die Reformation damals und die evangelische Kirche heute – Außer Thesen nichts gewesen? Ein Vortrag aus Anlass des Reformationsjubiläums 2017, in: Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für theologische Studien (BeTh) 1, 2017, S. 213–236 (beide Artikel von Eber auch online: www.academia.edu)
Grünhagen, Andrea: Die Festursache. Warum wir 2017 Reformationsjubiläum feiern, in: Lutherische Beiträge 22, 4/2017, S. 207–215.
Wallmann, Johannes: Die evangelische Kirche verleugnet ihre Geschichte. Ein Nachtrag zum Reformationsjubiläum, in: Confessio Augustana (CA) IV/2017, S. 69–76.
Ziegert, Karl Richard: Die EKD und das neue Mittelalter. Über die Widersprüche im kirchlichen Reformationsgedenken, in: Deutsches Pfarrerblatt, 7/2016, 383–389. Online: www.gemeindenetzwerk.de/?p=13714 (27. Juli 2016).
[1] Vgl. Felber, Stefan: Kein König außer dem Kaiser? Warum Kirche und Staat durch Zivilreligion ihr Wesen verlieren, Neuendettelsau: Freimund-Verlag 3. Aufl. 2024: Erhältlich beim Gemeindehilfsbund oder beim Verlag.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 3. Januar 2025 um 12:37 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche.