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Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus

Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus (Auszug aus einem Vortrag von 1892)

Meinen Mahnruf kann und will ich recht auffallend in das Urteil zusammenfassen: Der historische Jesus der modernen Schriftsteller verdeckt uns den lebendigen Christus. Der Jesus der »Leben Jesu« ist nur eine moderne Abart von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst, nicht besser als der verrufene dogmatische Christus der byzantinischen Christologie; sie stehen beide gleich weit von dem wirklichen Christus. Der Historizismus ist an diesem Punkte ebenso willkürlich, ebenso menschlich hoffärtig, ebenso vorwitzig und so »glaubenslos-gnostisch« wie der seiner Zeit auch moderne Dogmatismus. Das gilt von beiden als »Ismen«.

Ich beginne mit der Frage: Was heißt »historischer Jesus«? Diese Bezeichnung hat eine Geschichte nicht minder als die philosophischen Termini; und die Jungen ahnen großenteils gar nicht mehr, was er in den früheren Schriften bedeutet. Zu allererst hat er den biblischen Christus dem dogmatischen entgegenstellen wollen, nämlich den lebensvollen, anschaulichen Menschensohn in seinem Tun, Reden und Erleben jener Zeichnung in Begriffen, welche in dünnen Umrissen, die dem Denken so schwer vereinbaren Grundlagen dieses einzigen Lebens aufzeigen sollte.

Und da der vierte Evangelist ihn als das ewige Wort bekennt, so wird man eigentliche Berichte nur bei den sogenannten Synoptikern zu suchen haben. Allein, alsbald fand sich die Einsicht, daß auch hier schriftstellerische Absicht, fromm umgestaltende Sage, unwillkürliche Entstellung gewirkt habe, und nun blieb nichts andres übrig, man mußte auf die Suche nach dem historischen Jesus ausziehen, der hinter den urchristlichen Berichten, ja hinter dem Ur-Evangelium steht, undeutlich durchscheinend. Das ist nun eifrig getan; manchem aber will es scheinen: Obwohl man mit Spießen und Stangen ausgezogen ist, »er ging hinaus, mitten durch sie hinstreichen«. Wenn er aber unter sie tritt mit seinem »Ich bin’s«, wer wird nicht erschüttert zusammenbrechen?!

Ich sehe diese ganze »Leben-Jesu-Bewegung« für einen Holzweg an. Ein Holzweg pflegt seine Reize zu haben, sonst verfolgt man ihn nicht; er ist gewöhnlich auch zunächst ein Stück des richtigen Weges, sonst gerät man gar nicht auf ihn. Mit anderen Worten: wir können diese Bewegung nicht ablehnen, ohne sie in ihrer Berechtigung zu verstehen.

Sie ist durchaus im Rechte, sofern sie die Bibel wider abstrakten Dogmatismus setzt; sie verliert ihr gutes Recht, sobald sie beginnt, an der Bibel herum zu schneiden und zu reißen, ohne sich über die besondere Sachlage an diesem Punkte und über die eigentümliche Bedeutung der Schrift für diese Erkenntnis völlig klar geworden zu sein.

Die Überlieferung von Ihm kann gar nicht emsig und treu genug ausgeschöpft werden. Nun versenkt man sich in sein Tun und Lassen; man sucht es zu verstehen; man verfolgt es in seinen Voraussetzungen; man versenkt sich in sein Bewußtsein; in sein Werden, ehe er hervortrat — man geleitet den jugendlichen Jesus durch die Klüfte und Felder, an der Mutter Schoß, in des Vaters Werkstatt und in die Synagoge — und man ist eben auf dem Holzwege.

Denn die erste Tugend echter Geschichtsforschung ist die Bescheidenheit; Bescheidenheit kommt von Bescheid wissen; und wer Bescheid weiß mit geschichtlichen Tatsachen und Quellen, der lernt Bescheidenheit, sowohl im Wissen als auch im Verstehen.

Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann. Ich betone: für eine Biographie Jesu von Nazareth von dem Maßstabe heutiger geschichtlicher Wissenschaft.

Die neuere Biographie sucht ihre Stärke in der psychologischen Analyse in dem Aufweise der Fülle und Kette von Ursachen, aus welchen die Erscheinung und Leistung des geschilderten Menschen entsprungen ist; so fordert denn die echte Menschheit dieses Jesus jedenfalls, daß man sein Werden verstehe, die langsame Entwicklung seiner religiösen Genialität, das Durchbrechen seiner sittlichen Selbständigkeit, das Aufdämmern und Aufleuchten seines messianischen Bewußtseins. Die Quellen aber enthalten von dem allen nichts, auch gar nichts.

Vor einem Dogma, wenn es ehrlich als solches geboten wird, ist heute jedermann auf seiner Hut. Erscheint aber die Christologie als Leben Jesu, dann sind nicht sehr viele, welche den dogmatisierenden Regisseur hinter dem fesselnden Schauspiel des farbenreich gemalten Lebensbildes spüren. Den verborgenen Dogmatiker aber spürt gewiß niemand so sicher heraus, als wer selbst ein Dogmatiker ist; wer sich gewöhnt hat, die Fortwirkungen von Grundgedanken in allen einzelnen Urteilen mit Bewußtsein und Absicht zu verfolgen. Und darum wird der Dogmatiker ein Recht haben, hier eine Warnungstafel vor der angeblich voraussetzungslosen Geschichtsforschung aufzurichten, wenn sie eben aufhört, Forschung zu sein und zum künstlerischen Gestalten fortschreitet. Und weil es in Prosa, etwa auch auf der Kanzel, geschieht, meint man, das sei eben nur Darlegung des geschichtlichen, biblischen Christusbildes. Weit gefehlt. Es ist zumeist der Herren eigner Geist, in dem Jesus sich spiegelt. Und das hat doch hier in der Tat mehr zu besagen als auf anderen Gebieten.

Deshalb treiben wir Verkehr mit dem Jesus unserer Evangelien, weil wir da eben den Jesus kennenlernen, den unser Glaubensauge und unser Gebetswort zur Rechten Gottes antrifft; weil wir es mit Luther wissen, daß Gott sich nicht will finden lassen als in seinem lieben Sohne, weil er uns die Offenbarung ist; richtiger und ausdrücklich: weil er uns das Fleisch gewordene Wort, das Bild des unsichtbaren Gottes, weil er uns der offenbare Gott ist.

Das sucht der Glaubende. Das feiert die Gemeinde. Die wenigsten können die Arbeit der Historik vollziehen, nur wenige kraft ihrer Bildung diese Arbeit in etwa beurteilen. Des Ansehens der Bibel wären wir dann freilich enthoben, aber dem Ansehen — nicht einer arbeitenden Wissenschaft, sondern — der angeblichen Ergebnisse dieser Wissenschaft wären wir unterworfen. Und niemand kann uns die Frage beantworten: bei welchem fünften Evangelisten sollen wir das Bild des erhöhten Christus, das Bild des offenbaren Gottes suchen? bei welchem Biographen? wir haben die Wahl in einer Reihe von Heß und Zündel über David Strauß bis hin zu Renan, Noack, der sozialdemokratischen Pamphlete zu schweigen.

Entweder also müssen wir auf den offenbaren Gott verzichten — oder es muß eine andere Wirklichkeit Christi geben als die des biographischen Einzelwerkes; einen andern Weg, zum geschichtlichen Christus zu gelangen, als den der quellen-prüfenden und historisch-analogisch konstruierenden Kritik der historischen Theologie. Besinnen wir uns! Was ist denn eigentlich eine geschichtliche Größe? Ein seine Nachwelt mitbestimmender Mensch nach seinem Wert für die Geschichte gewogen. Eben der Urheber und Träger seiner bleibenden Fortwirkung. Als wirkungsfähiger greift der Mensch in den Gang der Dinge ein; was er dann ist, das wirkt, dadurch wirkt er. Bei Tausenden, deren Spuren in der Entwicklung der Zeitgenossen und der Nachwelt sich erst spät oder nie verwischen, bleibt ihre frühere Entwicklung für die Forschung das unter dem Boden versteckte Wurzelwerk, bleibt auch das einzelne ihres Wirkens für immer vergessen.

In ihrem Werke lebt die reife, die geschichtsreif gewordene Persönlichkeit; und an dieses Werk knüpft sich dann in unvergeßlichen Zügen und Worten auch wohl ein unmittelbarer Abdruck ihres wirkungskräftigen Wesens; und als Wirkung ist derselbe notwendig mitbestimmt, durch den Stoff, in dem er sich abprägt, durch die Umgebung, auf welche er zu wirken hatte und zu wirken vermocht hat. Schon rein geschichtlich gegriffen ist das wahrhaft Geschichtliche an einer bedeutenden Gestalt die persönliche Wirkung, die der Nachwelt auch spürbar von ihr zurückbleibt.

Was aber ist die Wirkung, die durchschlagende, welche dieser Jesus hinterlassen hat? Laut Bibel und Kirchengeschichte keine andre als der Glaube seiner Jünger, die Überzeugung, daß man an ihm den Überwinder von Schuld, Sünde, Versucher und Tod habe. Aus dieser einen Wirkung fließen alle andern; an dieser haben sie ihren Gradmesser, mit derselben steigen und fallen, stehen und fallen sie. Und diese Überzeugung hat sich in das eine Erkenntniswort gefaßt: »Christus, der Herr«.

Zu diesem Bekenntnis hat die Zeitgeschichte nichts getan und noch weniger die jüdische Theologie. Die erzählende Zeitgeschichte in Josephus kennt Johannes des Sacharja Sohn. Über Jesus von Nazareth ist sie stumm. Die wirkliche Zeitgeschichte hat ihn zu den Toten geworfen; nachdem er glücklich dem Volkswohl zum Opfer gefallen war (Joh. 11,49f.), gärt und tobt das Judenvolk seinem staatlichen Untergange zu, ohne sich um ihn zu kümmern. Der kleine Haufen der Nazarener kommt dafür nicht in Betracht. Die übrige Welt hätte sich nie um ihn gekümmert, wenn nicht Saul von Tarsus ihm eine Gemeinde gesammelt hätte, den aus dem Senfkorn erwachsenden Riesenbaum, unter dessen Laubdach die Vögel des Himmels Nester bauen. Vollends die jüdische Theologie und ihre Eschatologie! Wir wissen doch, wie schwer der unscheinbare Rabbi zu ringen hatte mit den irdischen Hoffnungen auf einen weltlich-strahlenden Davidssohn, der die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit seinem Volke zu Fuße legen sollte. Was dann von Zügen jener Bilderwelt jüdischer Erwartung in die bilderreiche Darstellung christlicher Hoffnung übergegangen ist, das macht noch heute die Anstöße aus, an denen der hoffende Glaube so leicht mit sich selbst in Widerspruch gerät.

»Christus der Herr«, diese Gewißheit kann Fleisch und Blut nicht erlangen, festhalten und mitteilen; das hat Jesus selbst dem bekennenden Petrus gesagt (Matth. 16,17), wie er es den ungläubigen Juden (Joh. 6,43f.) vorhielt; das hat des Petrus Schicksal im Vorhof des Hohenpriesters bestätigt; das sagt Paulus seinen Gemeinden, ihrer Zustimmung gewiß (1. Kor. 12,3). Wo aber diese Gewißheit entstanden ist und gewirkt hat, da ist sie urkundlich gebunden gewesen an die andre, daß er der Lebendige sei, der Gekreuzigte und Auferstandene. Und wo man in den Verhandlungen der Historiker nach dieser Gewißheit fragt, da setzt man nicht ein bei den viel umstrittenen abgerissenen letzten Erzählungen der Evangelisten; vielmehr verhandelt man über das Erlebnis des Paulus; man stellt den ununterbrochenen Glauben der Gemeinde fest, so hoch und so weit man ihre Zeugnisse und Spuren verfolgen kann. Der auferstandene Herr ist nicht der historische Jesus hinter den Evangelien, sondern der Christus der apostolischen Predigt, des ganzen Neuen Testamentes.

Und wenn dieser Herr Christus (Messias) heißt, so liegt darin das Bekenntnis zu seiner geschichtlichen Aufgabe oder, wie man heut sagt: zu seinem Berufe, und wie unsere Alten mit demselben sachlichen Werte des Ausdruckes sagten: zu seinem dreifachen Amte; das heißt: das Bekenntnis zu seiner einzigartigen, übergeschichtlichen Bedeutung für die ganze Menschheit. Dieser seiner Messianität oder Christuswürde sind sie aber gewiß geworden im Widerspruche mit der öffentlichen Meinung, sowohl über die »Idee« des Messias, das heißt darüber, wie man sich einen Messias dachte und was man von ihm forderte, als auch über die Person dieses Jesus von Nazareth — damals gerade so wie heute. Und wenn man hinterher, in Briefen und Evangelien und zu allererst in Predigten, daran ging, diese Messianität glaubhaft zu machen, so waren es immer zwei Beweistümer, deren man sich bediente: persönliche Bezeugung seiner Auferstehung und — Schrift.

Er als der Lebendige ist ihnen der Messias des alten Bundes. Und darum sprechen auch wir von dem geschichtlichen Christus der Bibel. So gewiß nicht der historische Jesus, wie er leibte und lebte, seinen Jüngern den zeugniskräftigen Glauben an ihn selbst, sondern nur eine sehr schwankende, flucht- und verleugnungsfähige Anhänglichkeit abgewonnen hat, so gewiß sie alle mit Petrus zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren wurden erst durch die Auferstehung Jesu von den Toten (1. Petr. 1,3); so gewiß sie der Erinnerung des Geistes bedurft haben, um zu verstehen, was er ihnen bereits gegeben hatte, und zu fassen, was sie damals nicht tragen konnten (Joh. 14,26; 16,12); so gewiß sie nachher nicht herausgetreten sind, um ihn durch Verbreitung seiner Lehre zum Schulhaupte zu machen, sondern um seine Person und ihre unvergängliche Bedeutung für einen jeden Menschen zu bezeugen; ebenso gewiß waren sie auch erst dann imstande, sein Sein und Gehaben, sein Tun und sein Wort als die Darbietung der Gnade und Treue Gottes zu erfassen, da er vollendet vor sie trat, er selbst die Frucht und der ewige Träger seines Werkes von allumfassender unvergänglicher Bedeutung; und zwar jenes Werkes, dessen schwerstes und entscheidendes Stück des historischen Jesus Ende war.

Ob wir auch den Messias nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn nun doch nicht mehr (2. Kor. 5,16).

Das ist der erste Zug seiner Wirksamkeit, daß er seinen Jüngern den Glauben abgewann.

Und der zweite Zug ist und bleibt, daß dieser Glaube bekannt wird.

Daran hängt seine Verheißung (Röm. 10,9.10); daran hängt für uns die Entscheidung; daran hängt die Geschichte der Christenheit. Der wirkliche, das heißt der wirksame Christus, der durch die Geschichte der Völker schreitet, mit dem die Millionen Verkehr gehalten haben in kindlichem Glauben, mit dem die großen Glaubenszeugen ringend, nehmend, siegend und weitergebend Verkehr gehalten haben — der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus.

Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte; der Jesus, den wir mit den Glaubensaugen ansehen in jedem Schritt, den er tut, in jeder Silbe, die er redet; der Jesus, dessen Bild wir uns einprägen, weil wir daraufhin mit ihn umgehen wollen als mit dem erhöhten Lebendigen. Aus den Zügen jenes Bildes, das sich den Seinigen in großen Umrissen hier, in einzelnen Strichen dort tief eingeprägt und dann in der Verklärung durch seinen Geist erschlossen und vollendet hat, — aus diesen Zügen schaut uns die Person unsres lebendigen Heilandes an, die Person des fleischgewordenen Wortes, des offenbaren Gottes. Das ist nicht versichernde Predigt — das ist das Ergebnis haarscharfer Erwägung der vorliegenden Tatsachen; das ist das Ergebnis der sichtenden und prüfenden Dogmatik, nur darum in Schriftwort gekleidet, weil es eben mit diesem Schriftwort übereinstimmt.

Auszug aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp, Band VIII der Reihe »Klassiker des Protestantismus«, Carl Schünemann Verlag Bremen, S.287ff.
Martin Kähler (1835 – 1912)