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Die Kirchturmuhr – Wie ein Pastor in der DDR seine Botschaft an höchster Stelle verkündigte

Unser Vater Herwarth Lappe war evangelischer Pastor in Arzberg, einem Ort nahe Torgau an der Elbe. Vor und auch während des Krieges war er Mitglied in Dietrich Bonhoeffers „Bekennender Kirche“, der er schon Anfang der 30er Jahre beitrat. So erklärt sich auch sein Engagement in der Zeit nach dem Krieg, als Pastor in der DDR. In Arzberg, wo er bis 1960 eine Kirchgemeinde versorgte, hatte er, zumal es in der DDR an Pastoren mangelte, neun weitere, zum Teil weit auseinander liegende Gemeinden zu betreuen. Diese besuchte er im Dienst mit seinem alten DKW-Motorrad. Ich erinnere mich noch an so manche von ihm ausgeführte Reparatur und daß ich immer zuschaute und ihm gelegentlich half.

Zur Zeit, als unsere Familie in Arzberg wohnte, war Deutschland in Ost und West geteilt. Wir lebten in der von den Russen kontrollierten Ost-Zone. Doch die Grenze war noch nicht so undurchlässig, wie sie es ab 1961 nach dem Bau der Berliner Mauer wurde. Die Verwaltung der Evangelischen Kirche war damals für ganz Deutschland noch einheitlich. Otto Dibelius war, mit Sitz in Berlin, Bischof für die Evangelische Gesamtkirche. Als im Jahr 1961 die DDR-Behörden Bischof Dibelius die Einreise in den Osten verweigerten, übertrug die Kirchenleitung Präses Kurt Scharf die bischöflichen Befugnisse für die Kirche in der DDR. Doch wurde auch er umgehend nach West-Berlin ausgewiesen. Dies verdeutlicht, wie das kommunistische Regime der DDR  nach dem Bau der Mauer die Kirche noch stärker unterdrückte und einschränkte.

Da unser Vater in technischer Hinsicht viel Talent besaß, konnte er, was ja in Ostdeutschland immer von Vorteil war, alles mögliche reparieren oder anderweitig ersetzen. Zu jener Zeit bestanden Verbindungen zur Kirche in Westdeutschland, und es existierten Beziehungen, Patenschaften genannt, zwischen Kirchgemeinden in der DDR und der Bundesrepublik. Die Unterstützung aus dem Westen half den Kirchgemeinden im Osten sehr. Das wurde in jenen Jahren zwar von den Kommunisten nicht gern gesehen, sondern kontrolliert und überwacht, jedoch noch nicht völlig unterbunden. Es war sogar möglich, daß die Kirchgemeinde Arzberg Baumaterial aus dem Westen erhielt. Vater kam auf diese Weise auch an Dinge, die in der DDR nur schwer aufzutreiben waren, unter anderem Kupferblech, welches er für das Restaurieren des Wetterhahns auf der Turmspitze der Arzberger Kirche benötigte. Bei diesem Restaurierungsunternehmen bin ich einmal, als ein Gerüst bis zur Kirchturmspitze angebracht war, ohne daß jemand davon wußte, bis zum neuen Hahn hinaufgeklettert. Nachbarn machten unsere Mutter darauf aufmerksam. Sie fiel fast in Ohnmacht, als sie mich dort oben sah …

Die Restaurierung des Wetterhahns war jedoch nicht das einzige Unternehmen, das unser Vater ohne viel zu fragen an der Arzberger Kirche durchführte. Eine andere Aktion versetzte später den ganzen Ort in Aufregung. Vater hatte in einem Kirchenarchiv gelesen, wie ein Pastor die Turmuhr seiner Kirche radikal veränderte. Er renovierte die Zifferblätter, weil die Zahlen kaum noch zu lesen waren.

Allerdings hatte er bei dieser Gelegenheit anstelle der Zahlen Worte bzw. Sprüche auf die Zifferblätter malen lassen. Die Wirkung bestand darin, daß man zwar die Zeit erkennen konnte, doch wer zur Uhr sah, mußte gleichzeitig die Sprüche lesen. Das gefiel meinem Vater, und er nutzte diese Idee für die Zifferblätter seines Kirchturms.

Die Arzberger Kirche ist eine große, im gotischen Stil gehaltene Kirche. Sie wurde in den Jahren 1904/1905 erbaut. Für den relativ kleinen Ort ist sie eigentlich etwas groß ausgefallen. Sie wurde auf einem Hügel errichtet, wodurch der hohe Turm weithin sichtbar ist. So war diese über die Zifferblätter vermittelte Botschaft ebenfalls weithin zu sehen. Dies war jedoch in einem kommunistischen Staat wie der DDR für meinen Vater ein gefährliches Unterfangen: der Inhalt der Botschaft stellte den Wert und die Alleingültigkeit der kommunistischen Ideologie in Frage.

Nun war es an und für sich erforderlich, daß unser Vater bei Staat und Kirche hätte anfragen bzw. um Genehmigung nachsuchen müssen. Das tat er jedoch nicht, weil er eine positive Entscheidung von den SED-Behörden und auch von der Kirchenverwaltung nicht erwartete. Er baute auf sein Gottvertrauen und unternahm ohne viel zu fragen, was er seinem Gewissen gegenüber für richtig hielt. Die mannshohen Zifferblätter wurden vom Turm abgebaut, und eins nach dem anderen wurde im Kirchenvorraum restauriert. Bei dreien ersetzte Vater die Zahlen durch Worte, beim vierten erneuerte er nur die Zahlen. Auf dem ersten Zifferblatt stand: JESUS CHRISTUS, auf dem zweiten HERR DER WELT, auf dem dritten DIR MEIN LEBEN und auf dem vierten die Zahlen.

Eigenartigerweise hatten sich die kommunistischen Kontroll-Organe, der Bürgermeister, die Polizei und die Staatssicherheit, bis zu dem Zeitpunkt, als die restaurierten Zifferblätter wieder installiert werden sollten, ruhig verhalten. Niemand hatte ihnen das Vorhaben des „Klassenfeindes von der Kirche“ verraten. Vater hatte eine Art Flaschenzug aus Seilrollen gebaut. Mit dem haben wir die Zifferblätter an der Außenseite des Turmes einzeln hochgezogen. Alles lief bestens, ich habe die Zifferblätter unten am Flaschenzug festgemacht, mein Vater hat sie dann oben auf der Etage des Uhrwerks im Turm nach innen geholt und das Seil wieder heruntergelassen. Als nur noch ein Zifferblatt unten, an die Turmwand gelehnt, auf „Transport“ wartete, hörte ich meinen Vater oben aus dem Turm laut rufen: „Christian, häng an! Christian, häng an!“ Ich wußte nicht, warum er es auf einmal so eilig hatte, beeilte mich aber, das letzte Zifferblatt anzuhängen. Als ich mich umdrehte, sah ich, warum mein Vater so drängte. Drei Männer kamen den Kirchberg heraufgerannt. Es waren Bürgermeister Weiß, den jeder kannte, Ortspolizist Noack, der immer leicht zu erreichen war, weil er ja im Polizeihaus wohnte, und ein mir unbekannter Mann von der Staatssicherheit. Sie riefen: „Aufhören, sofort aufhören, das ist verboten!“ Mein Vater störte sich nicht an ihrem Geschrei und zog das letzte Zifferblatt an der äußeren Turmwand hoch. Als die Männer mich nun fast erreicht hatten, rannte ich in den Kirchturm und die Treppen hinauf. Dort bemerkte ich, daß Vater die Leiter, die zur Uhrwerk-Etage führte, hochgezogen hatte. Somit war den drei SED-Bevollmächtigten und auch mir der Zugang nach oben verwehrt. Wir konnten Vater und die Zifferblätter zwar sehen, aber ohne Leiter nicht erreichen. Demzufolge kam es nicht zu Handgreiflichkeiten oder gar zur Beschlagnahme der Zifferblätter, sondern nur zu einem lauten Disput.

Die SED-Genossen riefen hinauf zu meinem Vater: „Wir wohnen in einem sozialistischen Ort, und wir wollen die Zeit am Kirchturm sehen und nicht Ihre christlichen Sprüche!“ Vater erwiderte darauf: „Wir Christen müssen jeden Tag die gegen die Kirche gerichteten Angriffe der SED im ‚Neuen Deutschland‘ lesen! Diese Sprüche drücken nur das aus, was unseren Glauben ausmacht!“ So ging es noch eine Weile hin und her, bis die Genossen genug hatten von ihrem sturen Pastor. Und nachdem sie noch mit weiteren Maßnahmen drohten, wenn die Zifferblätter nicht sofort entfernt und auf Zahlen umgestellt würden, verließen sie den Kirchturm. Vater jedoch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, wir arbeiteten weiter, bis es dunkel wurde; haben dann nur die Kirchturmtür etwas sorgsamer als sonst abgeschlossen und sind nach Hause gegangen.

Am folgenden Tag war es Ortsgespräch, denn jeder schaute irgendwann mal zur Kirchturmuhr hinauf und las zwangsläufig, was dort nun anstelle der Ziffern geschrieben stand. Ob sie Kirchenbesucher waren oder Parteigenossen – lesen konnten sie ja alle. In unserer Familie war die Lage sehr angespannt, wußten wir doch nicht, wie die kommunistische Ortsbehörde nach dieser Konfrontation am Kirchturm reagieren würde. Aber es geschah nichts am folgenden Tag, wie auch in der nächsten Woche. Vater erhielt eine Vorladung, mußte beim Superintendenten in der Kreisstadt Torgau erscheinen. Dort wurde er aufgefordert, die Zifferblätter wieder in den Originalzustand zu bringen – was er jedoch einfach nicht tat. Auch von den Ortsbehörden wurde er aufgefordert, die Zifferblätter in den alten Zustand zurückzuversetzen, doch diese Aufforderung ignorierte Vater ebenfalls. Unsere Familie war in banger Erwartung dessen, was nun geschehen würde. Aber nichts von dem geschah, was wir befürchteten. Vater erzählte später, er habe vertraulich von einem SED-Mann erfahren, daß die Genossen zwar in der Parteiversammlung absprachen, per Eingriff und Beschlagnahme die Angelegenheit zu erledigen. Einige jedoch befürworteten, die Kirche (den Pastor) in Ruhe zu lassen. Die Genossen fürchteten wohl abergläubisch, wenn sie sich an der Kirche vergreifen würden, könnten sie sich einen Fluch auf den Hals holen. Eventuell könnte der Blitz sie treffen, falls es den lieben Gott doch gäbe. Auch Tierarzt Dr. Gerhard Schröder, ein geehrter und von allen Bauern geschätzter Mann in diesem Ort auf dem Lande, sagte zu der Sache: „Laßt den Pastor in Ruhe, es ist seine Kirche, da kann er dranschreiben, was er will…“

Die Lage beruhigte sich. Vater hatte bei der Superintendentur in Torgau erreicht, daß man, wenn die Ortsbehörde die Zifferblätter nicht beanstandete, auch seitens der Kirche den Fall für erledigt hielt. Die Zifferblätter blieben also am Turm, und für viele Jahre war nun dieser öffentliche Zweifel an der Allmacht des Kommunismus weithin im Umkreis zu sehen. Bis dann ca. 1985 die Kirche restauriert und alles wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt wurde.


Pastor Herwarth Lappe mit seinen unorthodoxen Zifferblättern

Im Mai 1970 wurde Herwarth Lappe, inzwischen Pfarrer von Beucha bei Leipzig, mit 57 Jahren des Amtes enthoben. Er hatte weder Kirche noch Staat gehorcht. 1974 erhielten er und seine Frau den Ausweisungsbescheid vom Rat der Stadt Wurzen, danach hätten sie innerhalb von 48 Stunden die DDR verlassen müssen. Doch sie hatten noch zwei minderjährige Kinder in der DDR. Ein Freund in der schwedischen Kirche erreichte, daß sie vorerst bleiben durften.

Von den sechs Kindern der Familie wurden fünf freigekauft, vier nach politischer Haft: Christian Martin Lappe nach viermaliger Verhaftung und Inhaftierung – 1961 mit 18 Jahren wegen Fluchtgefahr, 1965 bei einer Demonstration von Jugendlichen in Leipzig, 1968 wegen eines von ihm verfaßten Briefes mit Fluchtgedanken, 1970 wegen Fluchtversuchs von Ungarn nach Jugoslawien; Ende 1971 nach der Haft in die Bundesrepublik entlassen. Maria Lappe – verhaftet 1970 mit 19 Jahren wegen Fluchtversuchs, versteckt zwischen Rücksitz und Motor eines Pkw; 1971 aus der Haft in die Bundesrepublik entlassen. Viktor Lappe – verhaftet 1970 mit 18 Jahren wegen Fluchtversuchs über die grüne Grenze; 1971 nach der Haft in die Bundesrepublik entlassen, 1980 nahm er sich das Leben, wie er es schon einmal im Zuchthaus versucht hatte. Andreas Lappe – 1973 verhaftet; 1977 nach vierjähriger Haft mit 21 Jahren in die Bundesrepublik ausgewiesen. Friedeburg Lappe – 1975 in die Bundesrepublik ausgewiesen. Monika Lappe blieb in der DDR.

Von Christian Martin Lappe

Quelle: Der Stacheldraht – Zeitschrift für Freiheit, Recht und Demokratie Nr. 4 / 2014