Zähle die Tage! – Eine Predigt über den 90. Psalm
Samstag 9. November 2024 von Johann Hesse
1. Zähle die Tage und suche Zuflucht bei dem ewigen Gott
1.1Â Â Â Â Ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes
1 Ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes. Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. / 2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit (Ps 90,1-2).
Dieser Psalm hat unter den 150 Psalmen eine besondere Stellung, da er als einziger Psalm eindeutig als „Gebet des Mose“ bezeichnet wird. Damit nimmt er uns hinein in die Frühgeschichte des Volkes Israel und in die innige Beziehung zwischen dem lebendigen Gott und Mose.
Dieser Mose, von dem es heißt: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2. Mose 33,11) und der hier in der Ãœberschrift des Psalms als Mann Gottes (isch haelohim) vorgestellt wird. Mose ist der Mann Gottes, so lesen wir es auch in 5. Mose 33,1 (vgl. Josua 14,6): Er steht in einer engen Beziehung zu Gott, er gehört Gott, er gehört zu Gott, er gehorcht Gott, er spricht zu Gott und Gott zu ihm – wie ein Freund – und wer ihn hört, der hört Gott. Mose, der Mann Gottes! Ein Ehrentitel, der auch seine Autorität und Vollmacht unterstreicht.
1.2Â Â Â Â Der Mann Gottes und das Evangelium von der Auferstehung
In seiner Auslegung zum 90. Psalm zeigt Luther, dass der Name „Mann Gottes“ auch die Botschaft des Evangeliums enthält und erinnert an das Wort Jesu an die Sadduzäer: „Habt ihr denn nicht gelesen von der Auferstehung der Toten, was euch gesagt ist von Gott, der da spricht: »Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs«? Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mt 22,31-32). Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist der Gott Mose, ein Gott der Lebenden. Und tatsächlich: Wer trifft mit Jesus auf dem Berg der Verklärung zusammen? Es sind Mose und Elia. Weil Mose der „Mann Gottes“ ist, gehört er zu dem ewigen Gott, der den Seinen die Auferstehung aus den Toten und das ewige Leben schenkt.
1.3    Ein Psalm der Wüstenwanderung
Unser Psalm passt sehr gut zur 40-jährigen Wüstenwanderung des Volkes. Die Kundschafter, außer Josua und Kaleb, hatten Zweifel gesät, Angst und Panik verbreitet und so Israel zum Unglauben gegenüber Gottes Zusagen und zur Rebellion gegen Mose angestachelt. Gottes Zorn über das sündige Volk führte zum tödlichen Gericht:
„Nach der Zahl der vierzig Tage, in denen ihr das Land erkundet habt – je ein Tag soll ein Jahr gelten –, sollt ihr vierzig Jahre eure Schuld tragen, auf dass ihr innewerdet, was es sei, wenn ich mich abwende. 35 Ich, der HERR, habe es gesagt und wahrlich, das will ich auch tun mit dieser ganzen bösen Gemeinde, die sich gegen mich empört hat. In dieser Wüste sollen sie aufgerieben werden und dort sterben“ (4. Mose 14,34-35).
Der Lohn der Sünde ist der Tod (Röm 6,23). So auch hier. Der Ungehorsam Israels führte dazu, dass eine ganze Generation in der Wüste aufgerieben werden sollte.
1.4    Lehre uns die Tage zählen
Gott hatte genau gezählt. Vierzig Tage waren die Kundschafter unterwegs. Nun sollten aus 40 Tagen 40 Jahre werden. In seinem Gebet bittet Mose darum, dass Gott seinem Volk beibringt, die Tage zu zählen. Menge übersetzt Vers 12 wörtlich so:
„Unsere Tage zählen, das lehre uns, dass ein weises Herz wir gewinnen.“ (ME)
Damit war nun nicht gemeint, dass man jeden Tag zählen sollte, sondern zu bedenken, dass die Tage gezählt sind. Das hebräische „Limnot“ ist verwandt mit dem Wörtlein „mene“, das wir auch aus Daniel 5 kennen: Mene, mene. Tekel u parsin. Daniel übersetzt das mene, mene mit: „Gezählt und beendet“. Wir sollen zählen lernen und bedenken lernen, dass wir sterben müssen. Darum übersetzt Luther auch sinngemäß richtig:
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (LUT)
Von Natur aus können wir das nicht. Wir brauchen Gottes Hilfe dazu. Gott muss uns die Augen öffnen für die Kürze unserer Tage und mit Blick auf die kurze Dauer unseres Lebens weise zu werden.
1.5Â Â Â Â Der Herr ist unsere Zuflucht
Mose zeigt uns gleich zu Beginn seines Gebetes, wie das ganz praktisch aussieht. Er betet zu dem ewigen Gott: „Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.“ Die Elberfelder übersetzt wörtlicher: „Herr, du bist unsere Wohnung (maon) gewesen von Geschlecht zu Geschlecht“. Seit Adam und Eva sind schon viele Generationen vergangen, immer aber hat es Menschen gegeben, die bei dem ewigen Gott ihre Wohnung und damit ihre Zufluchtsstätte gefunden haben. Wir denken an einen Abel, einen Henoch, einen Noah oder Abraham, Isaak und Jakob. Mose segnet den Stamm Asser mit diesen Worten: „Zuflucht (meonah) ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen“ (5. Mose 33,27).
1.6    Der vergängliche Mensch und der ewige Gott
„Ehe denn die Berge (geboren) wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps 90,2).
Möglich, dass Mose hier im Gebet die Berge des mächtigen Sinaimassivs vor Augen hatte. Der Berg Sinai ist 2.285 Meter, der Katharinenberg ist 2.637 Meter hoch, der höchste Berg Ägyptens. Wer die gewaltigen Berge in den Alpen vor Augen hat, der steht ehrfürchtig und staunend davor: welche Höhe, welche Masse, welch hohes Alter! Die uralten Steine verleiten manche das Alter der Erde in Millionen von Jahren zu rechnen. Wir wissen aus der Heiligen Schrift, dass dem nicht so ist. Wir glauben gut begründet an eine junge Erde! Doch aus der Perspektive der Ewigkeit Gottes sind die mächtigen Berge gerade eben erst geboren. Der Himmel und die Erde, alles Geschaffene – aus Gottes Perspektive ist es alles noch ganz jung und frisch. Alles war wir sehen ist zeitlich, Gott, den wir nicht sehen, ist vor der Zeit, außerhalb der Zeit und über der Zeit, er ist ewig, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Mose flüchtet sich betend aus der zeitlichen und räumlichen Enge dieser Welt zu dem ewigen Gott und findet in ihm den wahren Zufluchtsort. Wir sollen es ihm nachmachen und wie er lernen, die Tage zu zählen, die Kürze des Lebens zu bedenken und hin zu dem fliehen, der allein ewig ist: Der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs, der Gott Mose, der sich uns in Jesus Christus offenbart hat.
2. Zähle die Tage und bedenke die Kürze deines Lebens
„Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! 4 Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. 5 Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, / sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, 6 das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt“ (Ps 90,3-6).
2.1Â Â Â Â Von Gott zerschlagen und zu Staub zermalmt
„Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!“
Hier im dritten Vers ist wörtlich von der Zermalmung oder Zerschlagung die Rede. Gott lässt den Menschen zur Zermalmung kommen. Er wird pulverisiert, Erde zu Erde, Staub zu Staub. Mose hatte es noch vor Augen, als der Herr den Pharao und seine Elitetruppe mit Pferd und Wagen im Schilfmeer zerschlug:
„Des Pharao Wagen und seine Macht warf er ins Meer, seine auserwählten Streiter versanken im Schilfmeer. 5 Fluten haben sie bedeckt, sie sanken in die Tiefe wie Steine. 6 HERR, deine rechte Hand, herrlich an Kraft, deine rechte Hand, HERR, zerschlägt den Feind“ (Lobgesang des Mose, 2 Mose 15,4-6).
Aber auch das eigene Volk: Abertausende mussten in der Wüste ihr Leben lassen. Eine ganze Generation wurde in der Wüste aufgerieben, zermalmt durch Hitze, Strapaze und Erschöpfung: „In dieser Wüste sollen sie aufgerieben werden und dort sterben“ (4. Mose 14,35) Der Staub einer ganzen Generation des Volkes Israel vermischte sich mit dem Staub der Wüste. Und wenn Gott die nächste Generation herbeiruft: „Kommt wieder, Menschenkinder!“, dann zerschlägt er auch diese neue Generation.
Warum muss der Mensch sterben? Mose betet: „Der du die Menschen sterben lässt“. Der Tod ist ein Urteil Gottes über den Menschen. Im Lied des Mose sing Mose: „Sehet nun, dass ich’s allein bin und ist kein Gott neben mir! Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen, und niemand kann aus meiner Hand reißen. 40 Denn ich will meine Hand zum Himmel heben und will sagen: So wahr ich ewig lebe (5. Mose 32,39-40).
Das „Kommt wieder, Menschenkinder!“ beinhaltet aber auch eine ermutigende Mehrdeutigkeit. Einerseits kann es so verstanden werden, dass Gott eine neue Generation herbeiruft, die aufwächst und wiederum zermalmt wird (so mit M. Luther). Man kann aber darin auch einen Ruf zur Umkehr lesen: „Kehrt um, ihr Menschenkinder und kehrt zurück zu mir, dem ewigen Gott! Kehrt um, ihr Menschenkinder, aus Sünde, Tod und Gericht zu mir, dem ewigen Zufluchtsort.“
2.2Â Â Â Â Tausend Jahre wie ein Tag
„Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache“ (Ps 90,4).
Mose vergleicht die Ewigkeitsperspektive Gottes mit unserer zeitlich begrenzten Perspektive. Wenn tausend Jahre auf Erden verstrichen sind, dann ist das für den ewigen Gott wie der gestrige Tag oder wie eine Nachtwache. Die Israeliten unterteilten eine Nacht in drei Nachtwachen von jeweils vier Stunden. Tausend Jahre auf der Erde, aus Gottes Ewigkeitsperspektive erscheint dieser Zeitraum wie ein Tag, wie eine Nachtwache, wie ein Augenblick. Vor ihm treten die Generationen kurz ins Blickfeld, um dann wieder in den Staub zurückzusinken.
Übrigens wird dieser Vers immer wieder herangezogen, um die sechs Schöpfungstage des Schöpfungsberichts künstlich zu verlängern. Man sucht nach innerbiblischen Hinweisen, die Millionen Jahre der Evolutionstheorie irgendwie zu rechtfertigen. Hier sei nur in Kürze gesagt: Damit tut man diesem Vers Gewalt an.
Er sagt lediglich: In den Augen Gottes sind tausend Jahre auf der Erde wie der gestrige Tag (kejom etmol). Die Begriffe Tag und Tausend werden zwar miteinander verglichen, aber es findet keine Gleichsetzung statt, als ob das hebräische Wort für Tag (jom) auch eine Zeitspanne von tausend Jahren oder sogar Millionen Jahren bezeichnen könne.
Zieht man 2. Petrus 3,8 hinzu wird es noch deutlicher: „Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag.“ Auf der Erde bleibt ein Tag ein Tag, tausend Jahre sind tausend Jahre, Gott aber Gott steht außerhalb unserer Zeitrechnung. Er war vor der Zeit, er steht außerhalb und oberhalb aller Zeit.
2.3    Die Vergänglichkeit des Menschen
„Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, / sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, 6 das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt“ (Ps 90,5-6).
2.3.1 Der Mensch – Hinweggeschwemmt ins Totenreich
„Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom“ oder mit Menge wörtlicher „Du schwemmst sie hinweg“.
In Hesekiel 32 gibt es das beeindruckende Gerichtswort über den Pharao und sein stolzes und mächtiges Volk, wie es sich zu den Erschlagenen der anderen Völker legt:
„Da liegt Assur mit seinem ganzen Volk, ringsherum seine Gräber, sie alle erschlagen und durchs Schwert gefallen! 23 Seine Gräber bekam es in der tiefsten Grube, und sein Volk liegt rings um sein Grab, alle erschlagen und durchs Schwert gefallen“ (Hes 32,22-23). Und dann werden alle anderen Völker aufgezählt, die dort ebenfalls liegen: Elam, Meschech und Tubal, Edom, die Sidonier und eben auch die Ägypter und seine Pharaonen.
Und so geht es durch die Generationen, Völker und Reiche dieser Welt und durch die Jahrtausende: die Babylonier, die Perser, die Griechen, die Römer und bis hin zu den heutigen Völkern und Kulturen. Sie alle schwemmt der Tod hinweg ins Totenreich.
Mitte Oktober war ich mit unseren beiden Jungs in Rom. Es ist wirklich beeindruckend über das Forum Romanum oder den Palatin zu laufen. Und dann steht man auf den alten Mosaikböden, man staunt über die Ausmaße der kaiserlichen Paläste, man stellt sich vor, wie der Kaiser auf der Terrasse stand und hinunterblickte auf die 150.000 Menschen, die ihm im Circus Maximus zujubelten. Wo ist die Pracht? Wo sind die Menschen? Wo sind die Mächtigen und die jubelnden Massen? Wo sind die Soldaten in glänzenden Rüstungen?
„Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, du schwemmst sie hinweg.“
2.3.2 Der Mensch – wie ein Schlaf
„Sie sind wie ein Schlaf.“ Wenn wir uns abends ins Bett legen und einschlafen, dann wachen wir morgens auf und fragen uns, wo die ganzen Stunden geblieben sind. Es geht so schnell und wir bekommen davon nichts mit. Vielleicht hatten wir auch einen Traum, aber auch der ist schnell wieder dahin und wir haben auch keinen Plan, wie lange der nun dauerte. So wird unser ganzes Leben mit einem kurzen Schlaf verglichen. Wo sind all die Jahre eigentlich geblieben? Ging das nicht alles so unfassbar schnell! Und plötzlich sind wir 50,70, 80 oder 90 Jahre – und dann ist es vorbei. Wie ein Schlaf, wie ein Traum.
2.3.3 Der Mensch – wie das Gras
„…wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, 6 das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt“ (Ps 90,5-6).
Durch die Bibel hindurch werden wir daran erinnert, dass unser Leben nur von kurzer Dauer ist, es ist wie das Gras, das heute aufblüht und unter der Sonnenhitze wieder verwelkt: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; 16 wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr“ (Psalm 103,15-16).
2.3.4 Der Mensch – Sein Leben vergeht wie im Flug
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon“ (Ps 90,10; LUT).
Die Tage unserer Jahre sind siebzig Jahre, und, wenn in Kraft, achtzig Jahre, und ihr Stolz ist Mühe und Nichtigkeit, denn schnell eilt es vorüber, und wir fliegen dahin. (Ps 90,10; ELBF)
Mose selbst wurde 120 Jahre alt, aber offensichtlich war es bereits zu seiner Zeit eher üblich, 70 oder höchstens 80 Jahre alt zu werden. Die Angaben sind als ungefähre Mittelwerte zu verstehen. Luther schreibt über die Zeit des 16. Jahrhunderts: „Wie daher Moses als ein gemeines Ziel siebzig Jahre setzt, so können wir zu unserer Zeit vierzig oder fünfzig Jahre setzen, denn es sind sehr wenige, welche das sechzigste Jahr erreichen und die werden so angesehen, dass sie in einem hohen Alter seien.“[1] Luther führt dies darauf zurück, dass die Menschen in „unmäßiger Schwelgerei, Fressen und Saufen verderben“. Ungesunde Lebensweise verkürzt das Leben.
Doch selbst wenn wir wie Mose 120 Jahre alt oder wie Noah 950 Jahre oder eben 80 oder 90 Jahre alt werden würden: Die Jahre eilen vorüber wie im Flug! Wer in diesen Wochen in den Himmel blickt, der sieht die Kraniche oder Gänse in den Süden ziehen. Man hört sie kommen, dann sieht man den Keil vorüberziehen und sie verschwinden in der Ferne. So plötzlich wie sie gekommen sind, sind sie auch schon wieder auf und davon. So ist auch unser Leben – ein kurzer Flug des Lebens, es eilt schnell vorüber.
Zähle die Tage und bedenke die Kürze deines Lebens.
2.4    Die Studentin auf dem Rückflug
Auf dem Rückflug von Rom nach Berlin saß ich neben einer jungen Studentin aus Rostock. Ich saß in der Mitte und sie saß am Fensterplatz. Ich kam mit ihr ins Gespräch und ich erzählte ihr, dass ich vor vielen Jahren als Student von Bremen nach London war. Ich war noch kein Christ. Als London bereits unter uns lag und ich aus dem Fenster blickte, fragte ich mich plötzlich, was mit mir denn passiere, wenn das Flugzeug abstürzt. Ich hatte bis dahin 24 Jahre gelebt und mir nie die Frage nach der Endlichkeit meines Lebens gestellt. Nun erzählte ich ihr von meiner Geschichte, um auch sie zum Nachdenken zu bringen: Ja, was ist denn mit uns, wenn das Ende viel schneller kommt als gedacht? Ich erzählte ihr, dass ich die Antwort in der Bibel gefunden hatte. Sie fragte später: „Was würden Sie mir empfehlen, wenn ich mich neu mit dem christlichen Glauben auseinandersetzen wollte?“ Ich empfahl ihr, das Johannesevangelium zu lesen. Dort findet man die Antwort, die uns aus der Vergänglichkeit des Todes ins ewige Leben führt. Jesus spricht:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh 5,24).
3. Zähle die Tage und bedenke den Zorn Gottes
„Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen. 8 Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. 9 Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn, wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. 10 Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe;[1] denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. 11 Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?“ (Ps 90,7-11)
3.1Â Â Â Â Der Zorn Gottes
Warum muss der Mensch sterben? Warum ist unser Leben wie ein Schlaf? Warum sind unsere Tage gezählt? Warum leben wir nicht ewig? Weil Gott zornig auf uns ist!
„Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen“ (Ps 90,7).
„Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn, wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz“ (Ps 90,9).
„Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?“ (Ps 90,11).
Israel lebte mit Gott im Bund. Es stand unter dem Bundesschluss vom Sinai. War Israel gehorsam, wurde es mit Segnungen überschüttet. Brach es den Bund, übertrat es die Gebote und wählte es andere Götter, dann kam der Zorn Gottes über das Volk:
Denn der HERR, dein Gott, ist ein eifernder Gott in deiner Mitte –, dass nicht der Zorn des HERRN, deines Gottes, über dich entbrenne und dich vertilge von der Erde (5 Mose 6,15).
3.2    Die Sünde des Menschen
Der Zorn Gottes ist die gerechte Antwort des heiligen Gottes auf die Sünde des Menschen, der Gottes Wort missachtet und seine Gebote übertritt und den nicht liebt, der ihn geschaffen hat.
„Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht“ (Ps 90,8).
Mose erinnert uns in diesem Gebet daran, dass Gott unsere Sünden sieht. Er kennt unsere Verdorbenheit, er kennt unsere verborgenen Sünden. Er sieht durch unsere Masken hindurch und sieht, was aus unserem Herzen kommt: „Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung“ (Mt 15,19).
Und weil wir Sünder sind, kommt der Zorn Gottes über uns und weil der Zorn Gottes über uns ist, müssen wir sterben: „Denn der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm 6,23).
Die Antwort auf unsere Sünden ist jedoch nicht nur der leibliche Tod, sondern der geistliche und damit auch der ewige Tod. Darum heißt es am Ende der Offenbarung:
„Und der Tod und die Hölle wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der zweite Tod: der feurige Pfuhl. 15 Und wenn jemand nicht gefunden wurde geschrieben in dem Buch des Lebens, der wurde geworfen in den feurigen Pfuhl (Offb 20,14-15).
Unsere Schuld, unsere Sünden, unser Unglaube, unsere Gottlosigkeit trennen uns für immer und ewig von dem heiligen Gott. Der natürliche Mensch steht unter dem ewigen Zorngericht Gottes, er endet in der Hölle ewiger Gottverlassenheit.
3.3    Sünder in der Hand eines zornigen Gottes
Der berühmte Erweckungsprediger Jonathan Edwards (1703-1758) hielt am 8. Juli 1741 in Enfield, Connecticut wohl einer der berühmtesten und meistgelesenen Predigten, die auf dem nordamerikanischen Kontinent gehalten wurde. Es ist die Predigt „Sünder in den Händen eines zornigen Gottes“ (Sinner in the hands of an angry God)
„So hält denn Gott die natürlichen Menschen in Seinen Händen über dem Abgrund der Hölle; denn sie haben ja die brennende Hölle verdient und sind schon dazu verurteilt; sie haben Gott auf furchtbare Weise herausgefordert; Sein Zorn gegen sie ist so heftig wie gegen diejenigen, welche jetzt schon die Vollziehung Seines Grimmes erdulden müssen; sie haben ja nicht das Geringste getan, um diesen Zorn zu besänftigen oder zu beseitigen. Gott ist also nicht durch die geringste Verpflichtung gebunden, sie nur einen Moment in Schutz zu nehmen. Der Teufel wartet auf sie; die Hölle sperrt ihren Rachen auf gegen sie; die Flammen umzüngeln sie miteinander und möchten sie gerne erfassen und verschlingen; das in ihren Herzen nur glimmende Feuer ringt darnach, auszubrechen. Sie haben kein Anrecht auf einen Mittler; nichts in ihrem Bereich kann ihnen irgendwelche Sicherheit bieten. Kurz gesagt: Sie haben keinen Ort der Zuflucht; nichts, woran sie sich halten könnten. Was sie in jedem Augenblick noch bewahrt, ist nur der erhabene Wille Gottes, die unverbindliche, an keine Verpflichtung gebundene Langmut des erzürnten Gottes.
O Sünder, bedenke doch die schreckliche Gefahr, in der Du schwebst!
3.4Â Â Â Â Der moderne Mensch und der Zorn Gottes
Für moderne Ohren klingt das wie aus einer anderen Welt. Doch die Bibel mahnt uns, den Zorn Gottes zu bedenken: „Doch wer bedenkt die Gewalt deines Zorns und deinen Grimm trotz deines furchtbaren Waltens? Unsere Tage zählen, das lehre uns, dass ein weises Herz wir gewinnen“ (Ps 90,11).
Lehre uns die Tage zu zählen, die Kürze unseres Lebens zu bedenken und dabei auch über den gerechten Zorn Gottes nachdenken und die zeitlichen und ewigen Konsequenzen seines heiligen Zornes zu bedenken.
Ahnen wir etwas von dem Gewicht der Worte Jesu, wenn er sagt:
Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, die ihr das Gesetz übertretet! (Mt 7,23).
Und den unnützen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern (Mt 25,30).
Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben (Mt 25,46).
Zähle deine Tage und bedenke den Zorn Gottes!
4. Zähle die Tage und bedenke die Gnade Gottes in Christus
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. 13 HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig! 14 Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. 15 Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden. 16 Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Herrlichkeit ihren Kindern. 17 Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!“ (Ps 90,12-17)
4.1    Mose kennt den gnädigen Gott
Mose weiß, dass der Herr nicht ewige zürnt. Mose kennt die Wege Gottes. Mose wendet sich betend an den heiligen Gott, weil er weiß, dass es einen Ausweg aus Sünde, Schuld, Tod und ewiger Verdammnis gibt:
David betet in Psalm 103: „Er hat seine Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun. 8 Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. 9 Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben.
Weil Mose Gottes Wege und sein Wesen kennt, bittet er den Herrn um Gnade und Vergebung. Wie am Sinai und nach dem Tanz um das goldene Kalb fleht er Gott im Gebet um Gnade an. Nach seiner Fürbitte für das Volk heißt es: „Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte“ (2. Mose 32,14). Darum betet er auch hier: „HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig! Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang“ (Ps 90,13-14).
Mose weiß, dass der sündige und dem Tod, ja dem ewigen Tod verfallene Menschen in dem ewigen Gott Zuflucht finden kann, wenn er zu ihm umkehrt und sich in seine ewigen Arme flieht.
4.2Â Â Â Â Jesus ist die Antwort auf das Gebet des Mose
Der Herr beantwortet das Gebet des Mose im 90. Psalm mit dem Kommen Jesus:
„Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. 16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,14-16).
Der am Kreuz erhöhte Herr, der auf Golgatha den Zorn Gottes auf sich nahm, der stellvertretend für unsere Schuld sein Leben ließ, der den Tod auf sich nahm, damit wir ewiges Leben und bei dem ewigen Gott Zuflucht finden können, ist die Antwort auf das Gebet des Mose. Bei Jesus entrinnen wir dem Zorn Gottes und dem ewigen Tod, durch Jesus haben wir das ewige Leben!
Vers 13: „HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns“: Jesus sagt: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh 14,9). Der Heilige Gott kehrt uns in Jesus Christus sein Antlitz zu.
Verse 13-14: „Sei deinen Knechten gnädig! Fülle uns frühe mit deiner Gnade“:
„Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,16-17). Wer an Jesus Christus glaubt, der findet Gottes Gnade.
Verse 14-15: „Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden.“
Wer Jesus hat, der darf allezeit fröhlich sein: „Seid allezeit fröhlich“ (1. Thess 5,16) und das nicht nur „unser Leben lang“, sondern bis in alle Ewigkeit: „Lasst uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereitet“ (Offb 19,7).
Vers 16: „Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Herrlichkeit ihren Kindern.“
„Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)
In Jesus zeigt uns der Herr das größte Werk: Die Menschwerdung des Gottessohnes, sein Leiden und Sterben am Kreuz, die Auferstehung von den Toten: In Jesus sehen wir die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
Vers 17: Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!“ (Psalm 90,17)
„Darum, meine lieben Brüder und Schwestern, seid fest und unerschütterlich und nehmt immer zu in dem Werk des Herrn, denn ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.“ (1. Kor 15,58) In Jesus fördert und festigt der Herr das Werk unserer Hände, in ihm sind unsere Werke nicht vergeblich getan. Luther führt die Bekräftigung darauf zurück, dass hier die geistlichen Werke im Reich zur Rechten einerseits und die weltlichen Werke im Reich zur Linken gemeint sein könnten.
- Zähle die Tage und suche Zuflucht bei dem ewigen Gott
- Zähle die Tage und bedenke die Kürze deines Lebens
- Zähle die Tage und bedenke den Zorn Gottes
- Zähle die Tage und bedenke die Gnade Gottes in Christus
Amen
Prediger Johann Hesse, Predigt im Abendmahlsgottesdienst des Gemeindehilfsbundes am 3.11.2024.
Die Predigt hier ansehen und hören.
[1] Luthers Sämtliche Schriften, Bd. V, Auslegungen über die Psalmen, Auslegung des 90. Psalms, Sp. 779-780.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Samstag 9. November 2024 um 6:54 und abgelegt unter Predigten / Andachten.