Die Scharia – Eine EinfĂŒhrung
Mittwoch 30. Juli 2008 von Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Die Scharia – Eine EinfĂŒhrung
Die islamische Theologie betrachtet die Scharia als vollkommene Ordnung, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Sie gilt als Ordnung Gottes und darf daher prinzipiell nicht durch menschliche Gesetze ersetzt werden. Die Scharia ist die Gesamtheit des islamischen Gesetzes, wie es im Koran, in der islamischen Ăberlieferung und in den Auslegungen maĂgeblicher Theologen und Juristen vor allem der frĂŒhislamischen Zeit niedergelegt wurde. Die Scharia gibt Anweisungen fĂŒr das Verhalten in Familie und Gesellschaft (z. B. zum Ehe- oder Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Gottesverehrung (die Praktizierung der „FĂŒnf SĂ€ulen“: Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt). Der Ablauf des tĂ€glichen rituellen Gebets ist also ebensowenig in das Belieben des Einzelnen gestellt wie der AbschluĂ eines Ehevertrags.
Quellen der Scharia: Koran, Ăberlieferung, Theologie
Die Bestimmungen der Scharia basieren auf drei Quellen: dem Koran, der Ăberlieferung und ihrer normativen Auslegung durch frĂŒhislamische Juristen und Theologen. Diese juristisch-theologischen ErwĂ€gungen mĂŒndeten in den ersten islamischen Jahrhunderten in Gelehrtenzirkel und bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. in die Bildung mindestens einer schiitischen und vier sunnitischer „Rechtsschulen“ (Rechtstraditionen) der Hanafiten, Hanbaliten, Schafiiten und Malikiten. Neben dem Koran behandelt auch die Ăberlieferung (die Berichte ĂŒber Muhammad und seine GefĂ€hrten) zahlreiche Rechtsfragen. Diese dort niedergelegten rechtlichen Regelungen sind ebenso verbindlich wie der Koran. Der Grundkorpus an Gesetzen aus dem Koran und der Ăberlieferung wird in seinen knappen Anweisungen jedoch erst durch die Auslegung der Rechtsschulen auf konkrete FĂ€lle anwendbar. In Fragen der Anwendung existieren jedoch z. T. erhebliche Differenzen zwischen einzelnen Theologen, daher gibt es keine einheitliche, in Rechtstexte gegossene „Scharia“. Einzelne LĂ€nder ziehen aus den Auslegungen der Theologen sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen fĂŒr die konkrete Gesetzgebung vor Ort.
Das islamische Strafrecht
Neben dem Ehe- und Familienrecht ergeben sich beim islamischen Strafrecht im Vergleich zu westlichen Menschenrechtsvorstellungen die gröĂten Differenzen. Das islamische Strafrecht basiert nach ĂŒberwiegender Meinung auf einer Dreiteilung in Grenz-, Ermessens- und Wiedervergeltungsvergehen:
 1.) Grenzvergehen (hadd-Vergehen)
„Grenzvergehen“ (oder Kapitalverbrechen) sind Verbrechen, die der Koran oder die Ăberlieferung mit einem bestimmten StrafmaĂ belegen. Als „Grenzvergehenâ verletzen sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Gottes. Ein Gerichtsverfahren darf daher nicht durch eine auĂergerichtliche Einigung abgewendet, noch darf die Strafe verschĂ€rft oder vermindert werden. Es muĂ genau die in Koran oder Ăberlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden. Zu den Grenzverbrechen gehören:
Ehebruch und Unzucht (arab. zina‘): Der Koran bedroht den unzĂŒchtigen Unverheirateten nach Sure 24,2-3 mit 100 Peitschenhieben, die Ăberlieferung den Verheirateten mit der Todesstrafe. War die Frau unverheiratet, der Mann aber verheiratet, soll die Frau im Haus eingesperrt werden, „bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg schafft“ (4,15). Ist der Mann unverheiratet, die Frau aber verheiratet, soll er fĂŒr ein Jahr verbannt werden; die Frau erhĂ€lt 100 Peitschenhiebe.
Verleumdung wegen Unzucht (arab. qadhf) erfordert nach Sure 24,2-3 80 Peitschenhiebe. Diese wohl zum Schutz vor ungerechtfertigter Anzeige gedachte Regelung kann sich auch gegen das Opfer einer Vergewaltigung wenden, wenn eine Frau weder vier mÀnnlichen Zeugen noch ein GestÀndnis erbringen kann. Dann droht ihr eine Gegenklage wegen Verleumdung von Unzucht und damit 80 Peitschenhiebe.
Schwerer Diebstahl (arab. sariqa): Sure 5,33+38 fordert ebenso wie die Ăberlieferung beim ersten Mal die Amputation der rechten Hand und im Wiederholungsfall des linken FuĂes. Die islamische Rechtswissenschaft erkennt allerdings einen Diebstahl nur unter gewissen Bedingungen als echten Diebstahl an (z. B. keinen Taschendiebstahl).
Schwerer StraĂen- und Raubmord (arab. qat‘ at-tariq) sowie Wegelagerei (ohne Raub oder Mord) soll gemÀà einigen Rechtsgelehrten mit GefĂ€ngnis oder Verbannung bestraft werden. Wegelagerei in Verbindung mit Raub fordert die Amputation der rechten Hand und des linken FuĂes. Kommt zur Wegelagerei die Tötung eines Menschen hinzu, ereilt den TĂ€ter die Todesstrafe. Raub in Verbindung mit Totschlag erfordert die Hinrichtung und Kreuzigung des TĂ€ters.
Der GenuĂ von Wein (arab. shurb al-hamr) bzw. aller berauschender GetrĂ€nke. Vielfach wird auch jede Art von Drogen darunter gefaĂt. Die Ăberlieferung fordert 40 (andere Ăberlieferungen: 80) SchlĂ€ge zur Bestrafung.
Die Ăberlieferung benennt unter den Kapitalverbrechen zudem HomosexualitĂ€t und Vergewaltigung, allerdings wird das StrafmaĂ dafĂŒr unter muslimischen Theologen kontrovers diskutiert. Auch der Abfall vom Islam verlangt nach Auffassung aller vier Rechtsschulen die Todesstrafe.
Die Voraussetzung fĂŒr eine Verurteilung wegen eines Kapitalverbrechens ist entweder ein GestĂ€ndnis bzw. die Aussage zweier mĂ€nnlicher Augenzeugen, bei Ehebruch und Unzucht sogar von vier mĂ€nnlichen Augenzeugen. Ein GestĂ€ndnis muĂ freiwillig und der GestĂ€ndige mĂŒndig und geistig gesund sein sowie vorsĂ€tzlich gehandelt haben. GestĂ€ndnisse können bis zur Vollstreckung der Strafe zurĂŒckgezogen oder auch bei UnglaubwĂŒrdigkeit vom Richter zurĂŒckgewiesen werden. Kapitalverbrechen verjĂ€hren ĂŒberaus rasch. Indizienprozesse (etwa anlĂ€Ălich einer Schwangerschaft einer unverheirateten Frau) sind unĂŒblich, aber in EinzelfĂ€llen möglich. Die meisten Kapitalvergehen – insbesondere Ehebruch und Unzucht – werden kaum vor Gericht gebracht, sondern vor allem Frauen in der eigenen Familie mit SchlĂ€gen, Einsperren oder Tod bestraft.
2.) Verbrechen mit Wiedervergeltung (qisas-Vergehen)
Verbrechen mit Wiedervergeltung (arab. qisas) richten sich gegen Leib und Leben. Mord oder Totschlag verletzten nach Auffassung der Scharia nur menschliches Recht und gehören nicht zu den Kapialverbrechen. Verbrechen mit Wiedervergeltung erfordern die ZufĂŒgung derselben Verletzung bzw. die Tötung des Schuldigen unter Aufsicht des Richters. Falls der Berechtigte darauf verzichtet, kann dies in Zahlung von Blutgeld umgewandelt werden, sowie in eine religiöse BuĂleistung wie z. B. zusĂ€tzliches Fasten (2,178-179). Allerdings kann nur der nĂ€chste mĂ€nnliche Verwandte des Opfers die Tötung fordern. Dabei gilt streng das Prinzip der Gleichheit: eine Frau fĂŒr eine Frau, ein Sklave fĂŒr einen Sklaven (Sure 2,178). Kann die Gleichheit nicht hergestellt werden, darf keine Wiedervergeltung geĂŒbt werden. Die Familie des Opfers kann auf die Tötung des Schuldigen verzichten und statt dessen die Zahlung eines Blutpreises (arab. diya) fordern. Im Iran betrĂ€gt der Blutpreis fĂŒr einen muslimischen Mann derzeit 100 fehlerlose Kamele, 200 KĂŒhe oder 1.000 Hammel, 200 jemenitische GewĂ€nder und 1.000 Dinar oder 10.000 Silberdirham. FĂŒr eine Frau betrĂ€gt er in der Regel die HĂ€lfte, ebenso ist er fĂŒr einen Nichtmuslim meist geringer.
Wurde einem Opfer nur eine Verletzung zugefĂŒgt, kann dem TĂ€ter dieselbe Verletzung zugefĂŒgt werden, aber nur vom Opfer selbst. Auch hier ist eine EntschĂ€digung möglich.
3.) Ermessensvergehen (ta’zir-Vergehen)
Alle anderen FĂ€lle, die nicht zu den Kapitalverbrechen und Verbrechen mit Wiedervergeltung gehören, sind bei der Bestrafung in das Ermessen des Richters gestellt. Aufruhr, falsches Zeugnis, Beleidigung, Bestechung, UrkundenfĂ€lschung, Unterschlagung, VerkehrsverstöĂe, Betrug, Erpressung, Kidnapping u. a., sowie Kapitalvergehen, die z. B. durch einen Mangel an Beweisen nicht als Kapitalverbrechen bestraft werden können, gehören zu den Ermessensvergehen.
Der Richter kann harte Strafen verhÀngen, wie lange GefÀngnisstrafen (begrenzte und unbegrenzte Haft), Verbannung, Auspeitschung (die Ansichten variieren von 20 bis 99 Peitschenhieben ) oder Geldstrafen. Der Richter kann den TÀter seines Amtes entheben oder seinen Besitz beschlagnahmen, ihn ermahnen oder tadeln. In schweren FÀllen kann der Richter nach Meinung einiger Gelehrter sogar die Todesstrafe verhÀngen und zwar vor allem bei GewohnheitstÀtern ohne Aussicht auf Besserung: Homosexuelle, HÀretiker, die die islamische Gemeinschaft spalten, Mörder, sofern ihre Tat nicht durch Vergeltung gerÀcht wird, RauschgifthÀndler oder Spione.
Die Scharia ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollstĂ€ndig zur Anwendung gekommen. Auch heute wird sie in den Staaten (wie z. B. Sudan oder Iran), die die „volle WiedereinfĂŒhrung“ der Scharia postuliert haben, nur teilweise praktiziert. In den meisten islamischen LĂ€ndern kommt heute ein Konglomerat zur Anwendung aus koranischen Geboten, Elementen der islamischen Ăberlieferung, dem arabischen Gewohnheitsrecht, vorislamischen sowie dem europĂ€ischen Recht entlehnten Elementen, die insbesondere wĂ€hrend der Kolonialzeit in die islamische Welt Eingang fanden.


Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 30. Juli 2008 um 16:12 und abgelegt unter Weltreligionen.