Gemeindenetzwerk

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Das ABC des Evangeliums

Dienstag 13. August 2024 von Holger Lahayne


Holger Lahayne

Was bedeutet es, „evangelikal“ zu sein? Werden Evangelikale anhand ihrer AktivitĂ€ten oder ihrer Frömmigkeit definiert oder geht es um Glaubensinhalte? Ein neues Buch von Michael Reeves liefert Antworten und fordert seine Leser auf, zu den UrsprĂŒngen des Begriffs zurĂŒckzukehren.

Wer sind die Evangelikalen? Was bedeutet es, „evangelikal“ zu sein? Was verbindet die evangelikale Bewegung? Wenn du MĂŒhe hast, diese Fragen zu beantworten, könnte es doch naheliegend sein, auf diese Bezeichnung ganz und gar zu verzichten, oder? Michael Reeves argumentiert in seinem neu erschienen Buch hingegen, dass dies nicht zu empfehlen ist. Bevor wir seine Argumente unter die Lupe nehmen, betrachten wir jedoch, wie andere den Begriff „evangelikal“ zu definieren versuchen:

Einige Antwortversuche

Michael Diener, der damalige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, beantwortete die Frage nach dem IdentitĂ€tskern der Evangelikalen im Herbst 2015 in einem Radiobeitrag, indem er sie als die „intensiv Evangelischen“ bezeichnete. Weiter sagte er, „Evangelische Christen, die ihr Leben grundsĂ€tzlich vom christlichen Glauben her denken und leben“, könne man als evangelikal bezeichnen.

In der SWR 2-Sendung kam auch der bekannte Journalist Andreas Malessa zu Wort: „Bei den Evangelikalen sind Bekenntnispapiere und irgendwelche GlaubenssĂ€tze in der Dogmatik nix und die Praxis alles.“ Den Evangelikalen geht es um die „praktische Umsetzung der Frömmigkeit“. Der Baptistenpastor sieht das einigende Band der Evangelikalen ganz in der Glaubenspraxis und im Lebensstil.

Vor zwei Jahren erschien aus der Feder von Thorsten Dietz Menschen mit Mission: Eine Landkarte der evangelikalen Welt. Der deutsche Theologieprofessor, der nun fĂŒr die reformierte Kirche ZĂŒrichs tĂ€tig ist, bemĂŒht sich darin um eine faire Gesamtdarstellung der evangelikalen Bewegung. Dietz im Interview mit PRO zu der Eingangsfrage: „Auf jeden Fall gehört die ‚Jesus-First‘-Begeisterung dazu, der starke Fokus darauf, dass Jesus das Zentrum meines Glaubens ist – und dass ich darum einen Auftrag habe, diesen Glauben zu bezeugen. Das ist der Kern.“

Ob diese Beschreibungen tatsĂ€chlich die Wesensmerkmale der evangelikalen Bewegung treffen, sei dahingestellt. Auf das ĂŒberraschende Defizit, das all diese und Ă€hnliche Aussagen aufweist, deutete der britische Kirchengeschichtler Carl R. Trueman schon vor ĂŒber zehn Jahren hin: „Der wahre Skandal des evangelikalen Denkens ist heute nicht, dass das Denken nicht vorhanden ist, sondern dass ein gemeinsames VerstĂ€ndnis des Evangeliums fehlt.“ (The Real Scandal of the Evangelical Mind)

Wenn aber nicht klar ist, was nun das Evangelium ist, fĂŒr das die evangelikale Bewegung steht, dann bliebe tatsĂ€chlich ein bloßes „einfach nur fromm“. Diese Frömmigkeit mag intensiv sein und in AktivitĂ€t mĂŒnden; ob sie auch evangelisch – dem Evangelium gemĂ€ĂŸ – ist, wird umso fraglicher.

Eine theologische Definition

In diesem Zusammenhang setzt Michael Reeves mit Menschen des Evangeliums nun einen notwendigen Akzent. Der britische Theologe und Autor erkennt wie Trueman die gegenwĂ€rtige Krise im SelbstverstĂ€ndnis des Evangelikalismus. Er bedauert, dass dieser „sowohl von anderen als auch von sich selbst durch andere Dinge definiert [wird] als durch das Evangelium“ (S. 8). Der PrĂ€sident der Union School of Theology in Oxford ist ĂŒberzeugt: „Um wirklich Menschen des Evangeliums zu werden, mĂŒssen wir zu unserem Ausgangspunkt zurĂŒckkehren – zu dem Glauben, ‚der ein fĂŒr alle Mal den Heiligen anvertraut ist‘ [Jud 3]“ (S. 8). Eine bloß soziologische oder „beschreibende Analyse“ genĂŒgt nicht; der Evangelikalismus muss laut Reeves in erster Linie „mithilfe des Evangeliums“, also „theologisch definiert werden“ (S. 9).

Reeves hĂ€lt daran fest, dass den Kern der evangelikalen IdentitĂ€t eben doch „irgendwelche GlaubenssĂ€tze“ (Malessa) ausmachen. Damit steht er in der Tradition der großen britischen Evangelikalen wie John Stott oder Martyn Lloyd-Jones, die in Evangelical Truth (1999) bzw. What is an Evangelical? (1992) ebenfalls eine biblisch begrĂŒndete und theologisch fundierte Definition vorlegten. Reeves zitiert daher auch mehrfach aus beiden Werken.

Drei essentielle Lehren

AnknĂŒpfend an den Beginn des Römerbriefes stellt Reeves eingangs dar, dass fĂŒr den Apostel Paulus das Evangelium folgende Eigenschaften besitzt: Das Evangelium ist 


1. trinitarisch: Es ist die Frohe Botschaft des Vaters ĂŒber den Sohn, der als Sohn Gottes eingesetzt ist in Kraft nach dem Heiligen Geist (vgl. Röm 1, 4).
2. biblisch: Es wird in der Heiligen Schrift verkĂŒndet.
3. christuszentriert: Es geht dabei um den Sohn Gottes.
4. Geist-gewirkt: Der Sohn wird durch den Heiligen Geist offenbart.“ (S. 11)

Das Evangelium steht also „im Einklang mit der Heiligen Schrift“, es „dreht sich um Christus und sein Erlösungswerk“ und schafft als „Botschaft des persönlichen Heils“ neues Leben (S. 14). Reeves argumentiert, 


„dass der wahre Evangelikalismus eine klare Theologie hat, in deren Zentrum drei essentielle Lehren verankert sind, aus denen sich alles Weitere ergibt:

  1. Die Offenbarung durch den Vater in der Bibel.
  2. Die Erlösung durch den Sohn im Evangelium.
  3. Die Wiedergeburt durch den Geist in unseren Herzen.“ (S. 16)

Eine trinitarische Struktur

Reeves erlĂ€utert das Evangelium demnach als ein Werk des dreieinen Gottes. Der Person des Vaters ordnet er die Offenbarung zu und erlĂ€utert in Kapitel 2 „Die Vorrangstellung der Heiligen Schrift“, „Die Inspiration der Heiligen Schrift“ und „Die VertrauenswĂŒrdigkeit der Heiligen Schrift“. „Die Erlösung durch den Sohn“ (Kapitel 3) gliedert sich auf in „Die einzigartige IdentitĂ€t Christi“, „Das Werk Jesus“ und „Die Rechtfertigung durch Glauben allein“. In Kapitel 4 behandelt er das Wirken des Heiligen Geistes: „Die Wiedergeburt“, „Das neue Leben“ und „Das neue Volk“.

Auf Seite 17 ist diese Struktur des Buches in einem Kreisdiagramm anschaulich dargestellt. In der Mitte steht „Die Dreieinigkeit“, also Gott selbst. Diese Betonung ist nur zu begrĂŒĂŸen, denn so wird eins klar: Es geht nicht in erster Linie um Menschen, die eine Bekehrung erfahren haben; um Menschen, die in Mission und Diakonie aktiv sind; oder um Menschen und ihre Mission. Vielmehr steht im Mittelpunkt des Evangelikalismus niemand anders als Gott, der durch seinEvangelium Wahrheit mitgeteilt, Erlösung geschenkt und neues Leben geschaffen hat.

Reeves greift sicher bewusst auf diese trinitarische Struktur zurĂŒck, denn so kann er deutlich machen, dass die Evangelikalen eben doch ein gemeinsames Credo haben. Außerdem schlĂ€gt er auf diese Weise eine BrĂŒcke von der alten Kirche ĂŒber die Reformation bis in unsere Zeit. Schließlich orientieren sich christliche Bekenntnistexte vom Apostolischen Glaubensbekenntnis ĂŒber den Heidelberger Katechismus bis hin zur Kapstadt-Verpflichtung seit jeher gern an den Personen der Dreieinigkeit.

Zitate im Überfluss

Dass der Evangelikalismus auf einem reichen geschichtlichen Erbe ruht, macht Reeves auch durch zahlreiche Zitate von großen christlichen Denkern deutlich. KirchenvĂ€ter wie Augustinus, Tertullian und IrenĂ€us kommen zu Wort, natĂŒrlich auch Martin Luther, John Wesley und Puritaner wie Richard Sibbes. Gern zitiert der Autor aus Werken von J.C. Ryle, C.H. Spurgeon oder B.B. Warfield. Die Reihe wird fortgesetzt durch die evangelikalen Leiter des vergangenen Jahrhunderts: neben den genannten Lloyd-Jones und Stott auch Carl F.H. Henry und J.I. Packer.

1. AutoritÀt und Irrtumslosigkeit

Reeves gelingt es auf knappem Raum, die Hauptelemente des Evangeliums prĂ€gnant vorzustellen. Hier seien nur drei Akzente herausgegriffen wie, erstens, die AutoritĂ€t der Bibel. „Evangelikal zu sein heißt, dass die Schrift alles ĂŒbertrumpft“, so im 2. Kapitel (S. 28). Einen „antiintellektuellen ‚nur ich und meine Bibel‘-Biblizismus“ lehnt er ab (S. 28). AutoritĂ€ten wie Traditionen und die Vernunft seien zu achten, sie „sind jedoch nicht unfehlbar und nicht so zuverlĂ€ssig wie das Wort Gottes. Sie stammen von Menschen. Die Schrift hingegen stammt von Gott. Sie mĂŒssen sich der Schrift beugen, nicht umgekehrt“ (S. 32). Allein die Bibel besitzt höchste AutoritĂ€t.

Dies begrĂŒndet Reeves mit der Inspirationslehre: „Es sind nicht nur einige Teile der Schrift, die von Gott gehaucht sind – auch nicht nur das große Ganze der Schrift. Nein, alle Schrift, in jedem Teil und in jedem Wort, ist von Gott geatmet“ (S. 33–34). Er betont, „dass die ganze Schrift von Gott eingegeben wurde“ (Plenarinspiration) und „dass jedes einzelne Wort des Urtextes eingeschlossen ist“ (Verbalinspiration; S. 34). Reeves zitiert u.a. Kirchenvater Augustinus, der ebenfalls festhielt, dass die Autoren der Bibel „völlig frei von IrrtĂŒmern waren“ (S. 37). Schließlich verweist er auf die „bedachte Art und Weise“, wie die Chicago-ErklĂ€rung zur Biblischen Irrtumslosigkeit diese Lehre formuliert, und zitiert den 2. Punkt der ErklĂ€rung aus dem Jahr 1978 (S. 40–41).

Im deutschen Umfeld stellt dieses klare und wie selbstverstĂ€ndlich vorgetragene Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit eine wichtige Mahnung dar, endlich eine Kurskorrektur vorzunehmen. Denn leider hatte JĂŒrgen Werth, der damalige Allianz-Vorsitzende, wohl recht, als er 2007 im Hessischen Rundfunk sagte, dass die Zahl derjenigen in der deutschen evangelikalen Bewegung, die sagen, „jeder Buchstabe ist verbal von Gott inspiriert, 
 nicht allzu groß ist“. Reeves hat offensichtlich keine Angst vor der sog. „fundamentalistischen Schmuddelecke“, vor der Werth die Allianz bewahren wollte.

2. Theorie und Praxis

Reeves Buch mangelt es nicht an Dogmatik. Ist daher nicht alles zu „verkopft und theoretisch? Ist Evangelikalismus nicht viel mehr als eine Liste von Lehren?“ (S. 69). Im vierten Kapitel erlĂ€utert der Autor, zweitens, die Zuordnung von Theorie und Praxis des Glaubens. Es geht einerseits um das Wissen von „Wahrheiten ĂŒber Gott“, andererseits auch darum, wie „wir Gott auf persönliche Weise kennenlernen“. Christen sollen sich „unter die Heilige Schrift als unserer höchsten AutoritĂ€t“ beugen und sich „wahrhaftig an Christus als unserem einzigen Erlöser“ erfreuen (S. 71).

Reeves betont, dass die an das Evangelium Glaubenden „anders lieben, denken und handeln. Angesichts dessen ging es im Evangelikalismus nie allein um Lehre. Evangelikale mĂŒssen ihre Theologie auch anwenden und sich daher sowohl um Orthodoxie (rechte Lehre) als auch um Orthopraxie (rechte Praxis) und Orthokardie (rechtes Herz) bemĂŒhen“ (S. 85). Evangelikale mĂŒssen alle drei Perspektiven im Blick behalten und „sollten sich daher nicht mit Lehren oder religiösem Verhalten allein zufriedengeben, so korrekt es auch scheinen mag“. ZurĂŒckzuweisen sind „geistliche Heuchelei und geistliche Leere“ (S. 87). Ähnlich wie zuvor schon Stott betont Reeves im 6. Kapitel: „Ich behaupte, dass das HerzstĂŒck evangelikaler IntegritĂ€t die Demut ist“ (S. 123).

3. Glaube und Einheit

Drittens skizziert Reeves im fĂŒnften Kapitel knapp, aber prĂ€zise die evangelikale Lehre von der Einheit der Christen. Wie schon die Reformatoren (hier wĂ€ren Calvin und Bullinger zu nennen) betont Reeves:

„Mit dem Evangelium als unserem Anker können Evangelikale verstehen, dass nicht jede Angelegenheit eine Angelegenheit des Evangeliums und nicht jeder Irrtum (oder jede Abweichung von unserer Sicht oder Praxis) eine HĂ€resie ist, die das Seelenheil gefĂ€hrdet. Einige Lehren sind wesentlicher und grundlegender als andere.“ (S. 97)

FĂŒr Evangelikale ist Einheit nicht in erster Linie institutionell begrĂŒndet (wie dies die römisch-katholische Kirche lehrt). Einheit beruht vielmehr auf dem Glauben und jenen Lehren, die „höchste PrioritĂ€t haben und fĂŒr das Evangelium von grundlegender, primĂ€rer Bedeutung sind“ (S. 99). Gerade um diese geht es in Reeves Buch. Als Menschen des Evangeliums sind die Evangelikalen zu „unerschĂŒtterliche Treue zum Evangelium“ berufen, mĂŒssen es aber genauso ablehnen, „andere Themen auf die Ebene des Evangeliums zu heben“ (S. 99). Dies bleibt eine stĂ€ndige Gratwanderung, aber rĂŒckblickend erkennt Reeves (J.I. Packer und Thomas Oden folgend) einen „beeindruckenden theologischen Konsens“ in der weltweiten evangelikalen Bewegung (S. 111).

Pferde vor die Kutsche spannen

Michael Reeves’ Menschen des Evangeliums ist, so mein ResĂŒmee, genau das richtige Buch zur richtigen Zeit. Es ist im Ton – eben ganz dem Evangelium, der Guten Nachricht, entsprechend – positiv und ermutigend. Und es kann dank seines klaren theologischen Aufbaus auch gut in der Gemeindearbeit eingesetzt werden – auch darin ist es typisch evangelikal.

In „Glaube und Denken heute“ (2/2022) schrieb Pfr. Dr. Gerhard Gronauer: „Nach der LektĂŒre von Dietz’ Buch [Menschen mit Mission] bin ich zu dem Eindruck gekommen: Das Ende der evangelikalen Bewegung in Deutschland, wie wir sie gekannt haben, steht bevor.“ Möglicherweise hat er recht. Vielleicht sollte man aber einfach nur wieder die Pferde (das Evangelium) vor die Kutsche (alle missionarische AktivitĂ€t) spannen. Oder anders gesagt: das ABC des Evangeliums des dreieinen Gottes in demĂŒtiger Haltung neu lernen. Reeves’ Buch wird dabei eine Hilfe sein.

Holger Lahayne, 7. Juni 2024, www.lahayne.lt

[Zuerst erschienen auf evangelium21.net]

Buch

Michael Reeves, Menschen des Evangeliums
Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2024, 173 S., 12,90 EUR.

 

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 13. August 2024 um 17:18 und abgelegt unter Buchempfehlungen, Theologie.