Betrachtungen zum Lobgesang der Maria (1. Teil)
Montag 9. Dezember 2024 von Pfr. Dr. David Jaffin
Das Magnifikat
„Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit“ (Lukas 1, 46-56).
Dieses Magnifikat ist nicht plötzlich vorhanden und verfügbar, ist nicht ein einmaliger Lobgesang, der plötzlich in Marias Herz und Mund kommt, sondern es steht in einer Tradition, wie alles im Neuen Testament. Diese Tradition sind die Lobgesänge der israelischen Frauen. Wir sehen zuerst, dass es vier große Lobgesänge gibt – vier bedeutet in der Bibel »allumfassend“. Das bedeutet ein Zweifaches, und das will ich sehr betonen: Einerseits führen alle diese Lobgesänge zum Magnifikat. Das Magnifikat ist die Erfüllung dieser Lobgesänge. Aber gleichzeitig bedeuten diese vier: „von allen Himmelsrichtungen“. Und jeder dieser Lobgesänge hat sein eigenes Gewicht, so dass manche der Aussagen von Mirjam, Debora und Hanna nicht im Magnifikat zu finden sind, aber trotzdem eine Bedeutung haben für die Endzeit. Deswegen gilt gleichzeitig: Die Lobgesänge sind Verheißung und deren Erfüllung in Marias Magnifikat. Alle diese Lobgesänge tragen in sich einen Teil von Gottes ewiger Wahrheit. Manches, was von Mirjam und Debora gesagt wird, wird nicht erfüllt im Magnifikat, sondern wird erst in der Endzeit mit der Wiederkunft Jesu erfüllt.
Bevor Maria ihren Lobgesang beginnt, unterstreicht sie ihren Glauben: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Hier sehen wir die Voraussetzung dafür, dass gerade Maria Jesus gebären soll. Wir wissen, dass der große Priester Zacharias Gabriels Worten, er und seine Frau sollen ein Kind bekommen, nicht geglaubt hat. Deswegen wurde er mit Stummheit bestraft. Stumm, weil er durch sein Verhalten den Ungehorsam Israels zeigte, und Gott war Israel gegenüber stumm, hat 400 Jahre keinen Propheten geschickt. Und dann wird der zentrale und endgültige Prophet kommen, Johannes der Täufer, der dann dem Messias den Weg bahnen wird mit Vollmacht des Wortes.
Maria aber ist demütig. Manche sagen, Marias Magnifikat sei ein Thema für katholische Christen. Das ist reiner Unsinn, denn es ist ein biblisches Thema. Unsere Auffassung unterscheidet sich von den katholischen Christen in dem, was Luther in seiner sehr schönen Schrift „Magnifikat“ betont: Luther unterstreicht, dass Maria bescheiden ist. Sie erwartet nichts – „Ich bin nur eine arme Magd“ -, aber sie glaubt, sie nimmt an und ist gehorsam. Deswegen achtet Luther Maria für den allergrößten Menschen, weil sie sich auf die allerniedrigste Stufe stellt, arm im Geist, total bescheiden. Die Niedrigen werden erhöht, und die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden. Maria entspricht nicht dieser ganzen Sache mit der „Himmelskönigin“ und „Maria Himmelfahrt“ und alledem; diese Dinge sind nicht biblisch. Aber es gibt eine sehr tiefe, biblische Aussage über Maria, und diese wird deutlich in ihrem Magnifikat und ihrem Verhalten: Sie ist fromm, sie ist schlicht, sie ist bescheiden und weiß doch gleichzeitig um die Macht des Gottes Israels, und sie ist gehorsam.
Und Maria, sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.
Vergleichen Sie das mit Hannas Loblied! Dieses fängt an: Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, mein Haupt ist erhöht in dem Herrn. Mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue mich deines Heils.
Erkennen Sie die Ähnlichkeit, teilweise sogar bis in den Wortlaut hinein? Die Betonung auf Freude, auf Erheben, auf Heil ist in beiden Liedern zu finden. Maria hat diesen Lobgesang der Hanna sehr gut gekannt und im Herzen gehabt. Es ist kein Zufall, dass sie ein Buch bei sich hatte, als der Engel zu ihr kam. „Wie soll ich dich empfangen und wie begeg’n ich dir?“ Maria gibt ihre Antwort auf Grund des Wortes Gottes. Und so soll auch unsere adventliche Antwort sein, denn Jesus kommt bald wieder. Wie sollen wir ihm begegnen? Maria zeigt uns das sehr deutlich: Ãœber das Wort, durch das Wort. Wahres Christentum ist nicht ein schwärmerisches Erlebnis, wahres Christentum ist vom Wort geprägt, von einem tiefen Verständnis der Bibel. Wir sind dazu aufgerufen, die Bibel in ihrer Tiefe verstehen zu lernen, Altes und Neues Testament.
Denn, wie Luther sagte, die ganze Bibel ist eine Einheit. Im Wort Gottes gegründet zu sein ist unsere Vorbereitung, Jesus zu empfangen. So hat es Maria uns gezeigt. Dieser Text: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes“, kommt dem in Hannas Lobgesang sehr nahe, denn sowohl hier als auch dort sind die Aussagen persönlich. Es geht um mein, um unser persönliches Heil. Hanna spricht am Ende ihres Liedes von „seinem Gesalbten“, aber Maria sagt: „mein Heiland“. Das bedeutet, das Persönliche geht bis in meine eigene Erfahrung hinein. Maria wird ihn, Jesus Christus, empfangen – aber auch wir empfangen ihn. Wir empfangen wahres Leben, den Heiligen Geist, durch sein Wort. Deswegen können wir mit Maria beten: „Meine Seele erhebt den Herrn (schaut zu dem Herrn auf), und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.“
Das ist nicht nur Marias Gebet, das ist das Gebet der Christenheit. Auch wir freuen uns Gottes, unseres Heilandes. Das ist die ganze Weihnachtsbotschaft: Wir sollen vorbereitet sein, ihn zu empfangen. Das Wesentliche an Weihnachten sind nicht die Geschenke, die wir bekommen, auch nicht die Geschenke, die wir geben. Wer großen Wert auf die Geschenke allein legt und vielleicht dabei noch im Stillen denkt: „Ich bin ein guter Geber“, verhält sich wie ein Pharisäer. Es geht diesem Menschen um das, was er tut. Die „Welt“, ja, die erhabene Welt redet so: „Nicht das, was ich erhalte, sondern das, was ich gebe, ist wichtig.“ Das ist Pharisäertum! Der wahre Sinn von Weihnachten ist der, dass wir unser Herz öffnen, wie Maria es getan hat, damit wir Jesus Christus empfangen durch sein Wort.
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Dieses Betonen der Niedrigkeit – Maria bezieht diese Niedrigkeit hier auf sich -, steht deutlich auch in Hannas Loblied, aber in einem anderen Zusammenhang. „Er erniedrigt und erhöht.“ Bei Hanna geht es um das allgemeine Wirken Gottes für alle Menschen – durch seinen Gesalbten. Bei Maria dagegen um das persönliche Erlebnis mit Gott. Es geht nicht um dieses und jenes im Allgemeinen, sondern es geht um meine Niedrigkeit. „Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“ Jawohl, wie Hanna sagt, er erniedrigt und erhöht. Er hat Maria erniedrigt, das bedeutet, er hat sie zur Demut gebracht, zu der Erkenntnis, dass sie gar nichts ist und gar nichts zu bringen hat. Und weil er sie erniedrigt hat, kann sie des Herrn Magd sein und wird erhöht werden. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was „Demut“ bedeutet, was „arm im Geist“ bedeutet. Martin Luther war der demütigste Christ der modernen Zeit. Menschlich gesehen war er arrogant und selbstsicher. Die katholische Kirche hat ihm vorgeworfen: „Wer bist du, zu sagen, dass die ganze Tradition falsch ist?“ „Ich stehe hier“, sagte Martin Luther, „ich kann nicht anders.“ Im Auftritt war Martin Luther absolut selbstsicher. In den Augen der „Welt“ ist dies nicht Demut, sondern Selbstsicherheit, Arroganz. Aber warum tat er das? Weil es hier geschrieben steht; er handelte nach des Herrn Wort. Das bedeutet, er war total demütig und gehorsam gegenüber dem Herrn. Vorsicht vor den Menschen, die immer demütig spielen! So haben die katholischen Gegner Luthers immer vorgetäuscht, demütig zu sein: Wir nehmen die Tradition an, wir erheben uns nicht, erlauben uns nicht unser eigenes Urteil. Wiewohl sie sich als demütig ausgaben, waren sie doch hoffärtig.
Luther hat im Jahre 1515, kurz vor der Reformation, in seiner Römerbriefauslegung einen der tiefgehendsten Sätze, die ich kenne, niedergeschrieben: „Ich werde mich in der Hölle der Verdammnis von Gottes Wort richten lassen, wenn Gott das will, denn ich will, dass Gottes Wort an mir geschehe.“ Demut ist die Erkenntnis: Es kommt nicht darauf an, wie ich bin, es kommt darauf an, wie er ist und was er will. Aber mit Recht sagt er dann dazu: „Aber, wird Gott mich verdammen, wenn ich bereit bin, diese Verdammnis anzunehmen?“ Luther blieb trotz seiner Erkenntnis in der Demut vor Gott. Es war nicht eine gespielte Demut wie bei den katholischen Theologen seiner Zeit. Er war getroffen von Gottes Wort, er war getötet durch Gottes Wort. Nur der, der mit Jesus Christus stirbt, wird mit ihm leben. Nur der, der sich erniedrigt, wird erhöht. Das war der Weg Marias und es war der Weg Martin Luthers. Und ich hoffe, es ist unser aller Weg. Nicht unsere Frömmigkeit wollen wir vor den anderen Menschen zeigen, auch nicht damit auftischen, wie besonders begnadet wir sind, sondern wir wollen uns immer vor Augen halten: Herr Jesus, alles, was ich habe und bin, kommt von dir, ich gehöre dir allein, und ich habe nichts von mir selbst. Denn ohne ihn können wir nichts tun. Genau das sagt Maria hier.
„Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.“
Man könnte sagen: Das ist Hochmut! Wer ist diese einfache, arme Jüdin, zu behaupten, alle würden sie preisen? – Nein, sie meint nicht, dass sie ihrer Person wegen gepriesen werden wird. Nein, sie wird darum gepriesen, weil sie Jesus Christus empfangen und geboren hat. Das ist Niedrigkeit. Es geht nicht darum, dass sie hochgestellt wird, sondern darum, dass sie den Heiland geboren hat. Maria sagt diese Worte – „Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder“ – als prophetische Aussage. Sie preist sich selbst nicht, nein, sie nennt sich nur eine einfache Magd. Wer bin ich, etwas zu bringen? Das ist einfach eine Tatsache, dass sie gepriesen werden wird, und sie wird es heute. Wir preisen sie nicht wie die katholische Kirche, sondern wir erkennen in Maria einen wahren, demütigen, gehorsamen Menschen und ein Vorbild für uns zu Advent.
„Wie soll ich dich empfangen …“, das ist das zentrale Adventslied; ich kann es nicht oft genug singen und hören. In ihm werden verschiedene Stufen des Kommens Jesu besungen, wie und wozu er kommt, zum Schluss kommt er auch zum Weltgericht. Von Maria können wir lernen, wie wir ihn, den Herrn, empfangen sollen: in Demut, in Gehorsam und in der Erkenntnis: Ich habe nichts zu bringen. „Denn er hat große Dinge an mir getan …“ Nicht ich habe Großes getan, es sind nicht meine Werke, es ist nicht mein Heldentum, nicht meine Sicherheit, sondern er hat große Dinge an mir getan.
Quelle: David Jaffin, Das jüdisch-christliche Weihnachtsbuch (2003) – Der 2. Teil folgt
Der Gemeindehilfsbund denkt mit Dankbarkeit an sein langjähriges Mitglied Pfr. Dr. David Jaffin, heimgegangen an seinem 87. Geburtstag am 14. September 2024.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 9. Dezember 2024 um 15:29 und abgelegt unter Buchempfehlungen, Seelsorge / Lebenshilfe, Theologie.