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Die Wurzel der Gerechten

Mittwoch 31. Mai 2023 von Aiden Wilson Tozer (1897-1963)


Aiden Wilson Tozer (1897-1963)

Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen dem Glauben unserer Väter, wie sie ihn von ihren Vätern empfangen haben, und demselben Glauben, wie er von ihren Kindern verstanden wird, liegt darin, dass sich die Väter mit der Wurzel der Dinge beschäftigten, während sich ihre Nachkommen von heute anscheinend nur noch mit der Frucht befassen. Das ergibt sich aus unserer Einstellung gegenüber großen Männern und Frauen Gottes, deren Namen in den Gemeinden in Ehren gehalten werden, wie zum Beispiel Augustinus in früherer Zeit oder Luther und Wesley in späterer Zeit.

Heute schreiben wir Biografien über Menschen wie sie und rühmen ihre Frucht. Wir sind dabei jedoch geneigt, die Wurzel, aus der die Frucht entsprang, zu ignorieren. »Die Wurzel der Gerechten wird Frucht bringen«, heißt es in den Sprüchen (12,12; Luther 1984). Unsere Väter betrachteten sorgfältig die Wurzel des Baumes und waren bereit, geduldig auf die kommende Frucht zu warten. Wir verlangen jedoch sofortige Frucht, auch wenn die Wurzel vielleicht schwach und knorrig oder überhaupt noch nicht vorhanden ist. Ungeduldige Christen beseitigen heute den schlichten Glauben der Heiligen anderer Zeiten durch Erklärungen und lächeln über ihre ernste Einstellung zu Gott und den Dingen des Glaubens: Sie waren, so behaupten sie, das Opfer ihrer begrenzten glaubensmäßigen Perspektive, aber dennoch große und standhafte Menschen, denen es gelang, eine befriedigende geistliche Erfahrung zu erlangen und ungeachtet ihrer Begrenzungen viel Gutes in der Welt zu tun. So wollen wir also ihre Frucht nachahmen, ohne ihre Theologie zu akzeptieren oder uns zu große Unannehmlichkeiten für den Fall zu bereiten, dass wir ihre Alles-oder-nichts-Haltung gegenüber dem Glauben annehmen.

So sagen wir (oder – was wahrscheinlicher ist – denken wir, ohne es auszusprechen). Jede Stimme der Weisheit, jede Glaubenserfahrung und jedes Naturgesetz sagt uns freilich, wie unrecht wir haben. Der Zweig, der bei einem Sturm vom Baum abgebrochen wird, mag kurzzeitig blühen und dem gedankenlos Vorbeigehenden den Eindruck vermitteln, dass er ein gesunder und fruchtbarer Zweig sei. Seine zarten Blüten werden jedoch bald verwelken, und der Zweig selbst wird verdorren und absterben. Ist er von der Wurzel getrennt, gibt es kein dauerhaftes Leben.

Vieles von dem, was heute als Christentum angesehen wird, sieht zwar zunächst verheißungsvoll aus, ist aber schon nach kurzer Zeit wieder verschwunden. Es gleicht dem Versuch des abgetrennten Zweiges, in der ihm noch verbliebenen Zeit Frucht zu bringen.

Aber die tief im Verborgenen wirkenden Gesetze des Lebens stehen dem entgegen. Die Beschäftigung mit dem Sichtbaren und die damit einhergehende Vernachlässigung der nicht sichtbaren Wurzel des wahren geistlichen Lebens sind prophetische Zeichen, die unbeachtet bleiben. Was heute zählt, sind sofortige »Ergebnisse«, schnelle Beweise momentanen Erfolgs ohne einen Gedanken an die nächste Woche oder das nächste Jahr. Der religiöse Pragmatismus nimmt bei denen, die an allgemein akzeptierten Glaubenslehren festhalten, überhand. Wahrheit ist das, was »funktioniert«. Wenn sie Ergebnisse mit sich bringt, ist sie gut. Es gibt überhaupt nur einen Prüfstein für den religiösen Führer: Erfolg. Alles wird ihm verziehen, nur Versagen nicht.

Ein Baum kann praktisch jedem Sturm widerstehen, wenn seine Wurzel stark ist. Aber der Feigenbaum, den der Herr Jesus verfluchte, sodass er »von den Wurzeln an verdorrt war« (Mk 11,20; Schlachter 2000), verdorrte sogleich. Eine Gemeinde, die fest gegründet ist, kann nicht zugrunde gerichtet werden, aber nichts kann eine Gemeinde retten, deren Wurzel verdorrt ist. Keine aufsehenerregenden Maßnahmen, keine groß angekündigten Veranstaltungen, keine finanziellen Zuwendungen und kein prachtvolles Gebäude können einer solchen Gemeinde, einem derartigen wurzellosen Baum, das Leben zurückgeben.

Mit einer unbekümmerten Nichtbeachtung der inneren Harmonie der verwendeten Bilder ermahnt uns der Apostel Paulus, auf unsere Quellen zu schauen. »In Liebe gewurzelt und gegründet« (Eph 3,17), sagt er in einem Zusammenhang, in dem offensichtlich zwei unterschiedliche Bilder nebeneinander gebraucht werden. Und wiederum fordert er seine Leser dazu auf, »in ihm«, d.h. in Christus, »verwurzelt und gegründet« (Kol 2,7; Luther 1984) zu sein. Damit sieht er den Christen sowohl als Baum mit gesunden Wurzeln wie auch als Tempel mit einem soliden Fundament.

Sowohl die gesamte Bibel als auch alle großen Heiligen der Vergangenheit vermitteln uns ebendiese Tatsache. »Nehmt nichts als selbstverständlich«, sagen sie uns. »Geht zurück zu den Wurzeln. Öffnet euer Herz und erforscht die Heilige Schrift. Tragt euer Kreuz, folgt eurem Herrn und schenkt den zeitbedingten religiösen Strömungen keinerlei Beachtung. Die Masse hat immer unrecht. In jeder Generation ist die Anzahl der Gerechten klein. Seht zu, dass ihr dazugehört.«

»Ein Mensch wird nicht bestehen durch Gottlosigkeit, aber die Wurzel der Gerechten wird nicht erschüttert werden« (Spr 12,3).

Quelle: Tozer, A. W.: Die Wurzel der Gerechten. 1. Auflage, bearbeitete Neuauflage des früher im Verlag der Liebenzeller Mission erschienenen Titels. Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung e.V. 2022.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 31. Mai 2023 um 9:23 und abgelegt unter Gemeinde, Kirche, Seelsorge / Lebenshilfe.