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Die kleine Marie

Die kleine Marie

Ich habe vor einiger Zeit eine schöne Erklärung des Spruchs: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht Meines Vaters im Himmel, verbunden mit dem Spruch: Aus dem Munde der Unmündigen hast Du Dir Lob zugerichtet, erhalten, daß ich sie unmöglich für mich behalten kann. Ich bekam nämlich einen kleinen Brief, der an einer Seite angebrannt, an der anderen Seite infolge Nässe offen war, in welchem ein Matthier (Geldstück) lag. In dem Brief war von einer Kindeshand kaum leserlich geschrieben: Der liebe Herr Jesus schickt durch die kleine Marie einen Matthier, wofür die Heiden bekehrt werden sollen. Mehr habe ich nicht, ich brauche auch nicht mehr, ich gehe zu Jesu und warte auf meinen Engel, der mich abholen will, ich denke morgen oder übermorgen. Lieber Pastor Harms, grüße die kleinen schwarzen Heidenkinder von mir und sage ihnen, sie hätten auch jeder einen Engel, der wäre aber weiß, und wenn sie einmal in den Himmel kämen, so wären sie auch weiß. Denn daß sie schwarz wären, das käme, weil die Sonne sie stäche, im Himmel aber stäche die Sonne nicht mehr. – Weiter stand nichts in dem Briefe und ich hätte wohl nimmer erfahren, woher er gekommen wäre, wenn mir nicht der Überbringer davon erzählt hätte. Der war aber ein armer Tagelöhner aus dem Lüneburgischen, der oft hierher zur Kirche kommt und ein rechtes Kind Gott ist. Der erzählte: Die kleine Marie ist nun bei Gott dem Herrn. Sie war, als sie einschlief, 6 Jahre alt. Sie ist die einzige Tochter einer armen Witwe gewesen, die Mutter aber ist ihr auch abgestorben, als das Kind 4 Jahre alt war, und da stand denn die arme Waise ganz verlassen. Sie hat gar nicht geweint bei dem Tode ihrer Mutter, sondern als ihre Mutter begraben werden sollte und in den Sarg gelegt wurde, hat sie fröhlich in die kleinen Hände geklatscht und gesagt: Wie freue ich mich, seit drei Tagen hat Mutter gar nicht mehr geweint, nun muß sie es mal gut haben! Wo geht sie eigentlich nun hin, da ihr sie wegbringt? Da hat jener liebe Tagelöhner, der sie mit zur Ruhe bringen wollte, dem Kinde gesagt: Marie, Mutter ist nun beim lieben Herrn Jesu, und da braucht sie nicht mehr zu weinen, wie sie sonst oft tun mußte. Da ist das Kind so froh geworden, daß sie den guten Mann an die Hand gefaßt hat und ist mit zum Grabe gegangen. Nach dem Leichebegräbnis hat sie aber gar nicht begreifen können, warum man die Mutter in die Erde gelegt habe, sie hat gemeint, es wäre besser gewesen, der liebe Gott hätte sie gleich in den Himmel steigen lassen. Da hat der gute Freund ihrer Mutter ihr gesagt: Siehe, Marie, die Mutter ist so müde geworden von der langen Reise und Arbeit hier auf der Erde, daß sie erst recht ausschlafen und ausruhen muß. Und wenn sie dann ausgeschlafen hat, dann kommt der Herr Jesus und weckt sie aus dem Grabe auf, so wie dich sonst deine liebe Mutter des Morgens aus dem Bette aufweckte. Und wie du dann, wenn sie dich weckte, in das freundliche Angesicht deiner Mutter sähest und warst dann so vergnügt und standest auf, so sieht dann deine Mutter dem lieben Heiland, der sie aus dem Grabe aufweckt, auch in Sein freundliches Angesicht und steht dann ganz vergnügt auf. Nicht wahr? Das wird eine Freude sein! Da klatscht das Kind nochmals fröhlich in die kleinen Hände und sagt: Das ist schön!

Was sollte aber nun aus Marie werden? Der Vater ist tot, Verwandte sind nicht da, Geld ist nicht da, nichts als das Bett, darin die Mutter gestorben ist, das bißchen Hausrat und Mariens Kleider, das ist alles. Der gute Tagelöhner nimmt sich vor, nachdem er das Kind, von dem Grabe zurückkehrend, wieder nach Hause gebracht hat, er will nun hingehen und mit dem Dorfvorsteher oder Bauernvogt, wie man ihn dort nennt, sprechen, damit das Dorf für die Waise sorge. Aber die kleine Marie denkt anders, es fällt ihr gar nicht ein, allein in ihrer Stube zu bleiben, sondern als er seinen Hut nimmt, um zu gehen, faßt sie ihn wieder an die Hand und sagt, als verstehe sich das von selbst: Vadder, ich gah mit un will bi di un Vaddersche blieven! Dem Tagelöhner fallen wohl seine fünf lebendigen Kinder ein, die er zu Hause hat und mit seiner Hände Arbeit ernähren muß; aber die Stimme der Kleinen schlägt in sein Herz, als ob es Gottes Stimme vom Himmel gewesen wäre, und es ist auch Gottes Stimme gewesen. Wohl ihm, daß er ein offenes Ohr und Herz hatte, sie zu vernehmen. Hätte er viel Geld gehabt, würde er wahrscheinlich tauber gewesen sein, denn Geld hat unter anderem auch die Eigenschaft, daß es die Ohren taub und das Herz hart macht. So geht er denn mit seinem sechsten Kind heim und bringt es seiner braven Frau mit den Worten: Mudder, da nett us de leewe God noch’n Kind beschert, dat is’n Vader Unser mehr int Hus! Und die brave Frau knurrt nicht und murrt nicht; der Engel Gottes hat, schon ehe der Vater nach Hause kommt, bei ihr angeklopft, und sie hat ihn bitten wollen, wenn er käme, er sollte hingehen und das Kind holen. Am ändern Tag holt er das Bett und den Hausrat und niemand sagt ihm ein Wort darein, man läßt ihn gewähren, denn die ganze Bauernschaft ist froh, daß sie die Last los ist, die der arme Tagelöhner allein auf sich nimmt. Und ihm ist es, Gott sei Dank, keine Last gewesen. Er hat mir mit Tränen im Auge gesagt, er habe es in den zwei Jahren nicht einen Tag bereut, das Kind zu sich genommen zu haben, er habe mit seiner Frau und seinen sechs Kindern immer Brot gehabt, und ihm wolle es vorkommen, mehr und reicher als sonst, das müsse der Segen des Herrn getan haben, denn er wisse doch nicht, daß er mehr gearbeitet habe als früher, wohl aber habe er mehr gebetet sei der Zeit. Und gleich in der ersten Woche habe er zweierlei gelernt von dem lieben Kinde, so daß er sich in die tiefste Seele hinein habe schämen müssen. Bis dahin nämlich habe er nach dem Abendsegen seine Kinder zwar stets ins Bett gebracht, aber es sei ihm nie eingefallen, die Kinder in ihren Betten einzusegnen. Da habe aber gleich am ersten Abend Marie gemeint, ihre Mutter habe sie immer eingesegnet und das müsse er oder Vaddersche auch erst tun. Ganz beschämt aber habe er fragen müssen, wie denn die Mutter das gemacht habe, und sie habe ihm geantwortet, erst hätte die Mutter ihr das heilige Kreuz auf die Stirn gemacht und dann ihr die Hand aufgelegt und gesprochen: Das walte Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Heilige Geist, der behüte dich durch Seinen heiligen Engel. Amen.

Seit der Zeit habe er Marie und alle seine Kinder jeden Abend eingesegnet, und er danke es dem Kinde noch im Grabe, daß sie ihn das gelehrt habe, zumal da er später hier in der Kirche gehört hätte, daß das allezeit bei uns in der guten alten Zeit Sitte gewesen wäre. Und so wisse er nun gewiß, daß er seit der Zeit wenigstens acht Engel in seinem Hause jede Nacht über gehabt habe, zwei für sich und seine Frau und sechs für seine Kinder, die dann auch des Tages mit einem jeden gegangen wären, weil sich der Engel des Herrn lagere um die, so den Herrn fürchten. Und das zweite, was er von dem Kinde gelernt habe, das sei, bei jeder Morgen- und Abendandacht zu singen und auf den Knien zu beten, denn beides habe er bis dahin noch nicht getan, sondern nur den Morgen- und Abendsegen gelesen. Das sei aber so gekommen. Als er gleich den ersten Abend das Abendsegenbuch nach dem Lesen zugemacht habe und angefangen habe, das Vater Unser zu beten, da sei das liebe Kind auf seine Knie gefallen mit gefalteten Händen und er hätte unmöglich sitzen bleiben können, es hätte auch ihn mit Gewalt niedergezogen und all die Seinen mit und so sei es nachher stillschweigend jeden Morgen und Abend von selbst geschehen, ohne weiter davon zu reden. Am ändern Morgen aber, als alle wieder zur Morgenandacht beisammen gewesen wären, da hätte das kleine Mädchen, eben als er das Buch aufmachen wollte, angefangen zu singen: Wach auf, mein Herz und singe dem Schöpfer aller Dinge, dem Geber aller Güter, dem treuen Menschenhüter – rein, so klar, daß sie alle hätten mitsingen können und mitsingen müssen. Das wäre so lieblich gewesen, daß er seitdem keinen Morgen und keinen Abend mehr hätte unterlassen können zu singen, zumal da das Kind abends wiederum von selbst angefangen hätte zu singen: Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Stadt‘ und Felder, es schläft die ganze Welt. – Er habe nachher erfahren, daß Mariens Mutter täglich morgens und abends gesungen habe und das Kind durch das Zuhören die Gesänge und Melodien so lebendig aufgefaßt habe. Bald darauf habe das Mädchen, da es seine älteren Kinder so oft habe lesen und schreiben sehen, durchaus auch lesen und schreiben lernen wollen und seine Kinder hätten sich eine Freude daraus gemacht, sie darin zu unterrichten, denn es sei wunderbar gewesen, wie die alle die kleine Marie lieber gehabt hätten als sich untereinander, und wenn sie sich auch untereinander manchmal, wie Kinder pflegen, uneinig gewesen wären, so doch nie mit diesem Kinde. Und so sei es ihm und seiner Frau auch gegangen, sie hätten dies Kind lieber gehabt als ihre eigenen Kinder. Nie könne er Gott genug danken, daß Er ihm einen solchen Segen ins Haus gebracht hätte. Ein solcher Segen wäre sie auch für seine Kinder gewesen. Sie hat gar keinen Streit leiden können, und wenn sich die ändern einmal gezankt hätten, dann wäre sie gleich gekommen und hätte gesagt: Du Fritz, du Johann, wenn du streitest, so geht der liebe Engel weg, dann wäre wieder Friede geworden. Fast zwei volle Jahre ließ der Herr dem braven Mann dies gesegnet Kind. Und wenn er hierher zur Kirche gekommen war und dann wieder zu Hause eingetroffen, da haben sich alle Kinder um ihn versammelt, Marie aber hat sich mit seiner Kleinsten auf seinen Schoß gesetzt, und dann hat er erzählen müssen alles, was er gesehen und gehört hatte. Da ist sie denn ganz Auge und Ohr gewesen, wenn er von den kleinen schwarzen Heidenkindern in Afrika erzählt hat, und in dem letzten Vierteljahr ihres Lebens ist sie viermal gekommen und hat ihn um einen Pfennig gebeten, was sie sonst nie getan hatte. Den hat sie dann jedesmal sorgfältig in ihre kleine Lade gelegt. Da wird sie eines Tages krank und die kleine Brust geht ihr heftig auf und nieder. Er will zum Arzt laufen, sie bittet ihn aber, es nicht zu tun. Kind, sagt er, du wirst wieder besser, wenn du Arznei einnimmst; sie aber antwortet: Ich brauch keine Arznei, ich gehe zum Heiland. So hat sie drei Tage im Bette gelegen und nichts trinken wollen als etwas Milch und Wasser. Am vierten Tage, des Morgens 10 Uhr, hat sie den Vater um ein Stücklein Papier gebeten, hat darauf mit zitternder Hand die obigen Worte geschrieben, hat dann den Vater gebeten, ihr für die vier Pfennige einen Matthier zu geben, und er hat ihr versprechen müssen, den Brief mit dem Matthier mir zu geben. Als er den Brief zugemacht hat, hat er ihn aus Versehen an dem Ende etwas angebrannt. Das tut nichts, sagt das Kind, er kann ihn doch wohl lesen. Dann hat sie den Brief unter ihrem Hemd auf die Brust gelegt, da ist das andere Ende von dem Todesschweiß ganz naß geworden. Hierauf hat sie Vater und Mutter und ihren fünf Brüdern und Schwestern die Hand gegeben, hat gesagt, sie wollte den Herrn Jesu fleißig für sie bitten, und sie sollten mich auch grüßen, wenn sie mir den Brief brächten. Mit den Händen gefaltet auf der Brust hat sie dann eine Zeitlang still gelegen und zuletzt gesagt: Nun kommt mein lieber Engel und holt mich zu Jesu. Das ist ihr Ende gewesen. Den Matthier habe ich aber noch und werde ihn auch nicht ausgeben, ich habe einen ändern dafür in die Missionskasse gelegt. Die kleinen Bücher aber, die ich ihr nach und nach geschickt hatte, hatte sie alle vor ihrem Ende unter ihre Brüder und Schwestern verteilt, weil sie so fleißig mit ihr gesungen und gebetet hätten. – Das ist eine von meinen starken Heldinnen und Mitarbeiterinnen gewesen. Dort ist sie es nun noch besser. Gott erwecke mir noch viele solche! Amen. Als mein Bruder diese köstliche Geschichte im Missionsblatt mitgeteilt hatte, erhielt er einen Brief von einem preußischen Juristen des Inhalts, es hätte die Geschichte mit herzlicher Rührung gelesen und dankte ihm dafür, könnte aber als Rechtsgelehrter nicht umhin, ihm zu sagen, daß er den Matthier nicht behalten dürfe, denn eines Verstorbenen Testament müsse pünktlich ausgeführt werden. Ihm antwortete mein sei. Bruder folgendermaßen: Lieber Bruder! Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief, der mich erquickt hat. Ihr Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen. Der Herr hat mir den Matthier schon abgefordert. Ich sollte einen Wechsel aus Afrika zahlen von 2000 Talern. Zur bestimmten Zeit war das Geld bis auf vier Pfennige zusammen, die fehlten an der Summe, und obgleich ich meine Missionskasse und meine Privatkasse umstürzte, wollten die vier Pfennige nicht mehr heraus. Da ich nun nie einen Pfennig leihe, so mußte, wenn ich Wort halten wollte, des lieben Kindes Matthier mit, und er ist mitgegangen. – Gott segne Sie, lieber Bruder, beten Sie für mich, ich bete für Sie! In brüderlicher Liebe und Fürbitte

Ihr Louis Harms