Gemeindenetzwerk

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Das „Geschlechtsempfinden“ ist maßgeblicher als die Biologie und das Wort Gottes. Anmerkungen zum „Selbstbestimmungsgesetz“ der Regierungskoalition

Montag 19. August 2024 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Das sog. Selbstbestimmungsgesetz („Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“; SBGG) wurde am 12.4.2024 vom Bundestag mehrheitlich verabschiedet und im Mai 2024 vom Bundesrat mehrheitlich gebilligt. Es tritt in 2 Stufen in Kraft. Ab 1.8.2024 kann eine „Anmeldung der Erklärung zur Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen“ abgegeben werden. Am 1.11.2024 löst das Selbstbestimmungsgesetz das sog. Transsexuellengesetz von 1980 ab. Im Folgenden nimmt Pastor Dr. Joachim Cochlovius zum Inhalt und zu den gesellschaftlichen Folgen Stellung. Sein Beitrag erschien zunächst im Juni 2024 im „Aufbruch“, Informationen des Gemeindehilfsbundes. Das Heft kann bei der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes bestellt werden.

In Matthäus 19 ist überliefert, dass die Pharisäer mit einer Fangfrage zu Jesus kamen und wissen wollten, welche Gründe er für eine Ehescheidung akzeptieren würde. Jesus leitet seine Antwort mit der Feststellung ein: „Der im Anfang den Menschen geschaffen hat, schuf sie als Mann und Frau“ (Mt 19,4). Damit bestätigt der Sohn Gottes den Schöpfungsbericht und die biologische Tatsache, dass die Menschheit binär, also zweigeschlechtlich erschaffen ist. Das Bundesverfassungsgericht und die derzeitige Regierung wissen es besser. „Es ist wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, dass die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Geschlecht nicht allein nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen im Zeitpunkt seiner Geburt bestimmt werden kann, sondern sie wesentlich von seiner psychischen Konstitution und selbstempfundenen Geschlechtlichkeit abhängt“. „Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG schützt mit der engeren persönlichen Lebenssphäre auch den intimen Sexualbereich des Menschen, der die sexuelle Selbstbestimmung und damit auch das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität sowie der eigenen sexuellen Orientierung umfasst“ (Das Bundesverfassungsgericht am 11.1.2011). Die Bundesregierung erklärte am 12. April 2024, als das neue Gesetz im Bundestag mehrheitlich beschlossen wurde: „Zur Menschenwürde und zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung“.

Von den 634 abgegebenen Stimmen entfielen auf „Ja“ 372 und auf „Nein“ 251. 11 Parlamentarier enthielten sich der Stimme. Dafür stimmten u.a. von der FDP Marco Buschmann und Marie-Agnes Strack-Zimmermann und von Bündnis 90/Die Grünen Karl Lauterbach, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Karin Göring-Eckardt.

Zur Begründung hieß es von Seiten der Regierung: „Mit dem Selbstbestimmungsgesetz verwirklichen wir das Recht jedes Menschen, in seiner Geschlechtsidentität geachtet und respektvoll behandelt zu werden“ (Bundesfamilienministerin Lisa Paus). „Alle Menschen haben ein Recht darauf, dass der Staat ihre geschlechtliche Identität achtet“ (Bundesjustizminister Marco Buschmann). „Deutschland ist vielfältig. Deshalb passen wir unsere Gesetze den verschiedenen Lebensrealitäten an“ (Bundeskanzler Olaf Scholz).

Wer sich in der Geschichte der emanzipatorischen Ideen im modernen Europa etwas auskennt, ist von diesem Gesetz nicht überrascht. Die französische Revolution von 1789 mit ihrem Bekenntnis zu „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ kann als der ursprüngliche Ideengeber angesehen werden. Die Idee der Gleichheit der Menschen, die zunächst nur den Abbau von Standesprivilegien meinte, entwickelte sich im Lauf der Zeit in den verschiedenen sozialistischen Strömungen immer mehr zur Forderung nach Abschaffung jeglicher Unterschiede zwischen den Menschen. Im Neomarxismus der „Frankfurter Schule“ kam die noch weiter gehende Forderung hinzu, jede Art von „Fremdbestimmung“ des Menschen abzuschaffen und alle traditionellen Wertmaßstäbe zu hinterfragen (Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, 1937). Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses emanzipatorische Denken, dessen Konsequenzen auch viele Christen nicht durchschauten, in die Politik eindrang. Da sich auch die großen Kirchen als unfähig erwiesen, dem neomarxistischen Menschenbild das christliche Menschenbild entgegenzusetzen, hat sich die „Selbstbestimmung“ als neues Lebensideal in der Gesellschaft mehr und mehr etabliert. So kann es nicht verwundern, dass nach der bereits politisch durchgesetzten sexuellen Selbstbestimmung nun auch die Wahl der eigenen Geschlechtlichkeit gefordert wird, ungeachtet aller biologischen Gegebenheiten und bisher geltenden sexualethischen Normen. Das sog. „Allgemeine Antidiskriminierungsgesetz“ von 2006 kann als ein Zwischenerfolg der emanzipatorischen Ideologie angesehen werden. Die Umerziehung der Gesellschaft scheint zu funktionieren und ist weiterhin in vollem Gang, ganz im Sinn der Väter der Frankfurter Schule. Regierungsamtliche Stellen, die drei regierenden Parteien und viele Medien beteiligen sich kräftig. Die „Bundeszentrale für politische Bildung“ gab 2017 ein Dossier über „Geschlechtliche Vielfalt“ heraus, das ganz im Sinn der neomarxistischen Emanzipation aufklärte. Die „Annahme, dass es lediglich zwei Geschlechter gibt, die sich auf Grund körperlicher Merkmale auf natürliche Art und Weise voneinander unterscheiden“, sei lediglich „Teil eines nicht hinterfragten Alltagswissens“, und es gebe demgegenüber eine weltweit vernetzte „Trans*community“, die sich „nicht oder nicht vollständig“ „mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht“ identifiziere. Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien, der am 24.11.2021 veröffentlicht wurde, heißt es: „Wir werden das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Dazu gehören ein Verfahren beim Standesamt, das Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht, ein erweitertes und sanktionsbewehrtes Offenbarungsverbot und eine Stärkung der Aufklärungs- und Beratungsangebote“. Im Frühjahr 2022 brachte der WDR eine kindgerecht gemachte Folge der „Sendung mit der Maus“ mit dem Titel „Ich bin eine trans Frau“, die den Kindern eine Geschlechtsveränderung (Fachbegriff „Transition“) als selbstverständlichste Sache der Welt darstellte. Im selben Jahr erklärte der „Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ Sven Lehmann: „Welches Geschlecht ein Mensch hat, kann kein Arzt von außen attestieren“.

Diese kurze Skizze zur Geschichte der emanzipatorischen Idee zeigt, dass wir uns in einem Kulturkampf großen Ausmaßes befinden. Was sagen wir als Christen zu dieser Entwicklung? Der Apostel Paulus gibt uns im 2. Korintherbrief eine Anleitung, wie wir auf die Ideologien der Welt reagieren können. Er nennt sie geistige „Festungen“, die sich gegen die „Erkenntnis Gottes“ erheben und überwunden werden müssen (2 Kor 10,4-6). Was bedeutet dies in Bezug auf das Selbstbestimmungsgesetz? Meine Antwort: Wir müssen die Begriffe entlarven und die gesamtgesellschaftlichen Folgen bedenken. Dies will ich im Folgenden in der gebotenen Kürze versuchen.

1.) Die Hauptbegriffe, die in diesem Gesetz verwendet werden, sind „Geschlechtsempfinden“ und „Geschlechtsidentität“. Empfindungen sind seelischer Natur, und daraus folgende Selbsteinschätzungen sind beeinflussbar und wandelbar. Im christlichen Menschenbild haben die seelischen Kräfte Denken, Wollen und Fühlen als großartige Gottesgaben einen hohen Stellenwert (1 Thess 5,23). Aber sie müssen durch den Geist koordiniert und ausgerichtet werden, der wiederum eine Ausrichtung durch den Heiligen Geist braucht. Das Selbstbestimmungsgesetz erklärt demgegenüber die seelischen Empfindungen zur letzten Instanz und baut sein Rechtssystem auf diesem unsicheren und veränderlichen Grund auf. Die Urheber des Gesetzes wissen das selbst, denn sie billigen demjenigen, der sich nach seiner Einschätzung in einem „falschen Körper“ empfindet, jedes Jahr eine Änderung seiner Selbstwahrnehmung zu. Was dabei nicht bedacht wird, sind die psychischen und physischen Folgen. Wenn sich z.B. Teenagermädchen in ihrem Körper nicht wohlfühlen und auf der Grundlage dieses Gesetzes eine Brustamputation durchführen lassen und später wieder eine weibliche Selbstwahrnehmung haben, ist ihr Körper unrevidierbar verstümmelt. Wer übernimmt die Haftung? Und wer vermag die langfristigen Auswirkungen der Pubertätsblocker einzuschätzen? Die veränderliche Empfindungswelt ist ein schlechter Ratgeber für die geschlechtliche Eigenwahrnehmung. Noch problematischer ist der Begriff „Geschlechtsidentität“, der im Gesetz als neue Rechtsnorm aus dem sog. Geschlechtsempfinden abgeleitet wird. Im normalen Sprachgebrauch bezeichnet Identität „die eindeutige Unterscheidbarkeit einer Person von einer anderen“ (Wiktionary. Das freie Wörterbuch). Der im Gesetz verwendete Begriff „Geschlechtsidentität“ täuscht jedoch eine solche Unterscheidbarkeit nur vor, denn die betreffende Person kann ja aufgrund eines neuen „Geschlechtsempfindens“ im nächsten Jahr schon wieder eine andere „Geschlechtsidentität“ haben, mit allen rechtlichen Konsequenzen (Vornamensänderung, neuer Eintrag im Personenstandsregister, geänderte Geburtsurkunde usw.). Wir haben hier eine gewollte und üble Sprachmanipulation vor uns. Die geschlechtliche Identität eines Menschen soll bewusst aufgelöst, ja ausgelöscht werden. Ganz anders das biblische Menschenbild. Da wird das Mannsein und das Frausein als eine meisterhaft ausgedachte und mit hoher Verantwortung verbundene Gottesgabe geschildert (Eph 5,22-33). Da ist die geschlechtliche Identität vom Schöpfer geschenkt und festgelegt (Ps 139,14), auch wenn die Gefühle schwanken. Da wird uns ein Heiland bezeugt, der in der Lage ist, alle unsere Gebrechen zu heilen, gerade auch die geschlechtlichen Nöte (Ps 103,3; Mt 4,23).

2.) Die gesamtgesellschaftlichen Folgen des Selbstbestimmungsgesetzes können noch gar nicht voll abgeschätzt werden. In der Begründung des Gesetzes ist von etwa 4000 Personen jährlich die Rede, „die ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister ändern“. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass von dieser relativ kleinen Zahl keine nennenswerte gesellschaftliche Wirkung ausgehen wird. Das wäre jedoch ein Trugschluss. Die bewusstseinsverändernde Wirkung wird ähnlich groß sein wie bei den liberalisierten Abtreibungsparagraphen des Strafgesetzes. So wie das Unrechtsbewusstsein hinsichtlich der Tötung der Ungeborenen in der Bevölkerung zurückgegangen ist, so wird auch das Mannesbild, das Frauenbild sowie das Ehe- und Familienbild in der Gesellschaft noch mehr als bisher leiden. Wenn die Geschlechtlichkeit jährlich geändert werden kann, wird sie immer weniger wert. Weitere negative Folgen kommen hinzu. Wenn 14- bis 17jährige eine Geschlechtsänderung u.U. gegen die Eltern durchsetzen können (im Streitfall werden die Familiengerichte in der Regel den Jugendlichen Recht geben), dann ist der Zusammenhalt in solchen Familien hochgradig gefährdet. Dann ist das bereits 2002 von Olaf Scholz propagierte Ziel erreicht: „Wir wollen die Lufthoheit über die Kinderbetten erobern“. Wenn jemand sein Geschlecht im Personenstandsregister ändern ließ, hat er nach dem Selbstbestimmungsgesetz darauf Anspruch, nur noch mit dem neuen von ihm gewählten Vornamen angeredet zu werden. Wer den alten Namen direkt oder in seinem persönlichen Umfeld weiterhin benutzt, kann sich aufgrund des sog. „Offenbarungsverbots“ strafbar machen. Hier hebelt das neue Gesetz die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit aus und übt einen quasidiktatorischen Meinungsdruck aus. Anstatt die Ehen und Familien als das natürliche Auffangbecken für pubertätsbedingte geschlechtliche Nöte zu stärken, setzt das Familienministerium auf freiheitseinengende Paragraphen und riskante medizinische Experimente, um Jugendliche auf ihre problematischen Geschlechtsempfindungen zu fixieren. Insgesamt gesehen, legt dieses Gesetz die Axt an das schöpfungsmäßige Mann- und Frausein und damit an Ehe und Familie. Die Geschlechtlichkeit des Menschen wird belanglos gemacht. In der Aussprache im Bundestag meinte Sahra Wagenknecht: „Einmal im Jahr sein Geschlecht frei wählen zu können, diesen grandiosen Freiheitsgewinn haben Millionen Bürgerinnen und Bürger sicher seit Jahren sehnlichst erwartet“. Man kann es auch anders sagen. „Irrt euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten“ (Gal 6,7).

Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 19. August 2024 um 13:04 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Gemeinde, Gesellschaft / Politik, Sexualethik.