Gelitten! (Hebr. 2,17.18)
Samstag 18. März 2023 von Prädikant Thomas Karker
Als Albrecht Dürer, der Nürnberger Maler, gefragt wurde, was eigentlich der Wert der Malerei sei, gab er zur Antwort: „Das ist ihr Wert, dass sie die Züge eines Menschen, auch noch nach seinem Tode, festhält und dass sie die Passion Jesu Christi darstellen kann.“ Albrecht Dürer hat die Passion Jesu in vielfacher Weise zur Darstellung gebracht. Es ist verwunderlich, dass das Glaubensbekenntnis, das wir vorhin gerade gesprochen haben, nur den Anfang und das Ende des Lebens Jesu markiert: – geboren – gekreuzigt und gestorben – und dann nur dieses eine noch aussagt: gelitten.
Warum übergeht es all das, wovon die Evangelien so ausführlich berichten? Warum nimmt das Bekenntnis nur die Passionsgeschichte auf? Warum diese eigenartige Reduktion? Weil diese Reduktion in Wirklichkeit eine Konzentration ist. Der ganze Weg Jesu zwischen seiner Geburt und seinem Tod am Kreuz – nicht nur das Kreuz – ist Leidensweg, ist Passionsgeschichte.
Der Heidelberger Katechismus hat recht, wenn er auf die Frage: „Was verstehst du durch das Wörtlein ,gelitten‘?” die Antwort gibt: „Dass er an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens auf Erden, besonders aber am Ende desselben, den Zorn Gottes wider die Sünde des ganzen menschlichen Geschlechts getragen hat . . .“ Das Bekenntnis verschweigt also nicht die Lebensgeschichte Jesu, sondern es charakterisiert eben diese Geschichte in ihrer Ganzheit als Leidensgeschichte.
Johann Arndt schreibt in seinem ‚Wahren Christentum‘ (13. Kap.): „Das ganze Leben unseres Heilandes, vom Mutterleibe an bis in seinen Tod, ist nichts anderes, denn ein stetes Kreuz, welches . . . nimmer in diesem Leben von ihm gewichen ist: große Armut, das andere, noch größere Verachtung, das dritte die aller größten Schmerzen und Pein. Das hat mit seinem Leben angefangen und mit seinem Tode geendet.“
Lesen Hebr. 2,17.18
- Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hohepriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes.
- Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.
Lasst mich darum heute von dem Leiden des Herrn Jesus reden:
- Jesu Leiden an uns
- Jesu Leiden durch uns
- Jesu Leiden mit uns
- Jesu Leiden für uns
1. Jesu Leiden an uns.
Von dem Tage an, da Gottes eingeborener Sohn Menschengestalt annahm, war er leidensfähig; denn Gott kann eigentlich nicht leiden. Gott kann Schmerz empfinden, wenn ein Mensch sich von seinem Schöpfer lossagt. Gott kann trauern, wenn die Menschheit sich von ihm abwendet und sich löchrige Brunnen macht, die kein Wasser geben. (Jer.2,13) Gott kann betrübt sein, wenn er den ganzen Tag nach dem Menschen Ausschau hält, und der Mensch hat sich nicht zu seinem Gott gewandt. Darüber kann Gott trauern, aber leiden, Schmerz leiden, kann er nicht. Erst durch den Sündenfall kommt Tod und Leid in die Welt. Gott ist Liebe und in ihm ist keine Finsternis und somit kann Gott auch nicht leiden.
„Was hier „gelitten“ heißt, bestimmt sich nicht von unseren Analogien, sondern ausschließlich von ihm selbst, von seiner Person, … Das ist das Besondere, Analogielose, das Geheimnis dieses Leidens, dass es das Leiden des Menschen ist, in dem die Liebe des Schöpfers, … sich einen Weg bahnt durch den Verderb der Schöpfung, um sie heil zu machen. Es ist so sehr sein Leiden, dass Jesus in den Evangelien das Verbum „leiden“ (padeiu) ausschließlich für sein eigenes Leiden gebraucht,…“ (W. Krusche: Gelitten unter Pontius Pilatus. In H. Lamparter (Hrsg), Das Wahrzeichen des Christenglaubens, 1965, S. 103f)
Wir haben also nur eine Leidensgeschichte und ein Kreuz, es ist die Geschichte ohne Gleichen (O. Riethmüller)
Sobald Jesus die Gestalt des sündigen Fleisches angenommen hat, trat er in den Bereich des menschlichen Lebens ein. Von der ersten Kinderträne an, bis zu seinem blutigen Schweiß in Gethsemane und den viel tausend Tränen, als er den Kelch trinken musste. Eine Kette des Leidens und der Schmerzen. Er kannte die Sünde ja nicht. Die Zartheit und Feinheit, mit der unser Herr gestaltet war, die Feinheit, diese Empfindlichkeit gegen alles Unreine und Unschöne und Ungute, ließen ihn in die schwersten Tiefen des Leidens und des Schmerzes hinabsteigen. So hat er die Sünde erlebt und so hat er, als Mensch, gelitten.
- Er hat die Not durchlitten, dass er in der Fremde war – „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf!“ Seine eigenen Leute wollten ihn nicht. Er rief die Mühseligen und Beladenen zu sich – und sie mochten ihn nicht; er nahm das Kreuz auf sich – und niemand hat es beachtet.
Er hat das Leid erfahren, wie Lukas 9 sagt: „Die Füchse, haben ihre Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben ihre Nester, … , aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.“ (Luk. 9,58) Und wenn ihm einmal eine Rast gegönnt war, so war es in der Fremde, fern von der Heimat. Jesus, unser Herr, hat die ganze Furchtbarkeit der Fremde durchlitten. Während wir doch jeden Tag etwas haben, auf das wir uns freuen können, hat der Heiland nichts anderes, als Fremdlingsnot und Heimatlosigkeit getragen.
- Angekettet an die Knechtsgestalt der sündigen Menschheit sieht Jesus sich dem Ungetüm der Selbstsucht und der Sünde preisgegeben. Mit jedem neuen Tage kam die Sünde an ihn heran, lockend und drohend, einladend und fordernd. Und jeden Tag war er unter einem Volke, das ihn nicht verstand.
- Wie arm muss Jesus gewesen sein, dass er die seine Freunde nannte, die ihn nicht verstanden!
- Wie dürftig muss Jesu Leben gewesen sein! Der Herr bittet die, für die er sein Leben wagt, sie möchten eine einzige Stunde mit ihm beten – und ihre, Augen waren voll Schlaf.
- Wie arm muss Jesus gewesen sein, dass er zu diesen Jüngern sagen konnte: „Ihr seid es, die ihr bei mir ausgeharrt habt in meinen Anfechtungen.“ (Luk. 22,28) Es ist, als ob der Herr, wenigstens das Unscheinbare noch annehmen wollte, um doch etwas erreicht zu haben. „So lange bin ich bei euch, und ihr kennet mich nicht!“ (Joh. 14,9) Es war, wie wenn jemand in ein löcheriges Sieb Wasser schöpfen wollte, und die Arbeit einfach durchsickert. Wie schwer wird es uns, wenn wir an einen Menschen ein Stück unseres Lebens investieren – und er enttäuscht uns.
- Wie deprimierend ist es, wenn wir in der eigenen Familie auf Unverstand und Ablehnung stoßen: in Joh. 7,5 heißt es: „Auch seine Brüder glaubten nicht an ihn!“
- Und dann hat der Herr alles in seine Jünger hineingegeben und der Erfolg? – Es heißt dann nur: „Judas aber war ein Dieb.“ (Joh. 12,6) „Da verließen ihn alle Jünger und flohen!“ (Mark. 14,9) Wie schwer muss es für Jesus gewesen sein, wenn er über die größten Geheimnisse mit seinen Jüngern reden wollte und sie ihn nicht verstanden. So hat der Herr neben der Heimatlosigkeit und der Fremde, als ihn niemand verstand, unter der Erfolglosigkeit und dem Unverstand gelitten, da ihn keiner recht verstehen wollte.
- Und dann erlitt er den Widerspruch der Sünder. Von den Seinen konnte und von den Feinden wollte er nicht verstanden werden. „Dass du ein Samariter bist und hast den Teufel in dir!“ (Joh. 8,48) So reden sie von dem Reinen, dem niemand eine Sünde nachweisen konnte. Einen Sohn des Teufels haben sie ihn genannt. Was ist das Großes, dass er zu all dieser Verkehrtheit und Verwerfung schwieg! Er hat geheilt und sie nennen ihn Freund des Feindes – er lehrte im Tempel und erfüllte ihre Häuser mit Frieden, und sie nennen ihn einen Fresser und Weinsäufer. Der Herr, der so viel an die einzelnen gewagt hat, wird von dem Volke verworfen: „Wir wollen nicht, dass er über uns herrsche!“ (Luk. 19,27)
Der Sohn leidet. Er leidet an diesen Leuten, denen er so viel gegeben hat und die nichts zurückzahlen. Er leidet an diesen Menschen denen er alles ausgerichtet, und sie sagen: „Auf das sind wir ja im Grunde gar nicht angewiesen.“ Dieser Herr leidet an uns, der uns so unendlich viel auch in der vergangenen Woche gegeben hat und die wir nicht bereits sind ihm etwas zurückzugeben. Ein kleines Zeichen seiner Abhängigkeit und Dankbarkeit. Boten hatten daran erinnert, der Bote Jeremia z. B., aber seine Spur verschwindet nach seiner gewaltsamen Entführung nach Ägypten. Der Bote Sacharja hat daran erinnert, und er stirbt und im Steinhagen vor dem Tempel, der Bote Johannes der Täufer hat daran erinnert, und sein Kopf rollt vom Schafott des Henkers. Eine Endlosliste von Boten, die uns an die Fürsorglichkeit dieses Gottes erinnert haben. Das alles war vergebliche Liebesmühe.
Heimatlosigkeit, Unverstand und böser Wille und am Ende Erfolglosigkeit. Als er sein Haupt am Kreuze neigte, war seine Arbeit so erfolglos, als wäre sie nie geschehen und sein Werk ohne jede Aussicht; Finsternis um ihn und Nacht in ihm. Als Jesus von der Erde schied, hatten sie ihn als ihren Freund erfahren, sie hatten Gottes Treue erlebt und hatten doch alles von sich gestoßen.
2. Jesu Leiden durch uns.
Jesus ruft den Anbruch der Herrschaft Gottes aus. Gott meint es gut mit dem Menschen, der sich gegen Gott auflehnt und gerade so unter die tyrannische Herrschaft der Verderbensmächte geraten ist. Dir, verkündigt Jesus, dass Gott dich nicht preisgegeben hat, sondern sich deines Elends erbarmt, indem er dir deine Schuld vergibt und dich befreit aus der Finsternis ins Licht, zu der Freiheit der Kinder Gottes. Und Jesus übt die Barmherzigkeit Gottes aus, indem er Menschen aus ihrem Zwang, ihren Bindungen, ihrer Verfallenheit, ihrer Lähmung, ihrer Angst herausreißt und in das Reich, „da Fried und Freude lacht” wieder hinein in die Gemeinschaft mit Gott. Weil die Barmherzigkeit Gottes angebrochen ist, ruft er zur Buße, das heißt, zur Umkehr aus der selbst verschuldeten Verlorenheit in die ausgebreiteten Arme des Vaters, aufzuhören, durch die eigene Leistung gerecht sein zu wollen, hinein in ein Leben aus der angebotenen Gnade.
An diesem Angebot der Liebe Gottes bricht der ganze Widerstand des Menschen gegen ihn auf und führt ihn ins Leiden. Der Satz von Thomas Mann: „Wer am meisten liebt, muss am meisten leiden“, der trifft voll auf ihn zu, wo sie nach Machtstreben streben, strebt er nach Ohnmacht. Es ist das Leiden durch den Menschen, der sich von Natur aus leidenschaftlich dagegen wehrt, auf Vergebung angewiesen zu sein. Dem es unerträglich ist, dass seine Leistung, sein Opfer, seine strenge Moral vor Gott nichts gelten soll, der es sich nicht gefallen lässt, dass seine Beurteilungsmaßstäbe, seine Wertkategorien außer Kraft gesetzt werden. Dass alle ohne Unterschied der Gnade bedürftig sein sollen. Daher das Murren (Luk. 5,30), der wütende Einspruch (Joh. 7,23), der immer wieder unternommene Versuch, Jesus zu beseitigen (Joh. 8,37.40.59). Der muss weg!!
Die Tatsache, dass der eine Gott-Mensch Jesus, in dem Gottes ganze Liebe unterwegs war in dieser Welt, leiden musste, abgelehnt, gehasst, verworfen, ausgestoßen wurde, bringt ans Licht, wer wir sind: der Mensch, der Gottes Liebe abweist und ausschlägt. Der Mensch sagt: „Wir schaffen das!“ „Yes, we can!“ In der Verwerfung Jesu kommt heraus, was wirklich Sünde ist. Hier – erst hier! Erst dadurch, dass Gottes ewige Liebe zu uns gekommen ist, wird offenbar, was Sünde wirklich ist. „Sünde heißt: die uns nahe gekommene, die uns gegenwärtige Gnade Gottes als solche zurückweisen” (K. Barth). Wer Sünde nur als Übertretung von Bestimmungen (und seien es die der zehn Gebote) ansieht, wer sie nicht in dem sieht, was Jesus angetan worden ist, der hat sie noch nicht in ihrer ganzen furchtbaren Abgründigkeit erkannt. Das Leiden Christi klagt uns an als Menschen, die Gottes Liebe abweisen, Gottes Gnade verwerfen, Gottes Erbarmen nicht wollen und darum – darum! – so erbärmlich sind.
Es ist das Leiden der abgewiesenen Liebe Gottes, das Jesus erleidet, das Leiden des Widerspruchs der Sünder gegen ihn (Hebr. 12,3), das Leiden der bewussten Verwerfung Gottes. Des Menschen Sohn „muss viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht“ (Luk. 17,25). Diese Verwerfung des Heils ist die tiefe Bitternis in diesem Leiden, wie sie sich in Jesu Wehklage über Jerusalem ausspricht: „Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, … , und ihr habt nicht gewollt“ (Matth. 23,37). Und er ruft es über deinem und meinem Leben aus: „Du hast nicht gewollt!“ Hier wird im eigentlichen Sinne „gelitten“, das tiefe Leiden der zurückgewiesenen Liebe Gottes.
„Hier wurde gelitten. Alles andere, was wir als Leid kennen, ist uneigentliches Leid verglichen mit dem, was hier geschehen ist.“ (K. Barth).
„Der, der am meisten leidet, liebt am meisten.“ Schlagen sie nicht weiter mit ihren Gott-ist-tot Argumenten, spucken sie ihm nicht weiter durch ihre gelebte Undankbarkeit ins Gesicht. Lassen Sie ihn nicht mit ihrem Atheismus einfach liegen. Er ist genug geschlagen! Er leidet durch uns.
Aber Jesus leidet nicht nur an uns und durch uns, sondern er leidet zugleich mit dem Menschen und für den Menschen, der in dieser Abweisung ewig verloren sein müsste.
3. Jesu Leiden mit uns.
Jesus bringt den Menschen Gottes Liebe, indem er ihnen die volle Vergebung verkündigt, und er erfährt dabei an sich selbst die Abweisung dieser Liebe. Aber er nimmt trotz dieser Ablehnung das Liebesangebot Gottes nicht zurück, sondern er hält es aufrecht.
Indem er das Wort von der Vergebung nicht aufhebt, sondern es durchhält bis zum Ende (Luk. 23,34!), wird er mitschuldig daran, dass es zum Schweigen gebracht wird.
Indem er aus Liebe mit dem sonst rettungslos verlorenen Menschen das in ihm ergehende Angebot der Liebe Gottes aufrechterhält, erhält er auch den Widerspruch dagegen aufrecht.
Indem er Gottes grenzenlose Vergebung nicht verschweigt, sondern sich der Ablehnung ausliefert, willigt er ein, dass Er als der einzige, der das Wort der Vergebung in dieser Welt zu sprechen vermag, zum Schweigen gebracht werden soll.
Jesus war der Einzige Gottes. Ohne ihn ist der Himmel leer, ohne ihn ist die Erde wüst, ohne ihn fehlt die Spitze seiner Liebe!
Indem er die Ablehnung erduldet und damit freiwillig das Leiden auf sich nimmt und das Todesurteil bejaht, das ihn, den Bringer von Gottes Vergebung, endgültig zum Verstummen bringen soll, „wird er selbst solidarisch in dem Verwerfen der Vergebung.“ Er geht wirklich ein in dessen Schuld; er übernimmt sie nicht nur wie einer, der sich von einem hoffnungslos Verschuldeten den Schuldschein geben lässt, um ihn zu begleichen (ohne selber in dessen Schuld einzutreten und sie sich zu eigen zu machen); er wird von Gott nicht nur für schuldig angesehen und für schuldig gerechnet, sondern er wird sogar für uns zur Sünde gemacht (2. Kor. 5,21). Er trägt die Gestalt des sündigen Fleisches (Röm. 8,3) nicht nur zum Schein, nicht nur wie einen Mantel – als etwas ihm äußerlich gegebenes, sondern er identifiziert sich mit uns Sündern. Seine Solidarität mit uns hört nicht auf an der Grenze der Schuld, sondern sie ist total. Er ist in jeder Hinsicht uns Sündern gleich geworden (Hebr. 2,17). Und darum wird er auch nicht nur zum Schein angefochten, sondern er erleidet die Anfechtung in ihrer wirklichen letzten Tiefe, sodass sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde fiel (Luk. 22,44). Und wie seine Solidarität mit uns nicht haltmacht vor der Schuld, so auch nicht vor der Strafe, als Konsequenz der Sünde als er seinen Tod erleidet. Er tritt wirklich in unsere Schuld und in unsere Strafe ein und distanziert sich nicht einmal in Gedanken von ihr. So – nur so! – leidet er unser Leiden wirklich mit.
Aber Sein Hineingehen in die Schuld und Strafe von uns Sündern ist keine Verführung, ist kein Fall. Er ist „in allem auf gleiche Weise versucht worden wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebr. 2,17). Für ihn wäre gerade dies der Fall in die Sünde gewesen, wenn er aufgrund der Abweisung von Gottes Liebe das Wort von der Vergebung zurückgenommen und den Sünder in seinem Elend gelassen hätte.
Er tut es in der Solidarität der Liebe, die lieber zusammen mit denen, die sie liebt, verloren sein, als getrennt von denen, die sie liebt, ihre eigene Seligkeit ungeschmälert besitzen will. Diese Liebe macht ihn freiwillig zum Schuldigen und Gestraften.
4. Jesu Leiden für uns.
Das Ausweichen vor dem Leiden war die satanische Versuchung, der er tatsächlich ausgesetzt war (Matth. 16,21-23). Die Verweigerung des Leidens wäre sein Sündenfall gewesen. Wollte er Gottes Liebe bringen, so musste er leiden. „Des Menschen Sohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten und getötet werden (Mark. 8,31; vgl. dieses immer wiederkehrende „Muss”). Freilich war dies kein Muss von dunkler Notwendigkeit (wie das Muss unseres Sterbens), sondern ein Muss, das immer wieder im Gehorsam bejaht werden musste. Jesus ward „gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz” (Phil. 2,8); in seinem Leiden musste er den Gehorsam lernen (Hebr. 5,8).
Seine Passion ist wirklich seine Aktion. Jesus hat nicht bloß ein über ihn verhängtes Schicksal erlitten, sondern er hat in der Freiheit seines Gehorsams das Leiden angenommen. Er hat es vorausgesagt. Er hat gewusst, warum und wozu er litt.
Woher wusste er das? Weil er mit dem prophetischen Worte lebte. Aus seinem betenden Umgang mit Jes. 53 hat Jesus nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch den Sinn seines Leidens erfahren, Jesus zitiert eben nicht die Schrift wie ein Schriftgelehrter, Jesus „benutzt nicht die Schrift, sondern er lebt die Schrift“. Nämlich dies, dass sein Leiden und Sterben zu unserem Heil geschieht, dass es stellvertretendes Leiden ist.
Konstantin Wecker, der bekannte Liedermacher singt in einem seiner Songs:
„Du musst dir alles geben, keiner bringt dir dein Heil.
Alle Tage durchleben – die Stufen sind tränensteil….
Die dir Großes versprechen, versprechen sich meistens dabei.
Mach deine eigenen Zechen, taumle dich frei.“
Das ist ja gerade heute unsere Botschaft: Einer bringt dir das Heil! Die Passionsgeschichte Jesu deckt auf, was in unserem menschlichen Herzen nistet, an Hass und Aufruhr und an kalter Berechnung. Das Passionsgeschehen ist der Gipfelpunkt der Auflehnung des Menschen gegen Gott, der Tiefpunkt von Hass, Feindschaft und Charakterlosigkeit des Menschengeschlechts, aber der Höhepunkt des Heils Gottes. Wo der Mensch sich selbst, seinen Willen, seine Ehre, seine Freiheit, seine Überzeugungen zum Maß und Mittelpunkt aller Dinge macht, wird nicht nur das Verhältnis zu Gott, dem Schöpfer, zerstört. Es geht zugleich auch das Verhältnis der Menschen untereinander in die Brüche.
Das hat angefangen mit der Auflehnung gegen Gottes Gebot im Garten Eden und ging über den Brudermord von Kain an Abel bis zum heutigen Tag in der Abkehr von Gott und seinem Willen. In der Missachtung der Menschen, im Großen und im Kleinen, offen oder versteckt, aus nackten materiellen Interessen oder politisch, ideologisch, manchmal sogar religiös verbrämt. Dies ist die eigentliche Krankheit des Menschen, die in der Feindschaft gegen Gott ihren Ursprung hat. Sie steckt zu tief in unserem Menschensein, als dass man medizinisch oder psychologisch dagegen ankommen könnte.
Nur Gott kann jetzt das Heil schenken. Und er hat es in Jesus getan. Eben dies meint das Wort von Gelitten für uns. Es ist das Wort von der Versöhnung: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu.“ Gott selbst hat das getan. Er hat die Strafe, die ich tragen müsste, für mich getragen. Er bringt uns das Heil, er allein. Und wie geschah dies? „Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ Einen „seligen Tausch“ hat Martin Luther dieses Geschehen genannt, das sich in Jesu Leiden und Sterben vollzogen hat. Ein seliger Tausch: Gott hat nur einen einzigen Sohn gehabt. Nicht zwei, nicht 3, nur einen einzigen und den hat er sich vom Leibe gerissen, damit wir alle ihn zerreißen, den einzig Sündlosen, damit unser Leben wieder heil werden kann. „Einer bringt dir dein Heil“: Jesus Christus, der Mann, der am Kreuz für uns stirbt.
- Augstein sagt: Es gibt keinen Gott, … der seinen Sohn für uns opfert.“ (Augstein: Jesus, Menschensohn. 1972, S.406) Das wäre furchtbar! Seit 2000 Jahren steht fest: Für uns gelitten, damit wir versöhnt werden können. Das griechische Wort hierfür, heißt: gänzlich austauschen, total verändern. Die Vorsilbe dieses Wortes zeigt im Griechischen an, dass sich das „von oben her“, von oben nach unten (und nicht umgekehrt!), vollzieht, also von Gott aus zu uns Menschen. Nicht wir Menschen versöhnen Gott, indem wir auf unsere guten Seiten verweisen. Gott versöhnt uns mit sich selber durch das Opfer seines Sohnes für uns. Von ihm geht die Initiative aus, nicht von uns.
Das ist die gute Botschaft für uns heute: Wir haben wieder Zugang zu Gott. Wir können freigesprochen werden und dürfen aufatmen. Wir müssen nicht mehr aus eigenen Kräften Gott mit uns versöhnen, er hat uns mit sich selbst versöhnt, als Jesus für uns starb. Er für uns. Seitdem gilt: „Einer bringt dir dein Heil.“ Wir müssen uns nicht „freitaumeln“, wir sind freigesprochen. Alles, was Jesus leidet, ist ein Leiden uns zu gut.
Nur in ihm, o Wundergaben,
können wir Erlösung haben,
die Erlösung durch sein Blut.
Hört’s: das Leben ist erschienen,
und ein ewiges Versühnen
kommt in Jesus uns zugut.
P.F. Hiller: Jesus Christus herrscht als König (5)
„Denn worin er selber gelitten hat und versucht ist, kann er denen helfen, die versucht werden” (Hebr. 2,18). Diesen Trost durch das 4 fache Leiden Jesu wollen wir mit in die Woche hineinnehmen.
Amen
Prädikant und Religionslehrer Thomas Karker, Passionswochenende im Gästehaus Vandsburg in Lemförde, März 2023
Dieser Beitrag wurde erstellt am Samstag 18. März 2023 um 19:58 und abgelegt unter Predigten / Andachten.