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„Enge Häuser“ – Andacht über Enge und Weite

Zu jeder Aufzählung geistlicher Größen sollte Augustinus, der Bischof von Hippo, gehören. Wenn man einhundert kundige Menschen fragt, wen sie nach Paulus zu den Christen mit der größten Wirkung rechnen würden, fiele ihre Antwort wahrscheinlich sehr unterschiedlich aus; man kann jedoch mit Sicherheit davon ausgehen, dass jeder von ihnen Augustinus hinzuzählen würde. So groß war er – sowohl in intellektueller als auch in geistlicher Hinsicht.

Im Laufe der Jahrhunderte hat man immer wieder erkannt, welch ein großer Christ Augustinus war, wenngleich er wie jeder Mensch seine Fehler hatte – auch nach seiner Bekehrung. Am Anfang seines berühmten Werkes, der Bekenntnisse, sagt er: »Zu enge ist das Haus meiner Seele, dass du drin Einkehr halten könntest; so erweitere du es!«[1] [1] Er sagte das mit großem Ernst, und seine Aussage gibt uns vielleicht einen Fingerzeig auf das Geheimnis seiner Größe.

Als sich Augustinus mit Gottes Wesen und Person beschäftigte, war dies so gewaltig, dass ihm seine eigene Fähigkeit, darüber nachzusinnen, unerträglich begrenzt erschien. Gott war für ihn so unermesslich groß, so welterfüllend, dass kein Tempel ihn fassen noch ein Heiligtum ihn umschließen konnte. Er erfüllt den Himmel und den Himmel der Himmel, und die Welt selbst ist viel zu klein, um ihn aufzunehmen. Wenn Augustinus sein eigenes Herz betrachtete, sah er nur Enge und Beschränkung; und das trieb ihn ins Gebet.

»Erweitere du es!«, lautete der unwillkürliche Schrei seiner Seele.

Wie weit ist dies entfernt von der Haltung der Selbstzufriedenheit, der wir heute überall begegnen! Das höchste Ziel der meisten Christen unserer Tage scheint ihre Errettung zu sein. Das ewige Leben zu haben und zu kennen, ist für viele das größte Bestreben.

Hier beginnen sie, und hier hören sie auf. Um diesen Punkt herum bauen sie ihren engen Tempel, und innerhalb dieser engen, selbst auferlegten Beschränkungen singen sie ihre selbstgefälligen und beschwingten Lieder.

Das Weiteste im Universum ist nicht das All; es ist die potenzielle Aufnahmefähigkeit des menschlichen Herzens. Geschaffen nach dem Bild Gottes, ist es imstande, sich im Grunde jeden neuen Bereich nach allen Richtungen hin zu erschließen. Und eine der schlimmsten Tragödien der Welt ist, dass wir es unserem Herz erlauben, sich so sehr zu verengen, bis nur noch wenig Raum für andere Dinge darin zu finden ist – für irgendetwas außer für uns selbst. Wordsworth[2] [2] beklagte die Tatsache, dass unsere Welt, wenn wir älter werden, kleiner wird und das »Licht, das niemals Land oder Meer beschien«[3] [3], langsam verdunkelt und am Ende verlöscht.

Der Himmel uns umgibt in Kindertagen!

Die Schatten des Gefängnisses sich langsam schließen, Sobald der Junge wächst heran,

Noch nimmt er wahr das Licht und sieht’s vom Ursprung fließen …

Wie schwach und schwächer sie[4] [4] ihm wird, der Mann noch spürt,

bis sich der Glanz im Licht des Alltags ganz verliert.[5] [5]

Von allen Menschen sollten die Christen die weitesten Herzen haben; sie sollten auch nicht im Entferntesten auf den Gedanken kommen, ihre Herzen zu verengen. Sie sollten fortwährend nach innerer Weite suchen – ungeachtet dessen, welches Bild sich ihnen auch bieten mag. Wenn man nach außen hin Größe demonstriert und im Inneren kleinherzig ist, heuchelt man auf eine gewisse Weise, aber die Bescheidenheit, die hinter ihrem einfachen Äußeren ein großes Herz verbirgt, muss Gott überaus gefallen.

Die schärfste Kritik, die an den Christen geübt wird, zielt darauf ab, dass ihr Denken eng und ihr Herz klein ist. Das mag nicht ganz zutreffen, aber dass eine derartige Anklage überhaupt erhoben werden kann, ist Grund genug dafür, in sich zu gehen, das eigene Herz ernsthaft zu prüfen und zu beten. Frömmigkeit ist gleichbedeutend mit einem gottgemäßen Leben, und Gott ähnlich zu sein, bedeutet zweifellos, groß (im Sinne von großherzig) zu sein.

Gott ist unendlich viel größer als die Welt; das gesamte geschaffene Universum ist unermesslich klein angesichts seiner Größe. Wenn unsere Fähigkeit, am Ergehen anderer Anteil zu nehmen, stark eingeschränkt ist, verhalten wir uns alles andere als gottgemäß.

Das Angemessenste, was wir tun können, ist, dies einzugestehen.

Nichts ist so vergeblich wie der Versuch, unsere moralischen Fehler vor den scharfen Augen der Welt zu verteidigen. Wir sollten die Ursache der Kritik entfernen, anstatt sie zu leugnen.

Paulus[6] [6] war ein kleiner Mann, dessen geistliches Leben eine beeindruckende Weite aufwies; sein großes Herz wurde oft durch die Engherzigkeit seiner Glaubensgeschwister beschwert. Веsonders die Christen in Korinth bereiteten ihm durch ihre inneren Begrenztheiten viel Kummer.[7] [7] Der Anblick ihrer Kleinherzigkeit ging ihm sehr nahe. Einmal rief er voller Schmerz und Liebe aus: »Unser Mund hat sich euch gegenüber geöffnet, ihr Korinther; unser Herz ist weit geworden! Ihr habt nicht engen Raum in uns; aber eng ist es in euren Herzen! Vergeltet uns nun Gleiches – ich rede zu euch als zu meinen Kindern – und lasst es auch in euch weit werden!« (2. Kor 6,11–13; Schlachter 2000).

Wenn sich jemand fragt, wie er sein Herz weiten kann, dann will ich hier gleich anfügen, dass ihm das selbst nicht gelingt. Paulus sagte: »Lasst es auch in euch weit werden«, aber er sagte nicht:

»Macht auch ihr euer Herz weit« (Luther 1984)! Dazu waren sie nämlich außerstande. Was das Herz betrifft, so kann nur Gott es umgestalten. Nur derjenige, der auch unsere Seele geschaffen hat, kann eine seelische Wiederherstellung schenken, wenn der Wirbelsturm der Sünde über sie hinweggegangen ist und nur einen kleinen Raum stehen gelassen hat.

Wenn wir Gott unser Herz übergeben, erwarten wir vielleicht, wie es auf wunderbare Weise weit wird. Und wer weiß, was Gott tut, wenn wir unsere Hände sinken und ihn wirken lassen. »Was weißt du«, so fragt Meister Eckhart, »was für Rangstufen Gott in die (menschliche] Natur gelegt hat, die noch nicht alle beschrieben sind, ja, die noch verborgen sind?« Und ein besonderes Charakteristikum des Lebens eines Großherzigen ist, dass er sich dessen völlig unbewusst ist. Das größte Herz ist vermutlich das, das man beten hört: »Zu enge ist das Haus meiner Seele … erweitere du es!«

 


 

 

Fußnoten:

[1] [8] Augustinus, Bekenntnisse, 1. Buch, 5. Kapitel.

[2] [9] William Wordsworth (1770–1850), britischer Dichter.

[3] [10] A.d.H.: Internet-Angaben zufolge wird hier aus einem anderen Werk Wordsworths zitiert, und zwar aus den »Elegischen Strophen«. Die oben angeführte Wendung lautet (etwas erweitert) in einer Übertragung folgendermaßen: »In Glanz das Meer ich tauchte und das Land, / wie ich das Licht in heiliger Verwandlung sah.« Vgl.:
http://www.william-wordsworth.de/translations/elegiac%20Stanzas.html
(abgerufen am 10.8.2022).

[4] [11] A.d.H.: Damit ist die innere, in dem ausgelassenen Zwischenstück erwähnte Kraft gemeint, die die Wanderschaft des Protagonisten begleitet.

[5] [12] Zitiert aus dem Gedicht »Ode. Hinweise auf die Unsterblichkeit aus Erinnerungen an die frühe Kindheit« von William Wordsworth; vgl.: http://www.william-wordsworth.de/translations/ode.html [13]. Das in der zitierten Quelle verwendete Metrum ist hier beibehalten worden.

[6] [14] A.d.H.: Dieser Name bedeutet »der Kleine«.

[7] [15] A.d.H.: Bemerkenswerterweise werden hier die Korinther und nicht z. B. die Galater als diejenigen angeführt, die eine derartige Haltung verkörperten. Obwohl es stimmt, dass die Korinther in vielen Angelegenheiten viel zu nachlässig waren, gab es andere Bereiche, in denen sie ihre Engherzigkeit erkennen ließen (vgl. z.B. 1. Kor 1,12 [das Vorhandensein von mindestens vier »Parteiungen« bzw. »Gruppierungen« innerhalb der Gemeinde Korinth]).

 


 

Quelle:

Tozer, Aiden Wilson: Die Wurzel der Gerechten, Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung (CLV) 2022, 158 S., S. 110–113.