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Ungeborene Kinder ohne Schutz

Das Beratungskonzept lässt ungeborene Kinder schutzlos

Über die begrüßenswerten Bemühungen um eine gesetzliche Regelung zur Vermeidung von Spätabtreibungen drohen die etwa 98 Prozent der vorgeburtlichen Kindestötungen nach dem so genannten Beratungskonzept mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten.

Die Politiker tun so, als beziehe sich die Pflicht des Gesetzgebers, die Auswirkungen der geltenden Gesetze zum „Schwangerschaftsabbruch“ zu beobachten und sein Konzept, soweit erforderlich, zu korrigieren oder nachzubessern, nur auf die Spätabtreibungen, nicht auf die früheren, aber ebenso tödlichen. Nach einem blauäugigen Blick auf die offizielle Statistik wird behauptet, diese würden „immer weniger‘. Und selbst in kirchlichen Kreisen ist die Auffassung zu hören, das in Deutschland geltende „Abtreibungsrecht“ sei vergleichsweise vorzugswürdig. Immerhin hätten wir eine Pflichtberatung, der sich jede Frau vor einer Abtreibung unterziehen müsse.

Aber ist die gesetzlich vorgesehene Beratung denn geeignet, der staatlichen Schutzpflicht für das Leben Ungeborener gerecht zu werden (1.)? Ist gewährleistet, dass eine Beratung, welche diesen Namen verdient, tatsächlich auch stattfindet (2.)? Rechtfertigen die anerkannten Träger dieser Beratung das in sie gesetzte Vertrauen (3.)? Wie effektiv im Sinne des Lebensschutzes ist die gesetzliche Schwangerschaftskonfliktberatung (4.)? Schließlich: Sind die Grundbedingungen erfüllt, von denen ihre Effektivität abhängt (5.)?

1. Die staatliche Schutzpflicht für das Leben Ungeborener „ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein“ (Bundesverfassungsgericht). Eine nur quantifizierende Betrachtungsweise ist deshalb verfehlt, die Erfüllung der Schutzpflicht mit Statistiken allein also nicht belegbar. Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, ob ein Schutzkonzept das Leben jedes einzelnen ungeborenen Kindes wirksam zu schützen vermag. Hierzu ist das Konzept des Gesetzgebers jedoch von vornherein ungeeignet. Denn es überlässt einer schwangeren Frau, die das von ihr Verlangte getan hat, die Letztentscheidung, ihr Kind aus beliebigen Gründen töten zu lassen.

Es gibt keine Beratungspflicht

2. Die gesetzliche Fristenregelung macht die Straflosigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs von dem Nachweis abhängig, dass die Schwangere sich vor dem Eingriff „hat beraten lassen“. Eine Beratung setzt jedoch voraus, dass die schwangere Frau der sie beratenden Person die Gründe mitteilt, derentwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt. Diese Mitteilung wird nach dem Gesetz zwar „erwartet“. Die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft, heißt es, dürfe aber nicht erzwungen und die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung nicht verweigert werden, wenn durch die Fortsetzung des Beratungsgesprächs die Beachtung der für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs einzuhaltenden Fristen unmöglich werden könnte. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat daraus gefolgert, die Schwangere könne die Beratungsbescheinigung erhalten, „obwohl sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat.“ Das aber bedeutet, dass die Beratungsstelle nach § 7 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes die Bescheinigung darüber, „dass eine Beratung nach den § 5 und 6 stattgefunden hat“, der Schwangeren auch dann ausstellen muss, wenn eine solche Beratung mangels ihrer Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft gar nicht möglich war. Von einer Pflicht der Schwangeren, sich einer Beratung zu unterziehen, kann also keine Rede sein. Vielmehr verpflichtet das Gesetz nur dazu, dass die Schwangere eine anerkannte Konfliktberatungsstelle aufsucht, diese ihr das Angebot einer Beratung macht, das die Frau ablehnen kann, und ihr in jedem Fall ein Beratungsschein erteilt wird, auch wenn das mit ihm Bescheinigte nicht der Wahrheit entspricht. Wir haben folglich in Wirklichkeit keine Fristenregelung mit Beratungspflicht, sondern eine solche mit Beratungsangebot, Scheinberatungs- und Bescheinigungspflicht.

Man sage nicht, in der Praxis seien die Frauen für eine wirkliche Beratung immer aufgeschlossen. Wer wie „pro familia“ von „Zwangsberatung“ spricht oder die Beratung für „eine staatlich verordnete Zwangsinstruktion von Frauen“ hält, wie der in dieser Zeitung kürzlich zitierte Vorsitzende der FIAPAC, Christian Fiala, wird es Frauen nicht schwer machen, sich diesem angeblichen Zwang zu entziehen, das heißt sich auszuschweigen und lediglich den Beratungsschein zu verlangen. Wie hoch der Anteil der Scheinberatungen im doppelten Sinn ist, weiß niemand genau. Aber dass es sie gibt, lässt sich ernsthaft nicht bestreiten.

Die Grundeinstellung zum Lebensschutz bleibt bedeutungslos

3. Ob eine Beratung stattgefunden hat und wie sie im Einzelfall abgelaufen ist, entzieht sich jeder Kontrolle. Es steht deshalb in den Sternen, ob die Beratung tatsächlich, wie im Gesetz behauptet, dem Schutz des ungeborenen Lebens dient. Deshalb hängt viel davon ab, wen der Staat zur Beratung zulässt. Nach dem Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 darf er „nur solchen Einrichtungen die Beratung anvertrauen, die nach ihrer Organisation, nach ihrer Grundeinstellung zum Schutz des ungeborenen Lebens, wie sie in ihren verbindlichen Handlungsmaßstäben und öffentlichen Verlautbarungen zum Ausdruck kommt, sowie durch das bei ihnen tätige Personal die Gewähr dafür bieten, dass die Beratung im Sinne der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben erfolgt.“ Diese grundlegende Anforderung an die staatliche Anerkennung von Beratungsstellen ist offenbar ohne praktische Bedeutung. Dem Gesetz lässt sie sich nicht klar entnehmen. Eine Anfrage der Juristen-Vereinigung Lebensrecht bei den zuständigen Länderbehörden hat ergeben, dass in keinem einzigen Fall die Anerkennung einer Beratungsstelle wegen des Beratungsverständnisses des Trägers oder der beraten den Personen versagt oder widerrufen worden ist. Wer die in den landesrechtlichen Vorschriften meist vorgesehene schriftliche Versicherung abgibt, die Beratung dem Gesetz entsprechend durchzuführen, dem wird offenbar ohne Weiteres geglaubt, dass er die Grundeinstellung für eine dem Schutz des Lebens Ungeborener wirklich dienende Beratung besitzt. Äußerungen von einzelnen Beratungsorganisationen und ihren führenden Vertretern, die einer solchen Grundeinstellung widersprechen, gibt es zuhauf. Zahlreiche Hinweise auf sie haben bisher nie zu Konsequenzen geführt.

Nach dem Gesetz müssen Beratungsstellen, um ein materielles Interesse an der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen auszuschließen, von Einrichtungen zu deren Vornahme organisatorisch und wirtschaftlich getrennt sein. Trotzdem gibt es Ärztinnen und Ärzte, die als Beratungsstellen anerkannt sind und zudem noch Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Es liegt nahe, dass sich solche Ärztinnen und Ärzte die von ihnen beratenen Frauen in Form einer „Gespannbildung“ wechselseitig zur Abtreibung zuweisen. Selbst wenn sie in Praxisgemeinschaft miteinander verbunden sind, hat das für die Anerkennung als Beratungsstelle jedoch offenbar keine Folgen.

Die Beratung wird als Freibrief missbraucht

4. Für Rat Suchende ist Beratung eine unverzichtbare Hilfe. In der gesetzlichen Scheinberatung wird sie jedoch als Freibrief missbraucht. Wie häufig es in ihr gleich wohl gelingt, die Frauen dazu zu bewegen, ihr Kind zur Welt zu bringen, lässt sich schwer abschätzen. Nur in Ausnahmefällen wird der Beratungsstelle bekannt, ob von dem erteilten Beratungsschein Gebrauch gemacht worden ist oder nicht. Angebliche Erfolgszahlen einzelner Beratungsträger erscheinen deshalb wenig plausibel. Die Zahlen der Beratungsfälle bei einzelnen Trägern und für einzelne Jahre sind teilweise zwar bekannt. Wie vielen Frauen, die abgetrieben haben, zuvor bei welchen Beratungsträgern ein Beratungsschein erteilt worden ist, wird jedoch nicht erfasst. Aus 13 Bundesländern liegen jedoch Gesamtzahlen der Konfliktberatungsfälle in den Jahren seit Inkrafttreten der „Beratungsregelung“ vor, allerdings nicht lückenlos. Sie werden nicht überall ermittelt, möglicherweise aber auch von einzelnen Ländern unter Verschluss gehalten. Vergleicht man diese Zahlen mit denen der statistisch ausgewiesenen Schwangerschaftsabbrüche nach dieser Regelung für die jeweiligen Länder, so ergibt sich, dass durchschnittlich in annähernd 70 Prozent der Fälle auf die Konfliktberatung eine Abtreibung gefolgt ist. Diese in einzelnen Ländern unter schiedlich hohe Misserfolgsquote ist in Wirklichkeit noch wesentlich höher, weil die offizielle Statistik die Zahl der Abtreibungen mit Sicherheit nicht annähernd vollständig ausweist. Folglich gelingt es offenbar nur in wenigen Fällen, die Frauen in der Konfliktberatung für das Austragen ihrer Schwangerschaft zu gewinnen. An einer ehrlichen Erfolgsbilanz ist jedoch kaum jemand interessiert. Der Glaube daran, dass die gesetzliche Konfliktberatung dem Schutz des ungeborenen Lebens wirklich dient, soll nicht erschüttert werden.

5. Eine Beratung verfehlt ihren Sinn, wenn nicht alles zur Sprache kommt, was für die Entscheidung der Rat suchenden Person von wesentlicher Bedeutung ist. Im Gesetz heißt es, der Frau müsse in der Beratung bewusst sein, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber „ein eigenes Recht auf Leben hat“. Im Urteil der Verfassungsrichter von 1993 steht zu lesen, dessen müsse sich die beratende Person vergewissern und etwa vorhandene Fehlvorstellungen in für die Ratsuchende verständlicher Weise korrigieren. Das hat der Gesetzgeber nicht übernommen, offenbar weil im pluralen Beratungsangebot auch solche Träger Platz finden sollen, für die das Ungeborene „Schwangerschaftsgewebe“ ist, das lediglich „abgesaugt“ wird, und denen die Vorstellung absurd erscheinen muss, ein solches „Gewebe“ könne ein Recht auf Leben haben.

Dieses Recht hat nur ein Mensch. Jeder wahrheitsgemäß Aufgeklärte weiß, dass „das Ungeborene“ ein Mensch ist. Doch kann das volle Bewusstsein, was Abtreibung bedeutet, nicht allgemein vorausgesetzt werden. Die Gründe hierfür liegen vor allem in einer Verhütungsmentalität, nach der menschliches Leben etwas zu Verhütendes ist und selbst das Töten bereits gezeugten Lebens noch als legitimes Mittel der Verhütung verstanden wird. Der Staat fördert diese Mentalität, insbesondere mit Hilfe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), entgegen seiner Pflicht, „den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusst sein zu erhalten und zu beleben“, an die das Urteil der Verfassungsrichter von 1993 erinnert. Anfragen an zuständige Ministerien, was zur Erfüllung dieser Pflicht konkret geschehen sei, werden regelmäßig mit dem Hinweis auf die Arbeit der BzgA beantwortet. In deren Broschüren ist zum rechtlichen Schutzanspruch Ungeborener nichts zu finden. Wo sonst ist von ihm die Rede? In den Lehrplänen der Schulen?

Im Abtreibungsurteil von 1993 wird mehrfach erwähnt, der Schutzeffekt eines Beratungskonzepts hänge davon ab, ob es gelinge, das Rechtsbewusstsein zu erhalten und zu stärken. Gemeint ist das Bewusstsein, dass ein Schwangerschaftsabbruch, der „immer Tötung ungeborenen Lebens ist“, auch nach gesetzlicher Beratung stets Unrecht bleibt. Das gesetzliche „Beratungskonzept“ vermittelt jedoch dieses Bewusstsein nicht, sondern zerstört es. Es verpflichtet die Beratungsstellen dazu, (auch ohne Beratung) den Beratungsschein zu erteilen und den Frauen so den Weg zur Tötung ihres ungeborenen Kindes zu ebnen. Zudem behandelt es diese Tötung wie Recht und fördert sie sogar, indem der Staat für sie ein Netz von Einrichtungen vorhält und sie nahezu ausnahmslos finanziert. Die Folge ist ein weitgehender Verlust des Unrechtsbewusstseins, wie ihn Umfrageergebnisse belegen.

Dem dargestellten Befund dürfte eigentlich niemand mit Gleichgültigkeit begegnen, der an einem wirklichen Lebensschutz Ungeborener noch interessiert ist. Dennoch schließen die für die Gesetzgebung Verantwortlichen vor ihm beide Augen. Erinnerungen an ihre Beobachtungs- und Korrekturpflicht überhören sie. Daran wird sich so bald nichts ändern, trotz der verheerenden demographischen Folgen der millionenfachen Abtreibungen.

Das ist kein Grund, zu resignieren und ins Lager der Schweigenden überzuwechseln. Der Schutz des menschlichen Lebens ist abhängig vom Bewusstsein, das nur beeinflusst, wer redet. Georg Paul Hefty hat kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen gefordert, die freiheitliche Gesellschaft müsse sich des Themas Gewissensbildung annehmen, angesichts einer extremen Individualisierung des Gewissens. Diese zeigt sich auch im Zusammenhang mit der Tötung Ungeborener, die als Ergebnis einer gewissenhaften Entscheidung verstanden wird. Der Missbrauch des Gewissens ist weit verbreitet, besonders in Fragen des Schutzes von Menschenwürde und Leben.

Bewusstseins- und Gewissensbildung ist auch Aufgabe der Kirchen

Ihren Beitrag zur Bildung des Bewusstseins und des Gewissens zu leisten, ist nicht nur, aber insbesondere eine Aufgabe der Kirchen. Papst Johannes Paul II. hat sie eindrucksvoll wahrgenommen in seiner Enzyklika „Evangelium vitae“ (1995), die Bischöfe der Vereinigten Staaten mit ihrem Hirtenbrief „Das Evangelium des Lebens leben“ (1998). Die deutschen Bischöfe haben sich einzeln wiederholt mit Klarheit zu Wort gemeldet. Eine eingehende Beschreibung und Bewertung der heutigen Situation auf der Grundlage von Erfahrungen mit Gesetz und Praxis der Abtreibung in Deutschland fehlt jedoch bisher. Das letzte gemeinsame Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur ethischen Beurteilung der Abtreibung „Menschenwürde und Menschen rechte von allem Anfang an“ liegt 12 Jahre zurück. Obwohl sie heute weniger Menschen erreichen, bleiben solche Verlautbarungen unverzichtbar. Darüber hinaus gilt es insbesondere im Bereich der Erziehung sowie der Jugend- und Erwachsenen- bildung alle Möglichkeiten zu nutzen, das Evangelium vitae zu verkünden und zu leben sowie die Überzeugung zu vermitteln, dass dies Aufgabe eines jeden Christen ist. Wenn das gelingt, wird es für den Lebensschutz ungeborener Kinder nicht ohne Wirkung bleiben.

Bernward Büchner, Die Tagespost Nr. 135, 8.11.2008

Der Verfasser ist Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht a. D. und Vorsitzender der Juristen Vereinigung Lebensrecht e.V. (Köln).