Adventspredigt über Jeremia 23,5-8
Liebe Gemeinde,
anders als das Kalenderjahr, das mit dem 1. Januar als Neujahrstag beginnt, beginnt das Kirchenjahr mit dem 1. Adventssonntag. Was das Kirchenjahr mit seiner Dramaturgie bedeutet, erleben wir besonders in den Gottesdiensten. Die großen Themen vom Kommen Gottes in Jesus Christus, seinem Leiden, Sterben und Auferstehen und die Ausgießung des Heiligen Geistes bestimmen in den großen Festen die Verkündigung. Die Lieder und Gebete, ja die liturgische Farbe im sog. Antependium (Parament) an Altar und Kanzel bekommen ihre Eigenart ebenfalls vom Gang des Kirchenjahrs.
Heute feiern wir den 1. Adventssonntag und beginnen damit das neue Kirchenjahr. Advent meint zunächst das Kommen Gottes in der Vergangenheit in der Person Jesus Christus. Dafür steht der Bericht über Jesu Einzug in Jerusalem. Der 2. Adventssonntag spricht vom wiederkommenden Herrn am Ende der Zeit; am 3. Adventssonntag steht Johannes der Täufer im Mittelpunkt, der zur Umkehr ruft. Die ganze Adventszeit ist nicht nur Vorbereitungszeit auf die Geburt Jesu. Sie ist auch vom Ruf zur Umkehr bestimmt. Deshalb ist es ganz wichtig, daß wir in dieser Zeit Oasen der Ruhe und Besinnung haben, wo doch die normale Zeit von der Hektik und dem Einkaufsrausch unserer Umwelt geprägt ist.
Unser Predigtabschnitt will uns heute diesen Dienst tun. Wir finden ihn beim Propheten Jeremia in Kap. 23,5-8. „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David ein gerechtes Gewächs erwecken will, und er soll ein König sein, der wohl regieren wird und Recht und Gerechtigkeit auf Erden ausrichten. Zu derselbigen Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, daß man ihn nennen wird: Herr, der unsere Gerechtigkeit ist. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, daß man nicht mehr sagen wird: So wahr der Herr lebt, der die Kinder Israel aus Ägyptenland geführt hat, sondern: So wahr der Herr lebt, der den Samen des Hauses Israel hat herausgeführt und gebracht aus dem Lande der Mitternacht und aus allen Ländern, dahin ich sie verstoßen hatte, daß sie in ihrem Lande wohnen sollen“.
Der Prophet Jeremia erlebte die größte Katastrophe des alttestamentlichen Gottesvolkes selbst mit: Die Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. durch den babylonischen Großkönig Nebukadnezar. Dieser ließ den letzten judäischen König Zedekia blenden und führte ihn nach Babylonien zusammen mit der ganzen judäischen Oberschicht in die Gefangenschaft.
Damit schien es endgültig aus zu sein mit dem Volk Gottes. Die »Hirten« Israels, das heißt die Könige, waren böse geworden; Gott konnte sie nicht mehr gebrauchen. Auf diese notvolle Zeit führen die Juden bis heute ihr Leben in der Zerstreuung zurück. Auch nachdem nach 70 Jahren Juden aus dem babylonischen Exil zurückkehrten und in Jerusalem sogar ein neuer Tempel entstand, lebten viele aus dem Volk Israel in den verschiedensten Ländern rund um das Mittelmeer. Die Anzahl steigerte sich noch, als der römische Feldherr Titus den Tempel und die Stadt Jerusalem 70 n. Chr. zerstörte. Bis zur Staatsgründung Israels 1948 lebten die Juden fast ausschließlich in der Diaspora. Dies ist der griechische Begriff für »Zerstreuung«. Mit dieser Geschichte des Volkes Israel im Hinterkopf müssen wir unseren heutigen Predigtabschnitt lesen.
Was aber bedeutet eine solche Zerstreuung? Die Geschichte der Christenheit erhellt uns manches: Der Apostel Paulus konnte davon sprechen, daß die Christen des ersten Jahrhunderts im Römischen Reich, in Kleinasien, Griechenland, Ägypten, ja sogar in Jerusalem und Israel unter Heiden und Juden in der Diaspora lebten. Die Christen waren in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eine Minderheit unter den Völkern. Nun erleben wir in unseren Tagen mit dem Verblassen des christlichen Abendlandes, wie Christen nicht nur in Asien und Afrika, sondern auch in Europa eine Minderheit darstellen. Als Christen in der Diaspora erlebt die Gemeinde Jesu heute die Bedrängnis durch antichristliche Ideologien oder neu erwachte Regungen im Islam oder Hinduismus: Christenverfolgungen haben das 20. Jahrhundert bestimmt wie kein Jahrhundert vorher. Im 1. Weltkrieg ist im Osmanischen Reich das älteste christliche Volk, die Armenier, dem ersten Völkermord ausgesetzt gewesen. Die Zahl der Menschen, die nach 1917 in Rußland von den Bolschewisten umgebracht wurden, steigerte sich in die Millionen. Bis heute hält diese Verfolgung in Rotchina, Nordkorea und Vietnam an. Christen in islamischen Ländern sehen sich zunehmender Verfolgung ausgesetzt. Der Hamburger Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt konnte schreiben: »Auf jeden Fall ist das 20. Jahrhundert das an Verfolgung blutigste der ganzen bisherigen christlichen Geschichte geworden« (1).
In unserem eigenen Land sieht die Diasporasituation anders aus, doch auch hier machen bestimmte Zahlen nachdenklich: Das vereinte Deutschland nach der Wende besteht aus einer Drittelgesellschaft: Ein gutes Drittel gehört zur Katholischen Kirche, ein knappes Drittel zur evangelischen und ein weiteres Drittel, vor allem in den neuen Bundesländern, ist konfessionslos. Das sind meist »Neuheiden« und Atheisten, die 40 Jahre Kommunismus und davor zwölf Jahre Nationalsozialismus hinter sich haben. Christen leben heute im eigenen Land in der Zerstreuung (in Norddeutschland mehr als in Süddeutschland). Wir sehen dies nicht nur an dem immer schwächer werdenden Gottesdienstbesuch in vielen Großstädten. Der Einfluß der Christen im öffentlichen Leben nimmt ab. Eine Beliebigkeitsethik ist weithin anstelle der klaren Gebote Gottes getreten: Zusammenleben ohne Trauschein, homosexuelle Lebensweise, Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren: Alles scheint möglich unter dem Stichwort der „Toleranz“ und der Beliebigkeit.
Bekennende Christen leben in einer neuen Diasporasituation, in der es allzu oft an klaren Aussagen von »Hirten« mangelt, genauso wie in Israel zur Zeit des Propheten Jeremia. Deshalb leuchten die Verheißungen Gottes aus dem Jeremiabuch auch in unsere Zeit: Der Sproß aus dem Hause Davids ist die herrliche Aussicht Gottes, die sich in Jesus Christus erfüllt hat. Er ist der »Gesalbte«, der Messias und Christus, mit dem Gottes Recht und Gerechtigkeit zu uns Menschen gekommen ist. Als Messias Israels ist er auch der Heiland der Welt, dessen Reich kein Ende haben wird.
Im Neuen Testament spielt ja dieser für uns heute oft nur schwer verständliche Begriff der »Gerechtigkeit Gottes« eine große Rolle: Der Apostel Paulus spricht immer wieder von der »Gerechtigkeit«, die vor Gott gilt« (2). Diese »Gerechtigkeit«, die keine Selbstgerechtigkeit und keine eigene religiöse Leistung darstellt, hat Jesus durch seinen Tod am Kreuz für uns erworben. Wenn wir Jesu Tod und seine Beglaubigung durch Gott in seiner Auferweckung im Glauben für uns persönlich annehmen, sind wir vor Gott »gerecht aus dem Glauben« (3). Das war die Botschaft der Reformation und das ist der zentrale Grund unseres Glaubens als evangelische Christen: Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn (4).
Am heutigen 1. Adventssonntag wird uns deutlich gemacht: So wie dieser Jesus von Nazareth vor fast 2000 Jahren zu den Menschen kam und bei seinem Einzug auch als der »Sohn Davids« begrüßt wurde, so kommt er auch noch heute durch sein Wort und Sakrament zu uns. Die Frage ist, ob wir ihn heute noch aufnehmen können und wollen oder uns doch lieber auf unsere eigene Leistung, Selbstgerechtigkeit und Religiosität verlassen.
Aber nun enthält Vers 8 unseres Abschnitts eine konkrete Verheißung, auf die wir noch eingehen müssen: Den ins babylonische Exil Verschleppten wird eine Rückkehr »aus dem Lande des Nordens« verheißen. Das ist 70 Jahre später nach dem Fall des babylonischen Reiches geschehen. Der Perserkönig Kyros hat die Israeliten in ihr Land zurück ziehen lassen. Sie haben sich wieder in Judäa niedergelassen und in Jerusalem einen zweiten Tempel gebaut. Die diesbezüglichen prophetischen Verheißungen sind von manchen auch auf die Staatsgründung Israels 1948 übertragen worden. In der Tat sind ja Juden »aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte« nach Israel zurückgeführt worden. Dies geschieht bis in unsere Tage. Freilich ist der heutige Staat Israel ein säkularer Staat. Die meisten Juden warten noch auf ihren Messias, gerade auch in den orthodoxen Vierteln von Jerusalem. Nur die kleine Minderheit der »messianischen Juden« sieht in Jesus von Nazareth den Messias und betet ihn an als den Herrn.
Für uns aber gilt die starke Verheißung, daß der Herr bei seiner Gemeinde in der Zerstreuung und in ihrer Minderheitensituation bleiben wird. Sie sollen in ihrem Lande wohnen und ER will bei ihnen sein. ER, der Herr und Heiland Jesus Christus bleibt bei seinem Volk und auch bei den geistlichen »Nachkommen des Hauses Israel« (V. 8). Wir haben das Adventslied von Jochen Klepper »Die Nacht ist vorgedrungen« gesungen. Es ist ein rechter Trostspender, der das Wechselspiel der Adventszeit zwischen Licht und Dunkelheit anspricht: »Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt…« Jochen Klepper hat selbst etwas von dieser Dunkelheit erfahren. Als er am 11. Dezember 1942 mit seiner jüdischen Frau und deren Tochter in Berlin-Nikolassee in den Tod ging, wußte er sich dennoch geborgen im Aufblick zum gekommenen Christus, der verheißen hat, bei den Seinen zu sein.
Damit diese Verheißung auch bei uns wahr wird, brauchen wir ihm nur Raum zu geben in unseren Herzen und Häusern. ER selbst steht zu seinem Wort, wie es uns als Wochenspruch durch diese erste Adventswoche begleitet: »Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer« (5). Amen.
(1) Kurt Dietrich Schmidt, »Tabellen zur Kirchengeschichte«, Göttingen 1963, S. 89
(2) Römer 1, 17
(3) Römer 4, 16; 9,30
(4) EG 350, 1 Leipzig 1638; die weiteren Strophen stammen von Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf
(5) Sacharja 9, 9