Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Georg Huntemann, Die Zerstörung der Person (Text von 1981 – unverändert aktuell!)

Freitag 2. Februar 2024 von Prof. Dr. Georg Huntemann


Prof. Dr. Georg Huntemann

Auszug aus:
Georg Huntemann: Die Zerstörung der Person. Umsturz der Werte, Gotteshaß der Vaterlosen, Feminismus; Bad Liebenzell: Verlag der Liebenzeller Mission 1981, 117 S.

Wiedergegeben werden die ersten Seiten des Buches (S. 9–17; Hervorhebungen im Original).

Im Prozeß der Auflösung

Es war einmal ein christliches Abendland. In diesem christlichen Abendland galten die in der Bibel geoffenbarten Gebote Gottes als absoluter Maßstab, als ein für die ganze Gesellschaft verpflichtendes Ethos. Dieses christliche Abendland war kein Ort moralischer Vollkommenheit. In diesem christlichen Abendland wurden grausame Kriege geführt, Menschen unterdrückt, ausgebeutet und verfolgt. In diesem christlichen Abendland wurde gegen die Gebote Gottes gelebt und gehandelt. Aber niemals, bis in die Neuzeit hinein, und dann zunächst nur am Rande, in den Köpfen einiger revolutionärer Philosophen, wurde das biblische Ethos als solches in Frage gestellt. Die Gebote Gottes waren nicht wegzudiskutierende Maßstäbe des Lebens, sie stellten vielmehr ihrerseits das Tun und Treiben der Gesellschaft in Frage. Der unangefochtene Anspruch eines absoluten, eben biblisch offenbarten Ethos war eine Kraft, die aus jedem Dilemma wieder zur Verantwortung riet, das Böse als Böses und Schuld als Schuld kennzeichnete. Es gab diese letzte Instanz endgültiger Werte, die in der Unordnung zur Ordnung und in der Ungerechtigkeit zur Gerechtigkeit rufen konnte. Solange das Gebot Gottes als unfehlbare Autorität galt, solange konnte unsere europäische Gesellschaft durch eine permanente Reformation immer wieder zum ursprünglichen Gehorsam zurückgerufen werden.
Unsere gegenwärtige Situation ist die Auflösung dieser Werte nicht in dem Sinne, daß wir gegen das herkömmliche Ethos leben, sondern daß wir es grundsätzlich verneinen. Diese unheimliche, radikale Verneinung ist neu. Wir sind ihre Zeugen, obgleich erstaunlich wenig Bürger in unseren europäischen Ländern sich dieser unverhohlenen, veröffentlichten Zerstörung biblischer Werte bewußt sind. Dem Zusammenbruch der Werte steht der »Abendländer« hilflos gegenüber, weil er gewissenlos geworden ist.

Wo und wie zeigt sich der Zerfall der Werte? Hierzu einige Beispiele:
Eine ausdrücklich unter Gottes Gebot gestellte Ordnung ist die Familie. Das fünfte (nach dem Luther-Katechismus das vierte) Gebot – »Du sollst Vater und Mutter ehren« – schützt eine Lebensordnung, die nach biblischem Verständnis wichtiger ist als der Staat. Die Geschichte des alttestamentlichen Gottesvolkes zeigt: Bevor es die Nation, den Staat oder die Gesellschaft gab, war die Familie. Bevor Israel war, war Abraham.

Vater und Mutter stehen in der unmittelbaren Verantwortung vor Gott für ihre Kinder. Aus dieser Verantwortung empfangen sie ihre Autorität, d. h. die Vollmacht, das Leben ihrer Kinder nach Gottes Gebot zu leiten. Diese gottesunmittelbare Autorität und Ordnung der Familie war seit je ein Bollwerk gegen die Verabsolutierung des Staates. Diese Autorität der Familie, ihre von Gott gesetzte Ordnung, wird heute verneint. Abrahams und Noahs Autorität beruhte auf dem Vertrauen zur Autorität Gottes – deswegen konnte Noah die Sintflut überleben und Abraham der Urvater eines Gottesvolkes werden. Sie setzten ihre Autorität nicht aus sich selbst, sondern empfingen sie von Gott, weil sie auf das Wort Gottes hörten. Der Kampf gegen die Autorität der Familie verneint, daß überhaupt Autorität von Gott empfangen und vor Gott verantwortet werden kann und soll.

Die Verneinung der Autorität der Familie ist aber auch die Verneinung der Freiheit der Familie, sie bedeutet (und will dies auch bewußt) die Auflösung der Familie. Der Familie übergeordnet wird heute die Gesellschaft. Eltern haben nicht mehr die »elterliche Gewalt« (Vollmacht im Sinne einer Gott gegenüber zu verantwortenden, weil von ihm empfangenen Autorität), sondern nur noch ein »Sorgerecht«, das sie in der Verantwortung nun nicht mehr gegenüber Gott, sondern gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen.

Das Wort Gott, Name oder Inhalt der Gebote, überhaupt ein absolutes Ethos, das man anerkennt, weil man es kennt, weil es in Worten gegeben ist, sind aus allen Texten, die heute Regeln menschlichen Zusammenlebens vorschreiben, verschwunden.
Diese Gesellschaft verlangt (vgl. den »Zweiten Familienbericht« des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit von 1975) gegen noch geltendes Recht (wie ausdrücklich in diesem Bericht zugestanden wird), »daß die Eltern der einsichtsfähigen Kinder nach Möglichkeit Rücksicht nehmen und bei Maßnahmen im Rahmen des Sorgerechts durch verständnisvolle Aussprache eine Einigung mit dem Kinde anstreben«.

Was ist unter dieser »Einigung« zu verstehen? Auf alle Fälle müssen die Regeln dieser Einigung dem »sozialen und gesellschaftlichen Wandel« angepaßt sein. Diesem Zweck soll die Wissenschaft dienen. Aber »da sich die gesellschaftliche Realität im Zeitablauf ständig wandelt und auch die politischen Maßnahmen Veränderungsprozessen unterliegen, kann dieser Erkenntnisprozeß zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen angesehen werden«! Was also in einer Familie verbindlich zu geschehen hat, sagt eine sich fortwährend ändernde Gesellschaft mit einer sich ebenfalls fortwährend ändernden Erkenntnis der Wissenschaft. Alles ist und bleibt für alle Zeiten im Fluß – heute so, morgen anders.

Heute kann die geforderte Einigung mit dem Kind darin bestehen, daß dem Kind Recht auf sexuelle Selbstverwirklichung mit Zurverfügungstellung des elterlichen Schlafzimmers eingeräumt wird, morgen kann dieser Anspruch auf geschlechtliche Verwirklichung die Zulassung homosexueller Praktiken bedeuten; übermorgen kann sie die Erfüllung des Anspruchs auf geschlechtlichen Verkehr mit eigenen Eltern einfordern. Denn Homophilie und Inzest (geschlechtlicher Verkehr mit Blutsverwandten) sind durchaus keine verurteilten Werte mehr in unserer gegenwärtigen Gesellschaft.

Man möchte hoffen und wünschen, daß solche Ansprüche auf Selbstverwirklichung doch wohl übertrieben sind, den Realitäten nicht entsprechen und auch nicht entsprechen werden. Die Realität ist aber nun einmal, daß ein vierzehnjähriger Schüler 1979 in Bonn anläßlich einer Feier zum »Jahr des Kindes« in Gegenwart des damaligen Bundespräsidenten Scheel und der Ministerin Huber öffentlich folgende Forderung nach Selbstverwirklichung bekundete: »Ich bin ein sexuelles Wesen und will diese Sexualität auch voll ausleben – mit Erwachsenen, mit Vierzehnjährigen, mit Sechzehnjährigen, mit Achtzehnjährigen, mit Jungen und Mädchen, mit Männern und Frauen; es ist egal, welches Geschlecht und wie alt. Liebe brauche ich mehr als alles andere, aber gerade Liebe bekomme ich keine, weil andere Sachen angeblich wichtiger sind – wie Schule, Lernen, Studieren, Geld verdienen. Deshalb darf ich meine Gefühle nicht ausleben; deshalb gibt es Gesetze, die mich zwingen, sechs Stunden am Tag irgendeinen Mist zu lernen. Da mache ich nicht mehr mit. Ich lerne nur noch Sachen, die ich lernen will. Ich werde nur noch nach meinen Gefühlen leben. Ich werde versuchen, frei zu sein, und ihr werdet versuchen, frei zu sein. Und ihr werdet versuchen, mich totzuschlagen, werdet mich auslachen und mich für verrückt erklären, nur um nicht über eure eigene Kaputtheit nachzudenken. Ich brauche euch nicht! Ich finde, in Familien ist es so gut wie unmöglich, daß die Kinder frei leben und daß sie lernen, ihre Wünsche zu artikulieren und auszuleben. In der Familie lernt das Kind nur eins: zu gehorchen und seine Wünsche zu unterdrücken. Das soll man aber nicht tun. Nur wer sich einmal gegen seinen Vater wehrt, der gehorcht auch später vielleicht seinen Lehrern nicht und noch später seinem Chef nicht. Für solche Kinder gibt es dann die staatlichen Erziehungsheime. Diese Gefängnisse sind zur Zeit die einzige Alternative zur Familie. Auf die Idee, daß wir selbst am besten wissen, was gut für uns ist, kommt keiner. Entweder werden wir von unseren Eltern bevormundet oder vom Staat. Was wir wollen, ist scheinbar egal. Wir sollen vergessen, was wir wollen« (zitiert von Christa Meves in »Godesberger Resolution, Beiträge, Proteste« – Bremer Studienhefte, Bd. 4, 1980, S. 10).

Die Gesellschaft – wir werden noch auf die Bedeutung dieses neuen Abgottes zu sprechen kommen – ist allmächtig und allwissend. Sie selbst kennt keine absoluten Maßstäbe, da sie – wie selbst zugegeben wird – im ständigen Fluß der Veränderungen lebt und mit ihr Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Richtig und Falsch. Je weniger Autorität bei der Familie, um so mehr Macht hat die Gesellschaft. Alle Macht der Gesellschaft – das ist das äußere, sichtbare Kennzeichen einer Moralrevolution, die an jedem Verstoß gegen jedes einzelne der Zehn Gebote nachgewiesen werden kann. (Vgl. hierzu Exkurs 1.)

 

Moralrevolution ist Entautorisierung des biblischen Gebots zum Zweck der Autorisierung des Kollektivs
Das Gebot »Du sollst nicht stehlen« schützt die von Gott gesetzte Ordnung des Eigentums. Eigentum ist nicht der Gesellschaft, sondern der Familie zugeordnet. Das biblische Gesetz schützt nicht nur das Eigentum, sondern jeder soll – auch wenn er sein Eigentum schuldhaft verloren hat – in der mosaischen Ordnung des Sabbat- und Jubeljahres wieder zu seinem Eigentum kommen können. Die Verproletarisierung der Gesellschaft soll nicht sein. Gottes ist die Erde. Er hat sie dem Menschen anvertraut – nicht der Gesellschaft, sondern dem einzelnen. Dieser, zum Bilde Gottes geschaffen, soll in freier, persönlicher Entfaltung seine schöpferischen Kräfte in dem ihm eigenen, d. h. ihm zugeeigneten Schöpfungsbereich, durch sein personales Tätigsein entfalten.

In einem gigantischen Prozeß technokratischer und gesellschaftlicher Revolution spielt sich ein ebenso gigantischer Prozeß der Enteignung des einzelnen ab. Wieweit im industriellen Mammutismus überhaupt noch Eigentum praktizierbar bleibt, ist eine Frage – ob wir aber Eigentum als Gottesgebot und damit als Ziel gesellschaftlichen Lebens trotz aller Widerstände technokratischer Lebensgestaltung bezeugen, zum Sinn und zur Aufgabe eines personalen und freiheitlichen Daseins erheben wollen, ist die andere Frage.

Diese Frage wurde in der Moralrevolution mit Nein beantwortet und praktiziert. Inflation und steuerliche Konfiskation, industrielle Expansion und Konzentration treiben die Enteignung des Lebens mit eskalierender Geschwindigkeit voran. Die Monopolstellung des Staates in Verwaltung, Bildung und Wirtschaft weitet sich immer mehr aus: Nur im Sozialismus vollendet sich die Demokratie – das ist das Grundpostulat der gesellschaftlichen Moralrevolution.
Die Fundamentaldemokratisierung der Wirtschaft hat die totale Disparatheit von Einzelverantwortung und Eigentum zum Ziel. Das Postulat Mitbestimmung erstreckt sich dabei nicht nur auf die wirtschaftliche Produktion (vgl. Herbert Marcuse, »Repressive Toleranz«, 1969, S. 121), sondern auch auf die geistige Tätigkeit, wenn die Aufhebung des Tendenzschutzes verlangt wird und Mitbestimmung in letzter Konsequenz die private Meinungsäußerung in Wort, Bild, Ton und Schrift aufheben will mit dem Ziel, daß eben nicht der einzelne, sondern nur das Kollektiv »schöpferisch« sein darf.
In dieser letzten Konsequenz hätte die Sekretärin, die eine Doktorarbeit mit der Schreibmaschine schreibt, das Mitbestimmungsrecht über den geistigen Inhalt. Wissenschaftliche Arbeit soll der Gruppe zugeordnet werden. Das sind nicht nur gegenstandslose Ängste, sondern klipp und klar ausgesprochene Zielsetzungen politisch aktiver Sozialrevolutionäre. So schreibt Fritz Vilmar (in »Strategien der Demokratisierung«, Bd. 1, 1973):
»Die Revolution hat schon begonnen. Orthodoxe Linke halten immer noch Ausschau nach Opas Revolution als einer, die hereinbrechen soll wie ein grandioses Gewitter … Der vom autoritären Vater, Lehrer, Fernsehen und Pfarrer vorgeprägte Sechzehnjährige wird in der Disziplinierung und Leistungskontrolle des Kapitals, die in Gestalt seines Meisters oder Bürochefs ihm begegnet, keine besonders fragwürdige, gar menschenunwürdige Herrschaft empfinden.
Daher gilt auch umgekehrt: Bröckeln die autoritären Strukturen in Familie und Schule, Universität und Kirche, Verwaltung und Massenmedien ab, so wird die Aufrechterhaltung eben dieser Strukturen im Zentralsystem der profiterzeugenden Arbeitswelt immer schwieriger.«
Durch eine »multifrontale Transformationspraxis«, d. h. durch die Praxis an vielen Fronten (Familie, Schule, Massenmedien, Arbeitswelt), soll die Revolution aller Lebensbereiche im Sinne einer Fundamentaldemokratisierung verwirklicht werden.

Anscheinend geht der Kampf gegen Profitsucht, Kapitalismus und Ausbeutung – im Kern aber wird die totale Vergesellschaftung jeden menschlichen Tätigseins gewollt und mit einer von der Mehrheit der Bevölkerung gar nicht verstandenen Strategie Zug um Zug verwirklicht: »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, war ein Schlagwort des Nationalsozialismus. »Du bist nichts, die Gesellschaft ist alles«, ist das Leitwort der modernen Moral-Gesellschaftsrevolution.

In der nationalsozialistischen Ideologie (erinnert sei an das Schlagwort »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«) herrschte im Prinzip eine eigentumsfeindliche, die Gesellschaft (damals sagte man Nation) dem einzelnen überordnende totalitäre Tendenz. Der Antisemitismus stellte sich auch – nicht nur – als Feind des Kapitalismus dar, wobei mit dem Schlagwort »jüdischer Kapitalismus« Kapitalismus und Judentum miteinander identifiziert wurden. Wie sich diese grauenhafte Linie – dem einzelnen bewußt oder unbewußt – fortsetzt, zeigt ein Ausspruch der Terroristin Ulrike Meinhoff, die um die Wende der sechziger und siebziger Jahre ein neues, trauriges Kapitel deutscher Geschichte aufschlug:
»Dort sind sechs Millionen Juden für das, was sie waren, getötet und auf den Misthaufen geworfen worden: Geldjuden … Die Deutschen waren Antisemiten, darum unterstützen sie jetzt die RAF. Sie haben das noch nicht erkannt, weil sie vom Faschismus und vom Judenmord noch nicht losgesprochen worden sind. Und man hat ihnen noch nicht gesagt, daß der Antisemitismus in Wahrheit Haß gegen den Kapitalismus ist« (Bernard-Henry Levy, Das Testament Gottes. Der Mensch im Kampf gegen Gewalt und Ideologie«, 1980, S. 22).

An Beispielen aus den Schöpfungsordnungsbereichen Familie und Eigentum sind nun – aber auch wirklich nur beispielhaft – einige wertumstürzende Faktoren aufgezeigt worden. Die Beispiele zum Gebot »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten« könnten vor allem dem Bereich der Massenmedien entnommen werden, die Tag für Tag ein Bild über die Wirklichkeit aufrichten, das eben Wirklichkeit nicht übermittelt, sondern entstellt.

In diesem Zusammenhang hat ein klassischer Vertreter der sogenannten moralrevolutionierenden kritischen Theorie, Herbert Marcuse (»Die Gesellschaftssicht des sowjetischen Marxismus«, 1957 – deutsche Ausgabe 1974), die Theorie aufgestellt, daß die Lüge die Wahrheit des zukünftigen Sozialismus bewahren kann. Er verteidigt damit die Propaganda des Sowjetkommunismus und dessen Diskrepanz zwischen Illusion und Realität. Er meint, die Theorie dieses Kommunismus sei zwar unwissenschaftlich, irrational und verlogen, aber die Illusion solle das Verhalten der Bürger anleiten, und die Lüge entfalte schließlich die Idee des Sozialismus.
Die selektive Methode moderner Massenmedien, nämlich, durch Tendenz geleitet, jeweils Ausschnitte aus Wirklichkeitsbereichen zu vermitteln, wird hiermit genauso gerechtfertigt wie die totale Ent- und Verstellung von Wirklichkeitsgehalten, wenn nur die Lüge den zukünftigen Sozialismus bewahrt.

Wird die ethische Ordnung einer Gesellschaft zerstört, dann wird über kurz oder lang die Rechtsprechung mit einer Veränderung des geschriebenen Rechtes folgen. Das ist die letzte und furchtbarste Konsequenz: Aus dem Rechtsstaat wird ein Unrechtsstaat. Dazu ein Beispiel, das für viele andere gelten kann.

Der Strafrechtler Eberhard Schmidthäuser schrieb schon 1970 in seinem »Strafrecht allgemeiner Teil« (1970, S. 27), daß das Rechtsgut nicht als absolut gelte, sondern abhängig vom Urteil des Gemeinwesens sei: »Nur soweit etwas in einem Gemeinwesen für wertvoll erachtet, also als gut anerkannt wird und geistig lebendig ist, kann eine Mißachtung dieses Gutes und damit ein Verbrechen vorliegen.«

Entscheidend für die Beurteilung über Gut und Böse, Recht und Unrecht ist nicht eine absolute Moral: »Maßgebend ist also die allgemeine Moral, verstanden im Sinne derjenigen ethischen Werte, deren Anerkennung im Bereich unserer Kultur beim Erwachsenen regelmäßig vorausgesetzt werden darf. Wenn ein Verhalten nur innerhalb einer kleinen Gruppe aufgrund ihrer besonderen Gruppenmoral als verwerflich erlebt wird, so bleibt auch der Verbrechenscharakter des Verhaltens, streng genommen, auf diese Gruppe beschränkt. Die sogenannte pluralistische Gesellschaft, die eine Vielzahl unterschiedlicher Werthaltungen in sich aufnimmt, beruht auf wechselseitiger Toleranz. So darf auch die Verbrechenskennzeichnung nicht Ausdruck von Intoleranz sein.«

Strafrecht orientiert sich also nicht mehr nach dem geoffenbarten Gesetz Gottes oder nach dem als unwandelbar angesehenen Naturrecht des Menschen, sondern nach den wechselnden Verhaltensweisen eines sich wandelnden Kollektivs.
Da die Gesellschaft permanent in einem tiefgreifenden Wandel ist, wächst die Unsicherheit und damit die Flut der Gesetze, die für eine jeweils neue Situation mit einer neuen Verordnung Regulative schaffen müssen. Die Inflation des Geldes meldet den steigenden Wertverlust des Geldes. Die Inflation der Gesetze meldet den Rechtsverlust unserer Gesellschaft.

Unsicherheit der Währung und Unsicherheit des Rechtes zeigen aber immer die Auflösung einer Gesellschaft. Gesetzesflut bedeutet Rechtsunsicherheit, weil die Unfähigkeit, Recht überhaupt einzusehen, zwangsläufig auswuchern muß. Das Rechtsgefühl verkommt. Die Unbestimmtheit der zu erwartenden Gesetze, ihre Willkürlichkeit angesichts einer sich verändernden Gesellschaft produzieren Rechtsunsicherheit.
Gleichzeitig aber wird jeder in dieser Gesellschaft schuldig. Weil er die Gesetze nicht mehr übersieht, muß jeder Bürger damit rechnen, gegen Gesetze, die er gar nicht kennt, permanent zu verstoßen. So wird jeder zu einem Angeklagten und die Gesellschaft zu einer Gesellschaft von Angeklagten (vgl. hierzu Exkurs 2). Angst, Unmündigkeit, schlechtes Gewissen, Furcht vor Funktionären und »Rechtsunlust«, diese Elemente betreiben die Auflösung eines Staatswesens, an dessen Ende nur die Diktatur – als Gipfel willkürlicher Machtausübung – die Funktionsfähigkeit eines Gemeinwesens »retten« kann.

Christliche Existenz gibt es schon heute nur noch in einer nach modernen Maßstäben zu beurteilenden Randgruppenmoral, denn wer – um nur ein Beispiel zu nennen – die Ehe als Gebot Gottes wertet und ihre Auflösung als Schuld, der setzt Schuldprinzip gegen Zerrüttungsprinzip – und moderne Rechtspflege hat ja gerade dieses Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip aufgehoben.

Die Sprache des Rechts ist so sehr »christentumsverfremdend« geworden, daß beispielweise Homosexualität nicht mehr in einen Zusammenhang gebracht wird mit »Schuld« oder »abnorm«, »unmoralisch« oder »sittenwidrig«, sondern einfach als »anderes Verhalten« eingestuft wird.

Am Ende einer solchen das biblische Ethos zerstörenden Moralrevolution steht schließlich das Verbot der Bibel; denn nach den Regeln einer »repressiven Toleranz« muß, was sich selbst absolut setzt, von einer werterelativierenden Gesellschaft als friedestörend verneint werden.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 2. Februar 2024 um 3:00 und abgelegt unter Allgemein, Ehe u. Familie, Gesellschaft / Politik, Kirche, Sexualethik.