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Ich aber sehe lauter Wunder

Rudolf Bultmann (1884–1976) war Professor für Neues Testament in Marburg. Er beherrschte das Griechische (im Neuen Testament) ganz souverän. Viele haben bei ihm studiert. 1941 hielt er einen Vortrag zu dem Thema: «Neues Testament und Mythologie», in dem er radikale Kritik an den in der Bibel berichteten Wundern übte. Damit wurde er weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt. Klipp und klar sagte er: Die Wunder des Neuen Testaments sind nicht geschehen. Sie sind aber auch nicht bedeutungslos. Sie sind Mythen, die eine Bedeutung für unser Leben haben. Wenn man sie «entmythologisiert und existenzial interpretiert», also auf unsere Existenz anwendet, geben sie unserem irdischen Leben einen Sinn. So kann man sie dann auch predigen.

Obgleich ich in Jena ein Seminar bei Prof. Gerhard Gloege über Bultmann besucht habe, konnte ich mich nicht dafür erwärmen, weil ich keinen Mythos predigen wollte, der sich nur auf das irdische Leben bezieht. Ich habe gedacht, die Sache mit dieser «Theologie» läuft sich sowieso tot. Aber weit gefehlt! Zunehmend wandten sich immer mehr Theologen dieser Lehre zu. Heute ist fast jede Kirchenleitung der EKD von Bultmann geprägt oder gar bestimmt. Deshalb hören wir von Kirchenleitern vor allem innerweltliche oder politische Ratschläge.

Bis zum Überdruss werden «existenziale» Predigten gehalten, die sich nur auf dieses irdische Leben beziehen. Das aber kann man ebenso gut in der Zeitung lesen. Dazu braucht man die Kirche nicht. Pastor Friedrich von Bodelschwingh hatte seinerzeit ausgerufen: «Bethels Ziele gehen in die Ewigkeit!» Der Verlust dieser ewig gültigen Botschaft ist der eigentliche Grund für den Auszug der Massen aus den Landeskirchen.

Zwei gravierende Fehler

In der ganz entscheidenden Frage machte Professor Bultmann zwei gravierende Fehler. So sagte er: «Die Wunder des Neuen Testaments sind nicht geschehen.» Das ist eine sehr eigenwillige Behauptung. Denn die Auferstehung Jesu haben alle Apostel erlebt und fast alle haben sie mit ihrem Märtyrertod besiegelt. Würde ein normaler Mensch sich für eine Botschaft töten lassen, von der er nicht ganz sicher ist, dass sie stimmt? Wären die Apostel nach Rom gegangen oder nach Indien oder weiter in die Welt, um die Auferstehung Jesu und das Reich Gottes zu verkündigen, wenn sie nicht absolut sicher gewesen wären, dass Jesus auferstanden ist? Kann man die Jünger Jesu für so dumm halten?

Noch dümmer ist die Behauptung, die Wunder des Neuen Testaments könnten nicht geschehen sein, weil alles auf der Erde von Naturgesetzen bestimmt ist. Bultmann sagte wörtlich: «Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.» Ich frage: Wieso? Hat etwa Karl Barth, der starke Ausleger des Wortes Gottes, Radio und medizinische Geräte abgelehnt? Und hat nicht Dietrich Bonhoeffer, als er im KZ Flossenbürg zum Galgen gehen musste, gesagt: «Dies ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens»? Er meinte den Beginn des Lebens bei Gott.

Bultmann hat sich, wie viele heutige Menschen, nicht klargemacht, dass wir längst nicht alles wissen. Ich trete vor die Haustür und schaue nach oben. Ich sehe den Sirius und den Polarstern, die Milchstrasse und den Andromeda-Nebel und ganze Sternenwolken. Plötzlich merke ich: Wir sind hier nur ein winziger Teil des riesigen Weltalls. So wenig wie man den Atlantik mit einem Zollstock ausmessen kann, so unmöglich ist es, das Weltall mit unserem geringen Wissen zu ermessen. Wer das Universum geschaffen hat, wer es so wunderbar ordnet, wozu wir Menschen geschaffen sind: Wir wissen es nicht – es sei denn, wir nehmen ernst, dass der Schöpfer sich uns geoffenbart hat und für uns hat aufschreiben lassen, was wir wissen sollen, damit wir geordnet leben und am Ende unseres Lebens bei Ihm ankommen.

«Ich sehe lauter Wunder»

Gläubige Juden und gläubige Christen erleben es: Die Bibel ist wirklich der Kompass zu einem Leben mit Gott und bei Gott. Und da masst sich nun ein sterblicher Mensch an, zu behaupten, die Wunder der Bibel seien nur «für unser irdisches Leben hilfreiche Mythen»! Und «Theologen», sogar Bischöfe, machen es ihm nach. Wie sie damit vor Gott einmal bestehen wollen, müssen sie selbst entscheiden. Ja, aus anderem Blickwinkel betrachtet, war Professor Bultmann auch einer der Dümmsten. Gewiss, ich weiss auch nicht, wo Himmel und Hölle sind. Aber das weiss ich, dass Gott Wunder getan hat und jederzeit tun kann. Denn Er ist der Schöpfer des Universums und hat uns zu seinem Ebenbild, also zu Ihm hin, geschaffen. Das ist die wichtigste und höchste Berufung für jeden Menschen.

Die Botschaft Jesu lautet: «Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt» (Joh. 11,25 f.). Bultmanns Lehre macht den Menschen klein, macht ihn zu einem rein irdischen Geschöpf, nimmt ihm seine Berufung und Würde als Ebenbild Gottes (1. Mose 1,27). Bultmann sagt: Wunder gibt es nicht. Ich aber sehe lauter Wunder um mich herum. Und durch sein Wort macht Gott das zusätzlich klar. Im Römerbrief 1,20 schreibt der Apostel Paulus: «Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie vernunftgemäss wahrnimmt, sodass sie keine Entschuldigung haben.»(1)

Wir sollen unsere uns vom Schöpfer mitgegebene Vernunft nutzen, die uns umgebende Schöpfung anschauen und nachdenken. So können wir an den Werken des Schöpfers Wunder sehen und dahinter sein «unsichtbares Wesen» und seine «ewige Kraft und Gottheit» erkennen. In der Theologie wird das auch Gottes «Uroffenbarung» genannt. Paulus schreibt: Wer nicht über sich und seinen Schöpfer nachdenkt, kann später nicht die Entschuldigung vorbringen, er habe von Gott nichts gewusst. Gott redet zu uns Menschen in der Natur, in seinem Wort, in der Geschichte und in unserem Gewissen. Insgeheim weiss der Mensch um die Existenz Gottes, auch wenn er sich nicht wirklich dafür öffnet. Wer das bezweifelt, sollte nur mal in einem Flugzeug sitzen, das in Turbulenzen gerät: Da beten (fast) alle!

Bultmanns Theologie führt den Menschen weg von seiner Verantwortung vor Gott und macht ihn taub für Gottes Reden. Wenn ein Geschöpf seinem Schöpfer die kalte Schulter zeigt, hat es für seinen Atheismus keine Entschuldigung, schreibt Paulus. Gottes Wort und unser Gewissen erinnern still und immer neu: Wir müssen unserem Schöpfer einmal über unser Leben Rechenschaft geben.

Christlich oder nicht?

Als ich in der DDR an der Universität Rostock studierte, waren auch für uns Theologiestudenten Vorlesungen über den «Dialektischen Materialismus» verpflichtend. Und wir hörten, dass wir uns im Kommunismus «den Himmel auf Erden» bauen würden und dass die Kirche dann «ganz von selbst» sterben würde. Damals ermutigte mich das Wort Jesu: «Die Pforten der Hölle sollen meine Gemeinde nicht überwältigen» (Matth. 16,18). So blieb ich dran und beendete mein Studium zuversichtlich und froh. Aber die den Himmel bauen wollten – wo sind sie heute? Es wird uns sogar berichtet, dass dort, wo Verfolgung wütet, das Wunder geschieht: Die Gemeinde Jesu wächst! Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer steht mir vor Augen: Wenn ein Professor der Theologie seinen Studenten eine Botschaft nur für dieses irdische Leben weitergibt und das Evangelium vom ewigen Leben verschweigt, macht er Irrlehrer aus ihnen. Eine Kirche, die das erträgt, hat keine Botschaft für die tiefsten Probleme der Menschen, für das bohrende Gewissen, für die Angst vor dem Tod, für die Verantwortung vor Gott.

Ich jedenfalls wollte nicht Pastor gewesen sein ohne die vergebende und versöhnende Botschaft des gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus über die Lebenden und Toten. Eine Kirche, der diese Botschaft abhandenkommt, ist tot. Deren Leuchte stösst Gott um. Jesu Machtwort aber lautet: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, wird nimmermehr sterben.»

Dr. Markus Spieker schreibt in «Diagnose Leben» (CV Dillenburg): «Mit seinem 1. Korintherbrief (Kap.15) packt Paulus die kleingläubigen Korinther an den Schultern, schüttelt sie kräftig durch und bläut ihnen ein: ‹Wenn Christus nicht von den Toten auferweckt wurde, ist euer Glaube nichts als Selbstbetrug, und ihr seid von eurer Schuld nicht frei. Ebenso wären auch alle verloren, die im Glauben an Christus gestorben sind. Wenn der Glaube an Christus uns nur für dieses Leben Hoffnung gibt, sind wir die bedauernswertesten unter allen Menschen.› Wenige Jahre später wird Paulus für diese Überzeugung seinen Kopf auf einen Henkerblock legen … Seitdem entscheidet sich an der Auferstehungsfrage der Glaube. Wenn Jesus nicht auferstanden ist, dann ist er nicht der von Gott verheissene Messias gewesen. Man kann es nicht unmissverständlich genug formulieren: Ein Glaube, der sich nicht auf Jesus als Auferstandenen gründet, ist nicht christlich.»

Deshalb gehört weder ein Professor noch ein Bischof, weder ein Propst oder ein Synodalpräsident noch ein Pastor auf einen christlichen Amtssessel, wenn sie nicht an die leibliche Auferstehung Jesu glauben. Wer die Auferstehung Jesu zu verkündigen hat, aber nicht an seine ihm aufgetragene Botschaft glaubt, den nennt Paulus einen der elendesten Menschen. Doch nun klingt es wie ein hoher, heller Siegesruf, wenn Paulus zusammenfasst: «Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten, als Erstling unter denen, die entschlafen sind.» Das zu bezeugen, dafür gab Paulus sein Leben.

Und da leuchtet auch der Artikel 28 aus dem Augsburger Bekenntnis auf: «Wenn das geistliche Regiment etwas gegen das Evangelium lehrt oder tut, haben wir den Befehl, dass wir ihm nicht gehorchen.» Für den Fall hat Luther 1523 seine Schrift verfasst: «Dass eine Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen …», also auch Absolventen Freier Theologischer Hochschulen. Alles entscheidet sich an der Feststellung: «Ein Glaube, der sich nicht auf Jesus als Auferstandenen gründet, ist nicht christlich.»

Wir brauchen stabile, bibelorientierte Gemeinden und ebensolche Leiter, denn Gott hat die Gemeinde zum Pfeiler und zur Grundfeste der Wahrheit bestimmt (1. Tim. 3,15). Die Gemeinde Jesu erfindet nicht die Wahrheit, sondern findet sie bei den Propheten und Aposteln der Bibel. Nur weil die Bibel sich über alle Jahrhunderte hinweg als wahr erweist, gibt sie den gläubigen Juden und Christen, auch suchenden Menschen, ein sinnvolles Leben und ein getrostes Sterben. So kann eine «christliche Versammlung oder Gemeinde alle Lehre beurteilen und Lehrer berufen und abberufen», wie Luther es in seiner Schrift von 1523 aufzeigte. Wir brauchen bibellesende Christen. Wir brauchen lebendige Gemeinden und singen froh in einem Lied: «Herr, wir stehen Hand in Hand, die dein Hand und Ruf verband; … In die Wirrnis dieser Zeit fahre, Strahl der Ewigkeit; zeig den Kämpfern Platz und Pfad und das Ziel der Gottesstadt.»

Pastor Uwe Holmer

(1) Siehe Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch 1952, 4. Aufl. Seite 980 noeo. Er übersetzt es mit eigenen Worten: «Das Unsichtbare (…) wird mit dem Auge der Vernunft geschaut». Im griechischen «nooumena kathoratai» steckt «nous» (Vernunft). Deshalb also: «vernunftgemäss».