Lehren aus der Natur (Betrachtung zu Psalm 104,17 und 18)
Sonntag 4. August 2024 von Charles Haddon Spurgeon (1834-1892)
«Dort nisten die Vögel, und die Reiher wohnen in den Wipfeln. Die hohen Berge geben dem Steinbock Zuflucht und die Felsklüfte dem Klippdachs» (Psalm 104,17 und 18).
Dieser Psalm ist seiner ganzen Länge nach ein Lied der Natur, die Anbetung Gottes in dem großen äußern Tempel des Weltalls. Manche haben es in diesen neuern Zeiten für ein Zeichen hohen geistlichen Sinnes gehalten, nie die Natur zu beachten; und ich erinnere mich, mit Leidwesen die Äußerungen eines gottesfürchtigen Mannes gelesen zu haben, der, als er einen der berühmtesten Ströme der Welt hinuntersegelte, seine Augen schloss, damit die malerischen Schönheiten der Gegend seine Seele nicht von biblischen Gegenständen abziehen sollten. Dies mag von einigen als tief geistliche Gesinnung betrachtet werden, mir scheint es nach Absurdität zu schmecken.
Es mag Leute geben, die meinen, in der Gnade gewachsen zu sein, wenn sie es so weit gebracht haben; mir scheint es, dass sie aus ihren Sinnen herauswachsen. Das Schöpfungswerk Gottes zu verachten, was ist dies anderes als in gewissem Maße Gott selbst verachten? «Wer des Armen spottet, der verachtet seinen Schöpfer.» Den Schöpfer verachten ist augenscheinlich eine Sünde; gering von Gott als Schöpfer denken, ist ein Verbrechen.
Niemand von uns würde es für eine große Ehre halten, wenn unsre Freunde unsre Werke der Bewunderung unwert oder für ihr Gemüt mehr schädlich als nützlich hielten. Wenn sie beim Vorübergehen an unseren Werken die Augen abwendeten, um nicht durch den Anblick Schaden zu leiden, würden wir das nicht als sehr achtungsvoll gegen uns betrachten; gewiss, die Verachtung dessen, was gemacht ist, hat Verwandtschaft mit der Verachtung des Machenden selber.
David sagt uns: «Der Herr freuet sich seiner Werke.» Wenn Er sich an dem freut, was Er gemacht hat, sollen nicht die, welche Gemeinschaft mit Ihm haben, sich auch an seinen Werken freuen? «Groß sind die Werke des Herrn; wer ihrer achtet, der hat eitel Lust daran.» Verachte nicht das Werk, damit du nicht den Wirkenden verachtest.
Dieses Vorurteil gegen die Schönheiten des materiellen Weltalls erinnert mich an die zurückgebliebene Liebe zum Judentum, die wie ein Bann auf Petrus lag. Als das Tuch, an vier Zipfeln gebunden, vor ihm niedergelassen ward, und die Stimme sprach: «Stehe auf, Petrus, schlachte und iss», antwortete er, dass er noch nie etwas Gemeines oder Unreines gegessen hätte. Die Stimme musste wieder und wieder vom Himmel zu ihm sprechen, ehe er völlig die Lehre lernte: «Was Gott gereinigt hat, das mache du nicht unrein.» Der Jude hält dies und jenes für unrein, obgleich Christus es gereinigt hat; und gewisse Christen scheinen die Natur für unrein zu halten.
Die Vögel der Luft und die Fische des Meeres, den herrlichen Sonnenaufgang und Untergang, die schneebedeckten Alpen, die uralten Wälder, die geheimnisvollen Gletscher, den grenzenlosen Ozean, Gott hat sie gereinigt; nenne du sie nicht gemein. Hier auf dieser Erde ist Golgatha, wo der Heiland starb, und durch sein Opfer, das nicht innerhalb Mauern und Dächer dargebracht ward, hat Er diese äußere Welt zu einem Tempel gemacht, worin alles von der Herrlichkeit Gottes spricht. Wenn du unrein bist, wird dir alles unrein sein; aber wenn du dein Kleid gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht hast, und der Heilige Geist dich überschattet hat, dann ist dir diese Welt nur ein niederer Himmel; sie ist nur das untere Gemach, dessen oberes Stockwerk von dem vollen Glanze Gottes glüht, wo Engel Ihn von Angesicht zu Angesicht sehen; und dies untere Stockwerk ist nicht ohne Herrlichkeit, denn in der Person Jesu Christi haben wir Gott gesehen und haben selbst jetzt Gemeinschaft und Verkehr mit Ihm.
Es scheint mir, dass die, welche das Studium der Natur verbieten möchten oder die Beobachtung ihrer Schönheiten scheuen, sich der Schwäche ihrer geistlichen Gesinnung bewusst sind. Als die Einsiedler und Mönche sich von den Versuchungen des Lebens abschlossen, sagten törichte Leute: «Diese sind stark in der Gnade.» Nicht so, sie waren zu schwach in der Gnade, dass sie vor einer Prüfung ihrer Gnaden bange waren. Sie liefen vor der Schlacht davon wie Feiglinge, die sie waren, und schlossen sich ein, weil sie wussten, dass ihre Schwerter nicht von dem echten Jerusalemer Metall seien, sie waren keine Männer, die tapferen Widerstand leisten konnten. Das Mönchstum war das Bekenntnis einer Schwäche, die sich mit dem edlen Schein der Demut und dem Vorgeben höherer Heiligkeit zu bedecken suchte.
Wenn meine Gnaden stark sind, so kann ich auf die äußere Welt blicken und ihr Gutes herausziehen, ohne ihr Böses zu fühlen, wenn Böses da ist; aber wenn meine Religion hauptsächlich erdichtet ist, dann diktiert die Heuchelei mir das Annehmen einer ungewöhnlichen Geistlichkeit, oder jedenfalls habe ich nicht Gnade genug, um von einer Betrachtung der Werke Gottes zu einer nähern Gemeinschaft mit Gott selbst hinaufzusteigen. Es kann nicht sein, dass die Natur an sich mich erniedrigt oder mich von Gott abzieht; ich sollte etwas Fehlerhaftes in mir selber argwöhnen, wenn ich finde, dass des Schöpfers Werke keine gute Wirkung auf meine Seele haben.
Überdies, seid gewiss, Brüder, dass der, welcher die Bibel schrieb, die zweite und klarste Offenbarung seines göttlichen Geistes, auch das erste Buch schrieb, das Buch der Natur; und wer sind wir, dass wir den Wert des ersten herabsetzen sollten, weil wir das zweite schätzen. Miltons «Wiedergewonnenes Paradies» ist sicher geringer an Wert als sein «Verlorenes Paradies», aber der ewige Gott hat keine geringeren Erzeugnisse, alle seine Werke sind Meisterwerke. Es ist kein Streit zwischen der Natur und der Offenbarung, nur Toren meinen das: für die Weisen erklärt und bestätigt die eine die andre. Wenn ich abends auf den Feldern gehe, wie es Isaak tat, sehe ich in der reifenden Ernte denselben Gott, von dem ich in dem Worte lese, dass Er den Bund machte, Saat und Ernte sollen nicht aufhören. Wenn ich den mitternächtlichen Himmel betrachte, gedenke ich an Ihn, der, während Er die Sterne bei Namen ruft, auch die zerbrochenen Herzen verbindet.
Wer will, mag das Buch der Schöpfung vernachlässigen oder das der Offenbarung, ich werde meine Freude an beiden haben, so lange ich lebe.
Predigt von C.H.Spurgeon (Eingangsteil) vom 13. August 1871
Aus „Hauspostille“ (1893 auf deutsch im Oncken-Verlag)
Dieser Beitrag wurde erstellt am Sonntag 4. August 2024 um 7:37 und abgelegt unter Predigten / Andachten.