Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Interview: Kirche mit Lust auf Atheisten

Dienstag 9. Juli 2024 von Pfarrer Justus Geilhufe


Herr Geilhufe, haben Sie Angst um die Kirche?
Nee.

Warum nicht?
Weil der Grund, auf dem sie steht, unabhängig ist von unserem Tun und unseren Ängsten. Trotzdem habe ich eine Sorge um die Gemeinden unserer Kirche, die vor großen Herausforderungen stehen und manchmal das Gefühl haben, damit allein zu sein. An diesem Gefühl müssen wir was ändern.

Wie würden Sie das machen?
Erstens müssen die Gemeinden neu lernen, dass sie in ihrem Alltag, Zustand und in dem, was um sie herum geschieht, begleitet sind von dem, der das Volk Gottes über die Jahrtausende hinweg getragen hat. Es ist schon manchmal schwer, Gott und unseren Glauben mit dem ganz Banalen, Alltäglichen und auch Kleiner-Werden in Verbindung zu bringen. Dazu braucht es von uns Pfarrern und den Kirchenleitungen ein kluges Predigen und ein gutes, zielgerichtetes Handeln. Zweitens müssen die Leute da draußen neu lernen, dass diese Kirche tatsächlich ihre Heimat ist. Beides müssen wir in den nächsten 20 Jahren irgendwie hinkriegen.

Ihre Gemeinde in Großschirma wächst gegen den Trend – und das in Sachsen, im atheistischen Kernland. Sie müssten doch von Kirchenleitenden ständig gefragt werden, wie Sie das machen.

Das findet grundsätzlich nicht statt. Gleichzeitig, ja, schaffe ich es schon, zunehmend Interesse zu wecken. Generell aber werden ostdeutsche Stimmen, egal ob in unserem Land oder in unserer Kirche, weniger gehört. Dann bin ich in meiner ersten Pfarrstelle, einer kleinen Gemeinde irgendwo … da stellt sich die grundsätzliche Frage, inwiefern das für den großen Rest überhaupt interessant ist. Dazu kommt, was sehr ungewöhnlich für viele ist, dass ich ja nichts neu mache. Wir haben keine Lobpreisabende oder Worship-Musik, sondern ich mache genau die Arbeit, die schon meine Eltern und deren Eltern gemacht haben. Wir sind die typischste landeskirchliche Gemeinde ever. Und wir beobachten, dass mit den klassischen Angeboten Gemeinde wachsen kann und es möglich ist, in der dritten Generation entkirchlichte Leute anzusprechen. Das wollen manche auch einfach nicht hören, weil sie total Bock auf die neuen Formen haben. Und dann kommt einer wie ich um die Ecke und sagt, „nee, guckt mal, das klappt auch mega mit den alten“.

Keine Erprobungsräume, keine neuen Ideen?! Wieso funktioniert das bei Ihnen?

Ich glaube, die Leute draußen merken, dass wir sie tatsächlich gern bei uns haben wollen – und nicht einfach als zahlendes Mitglied. Manche in der Kirche sind sich nicht bewusst, was für ein großer Schritt das ist. Die meisten Gemeinden, ich würde auch sagen Landeskirchen, wollen missionarisch sein, meinen damit aber letzten Endes, dass sie irgendwie die Mitgliedszahlen halten, damit alles so bleiben kann, wie sie es schön finden. Mission aber ist das Gegenteil davon: Andere kommen dazu und sind eben anders. Das will so gut wie niemand. Ich denke, bei uns merken die Leute, dass der christliche Glauben tatsächlich was mit ihnen zu tun hat und dass sich die Gemeinde freut, wenn andere dazukommen. Diese neuen Menschen werden auch nicht einfach „assimiliert“, sondern sie haben hier ihren Platz, auch wenn sie vieles nicht kennen und ganz anders ticken. Sie merken, hier ist ein Ort, den sie eigentlich schon lange gesucht haben.

Wie aber sagen Sie kirchenfernen Menschen, was das Evangelium für ihr Leben bedeutet? Mit frommer Sprache kommen Sie sicher nicht weiter.

Wir haben vor allem Glaubenskurse oder Gesprächskreise, die sich an die Begegnungen anschließen, die wir haben. Unsere Gemeindeleute sind viel draußen unterwegs und so kommen Menschen mit uns ins Gespräch, weil wir halt beim Feuerwehrfest rumhängen, Dinge im Dorf mitmachen oder irgendwo helfen. Total oft sagt dann jemand, „die Frage hatte ich eigentlich schon immer“. Dann laden wir zum Glaubenskurs ein, der sehr einfach gehalten ist. Wir landen bei den grundsätzlichen Fragen und stellen fest, dass die Geschichten aus der Bibel 2000 Jahre alt sind, aber ansprechen, was wir jeden Tag erleben. Es hilft Menschen, sagen zu können, „alter Schwede, das versteh ich alles überhaupt nicht“, weil wir uns nicht in den Glauben hineinerklären, aber miteinander feststellen, dass uns etwas darin trägt. Das zu beobachten ist schön. Diesen Prozess besser zu strukturieren und zu systematisieren ist herausfordernd, aber gewinnbringend – das wollen wir in den nächsten Jahren probieren.

Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) kommt zum Schluss, dass sich Menschen immer weniger für Glaubensinhalte interessieren und von der Kirche vor allem Gemeinschaftsangebote und Diakonie erwarten. Eigentlich widersprechen Sie diesem Befund, wenn Sie auf Mission setzen.

Ja! Und ich muss schon die Frage stellen, was man aus dieser KMU-Untersuchung zieht. Denn die Menschen, die ihren Weg zu uns gefunden haben, haben ja nicht zu Hause gesessen und gesagt, „also, ich wär‘ jetzt mal an Glaubensinhalten interessiert“. Die sagen natürlich alle, dass es gut ist, wenn die Kirche was für Arme macht. Das sagt ja jeder! Dazu brauche ich keine KMU. Die eine Frage ist: Was wollen die Menschen? Die andere aber, die sich ein Christ auch immer zu stellen hat, ist: Was brauchen die Menschen? Wir denken als Christen doch, dass sie Glaubensinhalte brauchen, auch oder gerade wenn sie nicht danach suchen – und dann müssen wir schauen, wie wir sie zu ihnen bringen können.

Damit widersprechen Sie dem pluralistischen Ansatz unserer modernen westlichen Welt, nach dem jeder selbst definiert, was er braucht.

Ja, und ich erlebe die Menschen, die versuchen so zu leben, auch nicht als sonderlich glücklich. Es ist also auch kein Konzept, was mich empirisch überzeugt. Ich sage damit keineswegs, dass Atheisten schlechte Menschen sind. Sucht nicht, was ihr essen und was ihr trinken sollt, und ängstigt euch nicht! Im Gespräch sage ich vielmehr, wir Christen glauben, dass wir schlechte Menschen sind und deswegen einen brauchen, der uns hilft. In der atheistischen Gesellschaft beobachte ich aber an vielen Stellen eine krasse Unsicherheit, den Leuten fehlt ein Fundament, auf dem sie stehen. Dadurch versuchen sie relativ hektisch, schnelllebig und auch in einer gewissen Oberflächlichkeit Probleme zu behandeln, die auf existenzieller Ebene existieren. Damit landen sie aber oft nirgendwo.

Laut 6. KMU würden sehr viele nicht aus der Kirche austreten, wenn sie sich gesellschaftlich-politisch stärker engagieren würde. Der Ende des letzten Jahres verstorbene Wolfgang Schäuble aber hat genau das 2017 kritisiert: „Manchmal entsteht der Eindruck, es gehe in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube.“ Schickt die KMU die Kirche da nicht auf einen Irrweg?

Ja und Nein. Ich glaube nicht, dass das Problem letzten Endes bei politischen Statements liegt, sondern das Problem ist ein theologisches. Die freie bürgerliche Gesellschaft, in der wir leben, ist ja aus christlicher Theologie und Praxis heraus entstanden. Deshalb kann die Kirche gar nicht anders, als sich in dieser Sphäre auch immer wieder politisch zu äußern. Das theologische Problem dahinter ist, dass die Kirche irgendwann den Eindruck erwecken kann, es wäre möglich, machbar und daher notwendig, hier in dieser Welt „richtig“ zu leben. Als Sünder aber sind wir zum „richtigen Leben“ gar nicht in der Lage. Dann hören die Menschen keine befreiende Botschaft, sondern bekommen Druck von der Kirche.

Dann würde sich die Kirche nur noch an einem moralischen Kodex orientieren und das Geistlich-Übernatürliche käme zu kurz.

Das wäre die Gefahr.

Ich höre heraus, dass Sie von der Diskussion um die Kreuzestheologie nichts halten. Den stellvertretenden Sühnetod Jesu infrage zu stellen, zieht derzeit ja Kreise bis weit in die evangelikale Welt hinein.

Nein. Wir brauchen nicht weniger, sondern viel mehr klassische Theologie. Ein Leiden unserer Kirchen ist die Theologievergessenheit, das Abtun von Dogmen als starken alten Wahrheiten, die mit dem modernen Menschen nichts mehr zu tun hätten. Das ist ein riesengroßes Problem.

Viele in der Kirche versuchen derzeit deprimiert, den Niedergang zu verwalten. Wie träumen Sie Ihre Kirche der Zukunft?

Als eine Kirche, die tatsächlich auf das vertraut, was schon lange war, und die eine Lust daran hat, andere zu suchen und zu finden. Drittens als eine Kirche, die ihre Sprache wiederentdeckt hat. Nichts ist faszinierender für Menschen da draußen als mündige Christenmenschen, das ist wirklich so! Wenn das normale Gemeindeglied sagen kann, warum es woran glaubt, ersetzt das ein ganzes Pfarramt! Deswegen ziehe ich mir „Teamer“ heran, junge Gemeindemitglieder, die den noch jüngeren Konfirmandenunterricht geben. Deswegen mache ich so viele Glaubenskurse. Wenn ich anderen Dinge erkläre, bringt das natürlich was. Aber wenn ein 16-Jähriger einem 14-Jährigen sagt, „du, ich glaube an Jesus, weil …“, dann ist das durch nichts zu ersetzen. Deswegen besteht die Kirche der Zukunft vor allem aus Menschen, die auf Gott vertrauen und ihm mündig hinterherlaufen. Das ist möglich, auch mit wenig Geld und wenig Strukturen. Ich glaube, diese drei Dinge werden entscheidend sein.

Halten Sie das Pfarramt also für überbewertet?
Genau im Gegenteil: Es ist eine Illusion zu denken, diese mündigen Christenmenschen würden auf Bäumen wachsen. Das Beste, was der Kirche der Zukunft passieren kann, wäre, dass jeder kleine Ort wieder sein klassisches Pfarrhaus hat.

Der Trend geht aber genau in die andere Richtung: Ehrenamt stärken, auch im Sinne des „Priestertums aller Gläubigen“.
Ja, aber ich verstehe das eher als ein Schönreden von allgemeinen Kürzungsprozessen. Es ist nicht gut, wenn Pfarrstellen gestrichen werden. Es ist nicht gut, wenn klassische Gemeindestrukturen aufgegeben werden. Das ist eine mittlere Katastrophe. Ganz im Gegenteil, wir brauchen in Zukunft im besten Fall mehr Pfarrer, nicht weniger.

 


 

Dr. Justus Geilhufe, Jahrgang 1990, ist verheiratet und hat zwei Kinder.Er ist evangelisch-lutherischer Pfarrer in Großschirma (Kirchgemeinde am Dom zu Freiberg) in Sachsen. Dort treten mehr Menschen in die Kirche ein als aus, es lassen sich mehr Menschen taufen, als sterben. Aufgewachsen als Pfarrerssohn in Dresden, hat er in Jena, Princeton, München und Leipzig Theologie und Philosophie studiert. Zum Weiterlesen: Justus Geilhufe: Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche. Claudius, München 2023.

 


 

Quelle: Geistesgegenwärtig. Zeitschrift für Erneuerung in der Kirche. 2 / 2024

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 9. Juli 2024 um 18:00 und abgelegt unter Allgemein, Gemeinde, Kirche.