Wieder mehr Kinder in Deutschland – und ab in die Krippe?
Der Brutpflegeinstinkt ist nicht nur bei Säugetieren ein ausgeprägtes Streben: die Kampfbereitschaft einer Bache, die mit ihren Frischlingen umherstreift; die Hingabe von Schwalbeneltern beim Füttern der piepsenden Jungen. Wir Menschen haben es da schwerer, wir sind nicht so festgelegt. Zwar gibt es Erziehungstraditionen, aber wir können uns auch mal was Neues ausdenken. Unsere Kleinkinder zum Beispiel, die könnten wir öfter und früher in Krippen schicken, ruhig auch schon mit drei Monaten, wie kürzlich der „Spiegel“ unbekümmert empfahl. Gut, das sind berufstätige Journalisten, die wollen vielleicht den eigenen Lebensstil rechtfertigen; und es ist ja auch schwer zu unterscheiden, ob ein Krippenkind, das nicht weint, zufrieden ist – oder bereits traumatisiert. Bis man merkt, ob solche Menschenversuche ein Fortschritt sind oder ein Fehler, vergeht jedenfalls Zeit – erst an ihren Früchtchen werdet ihr sie erkennen. Man kann also nur abwarten und hoffen. Oder man erhebt sich einmal übers Tagesgeschäft – und befragt einen Maßstab aus weniger gehetzten Zeiten.
Vor 100 Jahren begründete Alfred Adler in Wien die Individualpsychologie, eine Art Brückenschlag zwischen Tiefenpsychologie und Pädagogik. Er war schon damals ein strikter Verfechter der Gleichberechtigung der Geschlechter – und ein entschiedener Gegner der „Ohrfeige zur rechten Zeit“ bei Kindern. Adlers Beratungsstellen fanden regen Zulauf: Verfahrene Eltern-Kind-Beziehungen vermochte er oft mit wenigen Hinweisen wieder zu richten, und Lehrer fanden bei ihm Zugang auch zu ihren schwierigsten Schülern. Was würde er wohl zur heutigen Krippeneuphorie sagen?
Adler würde sich wundern: Daß immer mehr Mütter ihr kleines Kind schon früh und bedenkenlos in eine Krippe geben. Und daß Journalisten wie Politiker voll des Lobes über diesen Trend zur institutionellen Fremdbetreuung sind. Aus seiner Erfahrung sprach nämlich alles dafür, daß „eine Mutter das größte Erlebnis der Liebe und Kameradschaft verkörpert, das ein Kind je hat.“
Die Bindungsforschung hat dies stets bestätigt, und die deutschen Psychoanalytiker haben es nun erneut betont: Ein Kleinkind braucht lange, bis zu 36 Monaten, eine mütterliche, sensible, sich nach ihm sehnende Person in seiner Nähe. Ohne diese besonders geschützte Umgebung entsteht zu wenig Urvertrauen, riskiert man Lernstörungen in der Schule, erhöhte Aggressivität im Jugendalter, womöglich lebenslange innere Unruhe.
Nun, nicht selten wollen oder müssen Mütter schon früh wieder berufstätig sein. Dann aber ist die Betreuung durch vertraute Personen wie den Vater oder die Oma – es kann auch eine dauerhafte und kompetente Tagesmutter sein – meist besser als die Aufbewahrung in öffentlichen Krippen. Oft muß eine Erzieherin nämlich mehr als die empfohlenen drei bis vier Kleinen im Auge haben, und viel zu selten ist das Personal frühpädagogisch genügend geschult.
Adler würde Eltern allerdings auch vor dem anderen Extrem warnen. Wer dauernd um sein Kind herumtanzt, es beziehungsmäßig verwöhnt, der handelt sich leicht einen kleinen Tyrannen ein. Mütter – oder Väter – sollten lieber schon früh damit beginnen, die Kleinen zu häuslichen Mitarbeitern zu machen. „In der Welt“, so der Psychologe, „gäbe es weit weniger Elend, wenn Kinder sich nützlich fühlen würden, anstatt lästig zu fallen.“
Auch für diese Sichtweise gibt es heute prominente Unterstützung: So plädiert die schwedische Feministin Anna Wahlgren in ihrem Bestseller „Kleine Kinder brauchen uns“ nicht nur vehement dafür, Kinder zuhause aufwachsen zu lassen, bis sie mindestens drei sind – man dürfe sie dabei auch nicht ständig betüddeln, sie nicht zu narzisstischen Mittelpünktchen machen.
Vielleicht wirkt ein solcher Blick auf unsere Nachwuchslandschaft rückwärtsgewandt. Wer Müttern die frühe Fürsorge besonders ans Herz legt, verstört derzeit viele. Die Formung eines neuen Menschen dagegen aus der Familie auszulagern und an fremde Dienstleister, die neuen „Märkte der Sorge“, zu delegieren, das befremdet offenbar weniger.
Gerade in der Mittelschicht rangiert Arbeitsdrang vielfach vor Erziehungslust, überflügelt das Produktive quasi das Reproduktive, triumphiert – so könnte man zuspitzen – das Materielle über das Menschliche. Aber: Greifen früherziehende Mütter nicht stärker ins Weltgeschehen ein als etwa die Werbegrafikerin, deren Plakatentwurf heute bejubelt wird – und morgen bereits vergessen ist?
Der Gesamtbevölkerung ist diese Weisheit weniger fremd: Laut einer IPSOS-Erhebung für das Familiennetzwerk würden 70 Prozent aller Befragten ihr Kind in den ersten drei Jahren gerne selbst zu Hause großziehen – wenn’s nur finanziell hinkäme. Nicht aus Arbeitsscheu oder Antiquiertheit, sondern wegen der „Lust, Mutter zu sein“.
Ein Buch dieses Titels stammt übrigens nicht aus der Feder von Bischof Mixa, sondern von Daphne de Marneffe, einer feministischen Psychologin. Manchem Getriebenen aus Lohnarbeitswelt und Eventkultur mögen Familienarbeiter als Langweiler erscheinen. Aber könnten das nicht auch Unkenrufe sein – von familiären Habenichtsen?
Michael Felten, geboren 1951, arbeitet seit 25 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Autor von Unterrichtsmaterialien und Präventionsmedien, Erziehungsratgebern und pädagogischen Essays. Dabei geht es ihm um eine bessere Vermittlung zwischen öffentlicher Bildungsdebatte, Praxiserfahrungen an der Basis sowie aktuellen Weiterentwicklungen in Fachdidaktik und Erziehungswissenschaft. Veröffentlichungen unter anderem: „Kinder wollen etwas leisten“ (2000), „Neue Mythen in der Pädagogik“ (2001), „Schule besser meistern“ (2006). Seit Herbst 2007 gestaltet Michael Felten eine eigene Website zu pädagogischen Themen: www.eltern-lehrer-fragen.de
Aus: www.dradio.de vom 29.8.08