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Pluralismus, Dialog und Toleranz aus christlicher Sicht

Pluralismus, Dialog und Toleranz aus christlicher Sicht

Warum dieses Thema? Wir stehen als bekennende Christen seit Jahren in einem Geisteskampf. In diesem Kampf werben unsere innerkirchlichen Gegner mit eben diesen Begriffen: Pluralismus, Dialog, Toleranz. Mit Pluralismus wird eine Wirklichkeit beschrieben, mit Dialog eine Methode und mit Toleranz eine innere Haltung. Es gibt Begriffe, auf die man nach Art des Kniesehnenreflexes positiv reagiert. Diese drei Begriffe gehören dazu. Darum ist es unbedingt notwendig, dass wir einmal diese Begriffe, die so positiv klingen, etwas genauer ansehen und prüfen. Beginnen wir ohne lange Vorrede mit dem Pluralismus.

Erstens: Pluralismus

Was ist damit gemeint, wenn gesagt wird: Ihr Frommen: warum regt ihr euch über Manche Aussagen in der Kirche so auf? Ihr müsst endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir in einer pluralistischen Kirche leben und ihr nicht allein bestimmen könnt, was die Wahrheit ist.

Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Pluralismus“?

Im Duden wird dieses Wort so erklärt:

„Vielgestaltigkeit gesellschaftlicher, politischer und anderer Phänomene“. Der Begriff kommt aus der Philosophie und meint dort, dass die Wirklichkeit aus vielen selbständigen Weltprinzipien bestehe. Von da ist er in die Politik eingedrungen und meint dort das gleichberechtigte, durch grundrechtliche Garantien geschützte Nebeneinanderwirken einer Mehrzahl sozialer Gruppen innerhalb einer staatlichen Ordnung.

Für den Staatsrechtler Peter Badura bedeutet Pluralismus, „dass von vornherein mehrere Auffassungen als gleich akzeptabel oder gleichermaßen als möglicherweise richtig anerkannt werden, dass der Staat und die Rechtsordnung überhaupt darauf verzichten, ein Richtigkeitskriterium in ihren Entscheidungen zugrunde zu legen, sondern dass sie relativistisch sind, wie die Demokratie es ja ist.“ Pluralismus ist in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat notwendig, weil es in der Gesellschaft verschiedene weltanschauliche und religiöse Überzeugungen gibt, die nicht unter einem einzigen Wahrheitsbegriff vereinigt werden können, sondern nebeneinander bestehen müssen.

So nötig die Respektierung des Pluralismus im Staat ist, so unnötig, ja widersinnig ist sie für die einzelne Gruppe oder Gemeinschaft. Denn eine Gemeinschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie durch etwas Besonderes geprägt und zusammengehalten wird. Wenn sich dieses Besondere im Lauf der Zeit verflüchtigt und nicht mehr als verpflichtend angesehen wird, dann setzt damit der Prozess der Auflösung ein.

Um dies zunächst an einem ganz simplen Beispiel zu verdeutlichen:

Die Mitglieder eines Sportvereins, die sich nicht mehr zum Training einfinden, die nicht mehr die Statuten ihres Vereins befolgen, sondern sich stattdessen zum Glas Bier treffen und sich Heimatfilme ansehen, befinden sich damit bereits auf dem Weg der Selbstauflösung. Sie mögen sich noch „Sportverein“ nennen, sie mögen noch ihre Beiträge bezahlen, sie mögen noch de jure bestehen – de facto sind sie bereits erledigt. Leute, die wirklich Sport treiben wollen, werden diesen Verein nicht ernst nehmen und sich schon gar nicht bei ihm anmelden.

Dieses Beispiel ist natürlich nicht in allen Einzelheiten auf die Kirche übertragbar – im entscheidenden Punkt aber doch!

Und dieser Punkt betrifft den „Vereinszweck“. Wenn nicht mehr klar ist, wozu Kirche da ist, dann macht sie sich überflüssig. In dem Maße wie die die geistige Ausstrahlung der Kirche schwindet, wächst ein im wahrsten Sinne des Wortes blinder Aktionismus, der krampfhaft versucht, die Kirche vor dem gesellschaftlichen Abseits zu bewahren. In diese Abseitsfalle begibt sich die Kirche, wenn sie den Menschen, die zu einer bestimmten Sache ihr Wort hören wollen, aber stattdessen aus der einen Kirche nur eine Vielzahl von Meinungsäußerungen hören, die sich in aller Regel auch noch untereinander widersprechen und größtenteils das Meinungsbild anderer gesellschaftlicher Gruppen widerspiegeln.

Insofern ist der Satz berechtigt:

„Viele Schwierigkeiten in der Kirche verbinden sich heute mit dem Stichwort ‚Pluralismus’. Die einen verteidigen ihn, die anderen bekämpfen ihn.“

Mit diesen Worten beginnt eine bereits 1977 formulierte Stellungsnahme der Arnoldshainer Konferenz, ein Zusammenschluss von einer Reihe von evangelischen Kirchenleitungen aus den Gliedkirchen der Ev. Kirche in Deutschland. Typisch ist allerdings für diesen Kreis, dass so argumentiert wird, als gäbe es sowohl „Chancen des Pluralismus“ als auch „Grenzen des Pluralismus“, wobei die „Grenzen“ so nebulös beschrieben werden, dass man sie nicht erkennen kann. Die Theologen der Arnoldshainer Konferenz gehen von der Annahme aus, dass es bereits „Pluralismus im Neuen Testament…“ gegeben habe.

In diesem Zusammenhang wird gern auf gewisse Beispiele hingewiesen:

auf Konflikte zwischen den beiden Aposteln Petrus und Paulus oder zwischen Paulus und Barnabas;

auf die Tatsache, dass die Worte und Taten Jesu von den Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas anders wiedergeben seien als durch Johannes;

auf Unterschiede in den Lebensformen der ersten Gemeinden zwischen Judenchristen und Heidenchristen;

auf unterschiedliche Schwerpunktbildungen im Blick auf die Heilsbedeutung von Glaube und Tun, von Gemeinde und Gemeindeleitung.

In theologischen Fachkreisen spricht man von der Theologie des Paulus, von der Theologie des Johannes oder von einer synoptischen Theologie (Matthäus, Markus, Lukas). Dabei wird der Eindruck vermittelt, dass es bereits in der Urchristenheit einen theologischen Pluralismus gegeben habe. Das ist falsch. Es treten zwar unter den neutestamentlichen Zeugnissen unterschiedliche Akzentuierungen auf:

Matthäus richtet sich auffällig an die Juden: jüdische Sitten, Gebräuche und Worte werden deshalb – im Gegensatz etwa zum Markus-Evangelium – meist nicht erklärt, sondern als bekannt vorausgesetzt.

Lukas spannt den Boden weiter: das Heil wird als für die ganze Menschheit bestimmt beschrieben – besonders auffällig auch für die „Armen“.

Markus stellt dar, wie Jesus seine Messianität und das Geheimnis des Reiches Gottes verhüllt.

Johannes verbindet die Botschaft von Jesus Christus mit dem griechischen Logos-Begriff und bringt z.B. die einzigartigen Ich-bin-Worte Jesu.

Paulus betont die Verlorenheit des Menschen, die Heilsbedeutung des Kreuzes und die Rechtfertigung des Menschen, des Sünders, „allein aus Glauben“.

Jakobus sorgt mit seiner Stimme dafür, dass neben der Betonung des Glaubens die Werke der Barmherzigkeit nicht vergessen werden.

So gibt es in der Tat unterschiedliche Akzente, aber eben nur Akzente der einen Botschaft, dass sich der dreieinige Gott in dieser Welt machtvoll offenbart hat. Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist als Erlöser von Tod und Sünde in diese Welt gekommen. Dabei sind Kreuz und Auferstehung nicht Reflexionen irgendwelcher frommen Gemüter. In diesen zentralen Aussagen stimmen die Verfasser der biblischen Schriften überein. Wenn es nicht so wäre, dann wären die Aussagen der Bibel lediglich eine Sammlung höchst subjektiver Auffassungen über Gott und die Welt: der eine sehe die Dinge so, der andere anders, der eine habe diese Erfahrungen, der andere habe ganz andere gemacht – und im übrigen sei alles sowieso „zeitbedingt.“

Genau diese Auffassung hat sich in Theologie und Kirche – jedenfalls in unserem Land – durchgesetzt und führt zu einem geradezu schrankenlosen Relativismus der biblischen Botschaft. Alles in der Bibel sei „relativ“. Von diesem Ansatz her ist es nur folgerichtig, wenn sowohl die Unfehlbarkeit des Wortes Gottes als auch die Unwandelbarkeit des Wortes Gottes in Abrede gestellt wird.

Bereits im Februar 1977 schrieb der damalige theologische Leiter des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes, Heinz Zahrnt:

„Wenn wir heute dasselbe sagen wollen, was die Bibel sagt, dann müssen wir es nicht nur anders sagen, als es die Bibel sagt, dann müssen wir unter Umständen sogar anderes sagen. Daher müssen wir heute diejenigen als Irrlehrer betrachten, die die biblische Botschaft … nur wortwörtlich wiederholen und unverändert zu bewahren suchen, ohne Rücksicht darauf, ob der Zeitgenosse es versteht und davon leben kann.“

Mit solchen Behauptungen wird einerseits der theologische Pluralismus in der Kirche sanktioniert und zugleich die Gegenposition als Irrlehre abqualifiziert. Diesem Notstand soll abgeholfen werden, indem immer wieder aufgerufen wird, durch Dialog und im Geist der Toleranz die Gräben zu überwinden und unter dem Dach der einen Kirche zu bleiben.

Ich sagte einleitend:

Mit Pluralismus wird eine Wirklichkeit beschrieben, mit Dialog eine Methode und mit Toleranz eine innere Haltung.

Zweitens: Dialog

Anfang September 2003 fand in Aachen ein Weltfriedenstreffen statt, zu dem die katholische Laienorganisation Sant’ Egidio eingeladen hatte. 450 führende Vertreter der Weltreligionen kamen zusammen, um gemeinsam darüber nachzudenken, was man tun könne um dem Terror und der Gewalt Einhalt zu gebieten. „Haltet ein! Tötet nicht!“ – hieß es in dem Aufruf der Vertreter von Christentum, Hinduismus, Buddhismus und Islam. Gewaltanwendung sei eine Niederlage für die gesamte Menschheit, so die religiösen Führer. Zum Abschluss des Treffens mit rund 5.000 Gästen aus 58 Ländern riefen sie dazu auf, „die Kunst des Dialogs“ einzusetzen (epd ZA Nr. 174 v. 10. September 2003, S. 2). Um die Kunst des Dialogs einzusetzen, muss man sich allerdings erst einmal darüber verständigen, was mit dem Begriff „Dialog“ überhaupt gemeint ist.

Der Begriff meint ursprünglich die „Kunst der Unterredung“. Die Frage ist nur, welche Funktion dem Dialog im Blick auf die Bewertung inhaltlicher Aussagen im Verlauf der Unterredung zukommt. Bereits an diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander – und darum wird ausgerechnet bei einem Thema, das der Verständigung dienen soll, auch in der Kirche so leicht aneinander vorbeigedacht und dann auch aneinander vorbeigeredet. Das liegt daran, dass an diesem Punkt in unserer kulturgeschichtlichen Tradition ganz stark das philosophische Verständnis des Dialoges nachwirkt.

Es gibt ein philosophisches Verständnis des Dialoges, das durch die antike griechische Philosophie geprägt und von Platon (427 – 347 v. Chr.) zu hoher formaler Vollendung geführt worden ist. Durch Rede (These) und Gegenrede (Antithese) wird die Lösung einer Frage (Synthese) angestrebt. Die Synthese kann dann wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Dialogs werden, also zu einer neuen These. Und so nähert man sich durch viele Gedankenschritte mehr und mehr der Wahrheit.

Im Blick auf die Frage: „Was ist Wahrheit?“ gilt im Rahmen dieses Modells, dass diese zwar im Reich der Ideen bereits vorgegeben, aber den am Dialog Beteiligten nicht von vornherein einsichtig ist. Erst der Dialog bringt im buchstäblichen Sinne die Wahrheit ans Licht. Von daher ist der berühmt gewordenen Satz des Philosophen Karl Jaspers zu verstehen: „Die Wahrheit beginnt zu Zweien.“

Für den Christen ist der Weg genau umgekehrt: Er geht in seinem geistlichen Erkenntnisweg nicht auf die Wahrheit zu, sondern er kommt bereits von der Wahrheit her. Und diese Wahrheit hat einen Namen: Jesus Christus. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben…“ (Johannes 14,6). Die Wahrheit beginnt nicht zu Zweien, sondern sie kommt von dem Einen her – von Jesus Christus.

Lassen Sie uns die philosophische Definition des Dialogs in einen aktuellen Bezug setzen zur Wirklichkeit – z.B. für das Gespräch mit Vertretern anderer Religionen.

Bereits auf der 4. Vollversammlung des ÖRK, die 1968 in Uppsala (Schweden) stattfand, konnte man in einem Sektionsbericht die erstaunliche Aussage lesen: „In der Begegnung mit Mohammedanern, Hindus, Marxisten und Humanisten lernen Christen, die gemeinsamen Grundlagen unseres Menschseins zu entdecken und kommen so zu einem volleren Verständnis der Wahrheit.“ Besonders aktuell ist die Frage, wie der Dialog zwischen Christen und Muslimen aussehen soll? Wenn es beide mit ihrem Glauben genau nehmen, dann kann es zwischen ihnen keinen sinnvollen Dialog in dem soeben geschilderten Verständnis von Dialog geben. Es kann diesen Dialog deshalb nicht geben, weil beide den Begriff Wahrheit an Aussagen in der Bibel bzw. im Koran heften, die nicht zur Disposition gestellt werden dürfen und darum von der einen oder der anderer Seite nicht akzeptiert werden können. Es gibt ja eine ganze Reihe von Übereinstimmungen zwischen den beiden Religionen. Aber ausgerechnet in den wichtigsten Aussagen ist keine Übereinstimmung möglich – vor allem nicht in der Gottessohnschaft Jesu, in der Heilsbedeutung des Kreuzes, in der Lehre von der Trinität.

Die Wahrheit beginnt zu zweien. Damit kommen wir hier nicht weiter. Also gerade nicht mit dem klassischen Dialog, sondern ganz einfach und viel bescheidener mit dem Gespräch, das die Gegensätze stehen lässt, aber um menschliches Vertrauen wirbt. Das ist schon viel, wenn uns das im Miteinander gelingt! Wer miteinander spricht, nimmt den anderen ernst.

Ich könnte auch sagen:

Wo gesprochen wird, wird nicht geschossen.

Wo gesprochen wird, hat der Terror keine Chance.

Gespräche zwischen Christen und Muslimen haben zu allen Zeiten in der Vergangenheit stattgefunden und finden in der Gegenwart statt – sei es auf internationalen Treffen der Religionsvertreter, sei es im persönlichen Austausch zwischen Geschäftsfreunden, Nachbarn und Freunden.

Ich sagte, wir müssen im Gespräch mit Vertretern anderer Religionen aufrichtig sein und den Mut haben, die Gegensätze ehrlich zu benennen und so stehen lassen. Das finden andere unbefriedigend. Sie meinen, im Geist der Toleranz ließen sich die noch bestehenden Gegensätze Schritt für Schritt abbauen.

Wenden wir uns also im dritten Teil meiner Ausführungen der Toleranz zu.

Drittens: Toleranz

In unseren Tagen wird immer wieder Toleranz eingefordert – sei es gegenüber bestimmten Randgruppen, sei es gegenüber anderen Lebensformen, sei es in den letzten Wochen besonders gegenüber Vertretern anderer Religionen.

Wie stehen wir zu dieser Forderung?

Gerade im Blick auf das reformatorische Erbe unserer evangelischen Kirche muss ich daran erinnern, dass die Reformation unlöslich mit der Forderung nach Toleranz verbunden ist. Allerdings wurde die reformatorische Ausformung der Toleranz in unserer Gesellschaft weithin abgelöst durch eine neue und andere Begründung der Toleranz in der Epoche der Aufklärung.

Dieser Wechsel hat schwerwiegende Folgen gehabt. Das möchte ich Ihnen kurz erläutern.

Luther hat die gebotene Toleranz mit dem einfachen Satz beschrieben, dass Glaube nicht erzwungen werden kann. Er selbst nahm diese Freiheit für sich in Anspruch, indem er im April 1521 auf dem Reichstag in Worms in seiner berühmten Rede betonte, dass es nicht gut sei, etwas gegen sein Gewissen zu tun.

Toleranz im reformatorischen Sinn ruht auf zwei Pfeilern:

einmal auf der Respektierung des Gewissens und zum andern auf der Nächstenliebe, die ein Ja zum andern hat, weil er ein Geschöpf Gottes ist. Glaube darf also nicht erzwungen werden. Daraus folgt zwangsläufig, dass es ertragen werden muss, wenn andere anders denken und glauben. Die Voraussetzung für solches Ertragen ist die Kenntnis der anderen Meinung und die Gewissheit der eigenen. Christliche Toleranz – daran haben die Reformatoren erinnert, auch wenn sie es selbst nicht immer vorbildlich durchgehalten haben – sucht die Begegnung mit dem andern auch dort, wo sich das Ja zur Person mit einem Nein zu ihren Überzeugungen verbindet. Diese kraftvolle Toleranz erlitt im Zuge der geschichtlichen Entwicklung eine folgenschwere Abwandlung. Das geschah durch die ansonsten in vieler Hinsicht so dankenswerte Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Der Pfarrerssohn Lessing war es, der in seinem Schauspiel „Nathan, der Weise” in der berühmten Ringparabel die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam mit drei Ringen vergleicht. Zunächst gab es nur einen einzigen Ring, der die wundersame Eigenschaft hatte, vor Gott und Menschen angenehm zu machen. Und dieser Ring wurde von seinem Besitzer immer auf den jeweils liebsten und würdigsten Sohn vererbt. Nun kam der Ring an einen Vater, der drei Söhne hatte, die er alle drei gleich lieb hatte. So ließ er zwei Kopien anfertigen, die dem echten Ring so ähnlich waren, dass er selbst den echten von den beiden andern nicht unterscheiden konnte. Als der Vater stirbt, kommt es zum Streit zwischen den drei Brüdern. Ein Richter soll entscheiden – und der sagt: „Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen, vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden!“ Also wird man ja sehen, von welchem Träger des Ringes dies gesagt werden kann. Mit anderen Worten: Nichts Genaues weiß man nicht: „So glaube jeder sicher seinen Ring den echten. Möglich, daß der Vater nun die Tyrannei des einen Ringes nicht länger in seinem Hause dulden wollen! -Und gewiß, daß er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt, indem er zwei nicht drücken mögen, um einen zu begünstigen.“

(Nathan, der Weise. Dritter Aufzug, siebenter Auftritt)

Nach Lessing ist der Wert der Religion nicht am Inhalt der Offenbarung zu messen, sondern an dem, was der Gläubige daraus macht.

„Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen, vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden!“

Auf diese Weise wird ausgerechnet durch die Aufklärung die von der Reformation bekämpfte Werkgerechtigkeit wieder auf den Leuchter gestellt. Lessing lehnt es ab, die Inhalte der Religionen wertend zu vergleichen. Für ihn sind nach der Ringparabel zu urteilen alle drei Religionen gleich gültig. Wenn aber erst einmal alles als gleich gültig bezeichnet wird, ist der Weg dahin nicht mehr weit, dass alles, was mit Religion zusammenhängt, gleichgültig wird.

Das ist weithin unsere Lage heute. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass man aus vermeintlicher Toleranz wesentliche Unterschiede zwischen den Religionen verschweigt oder verharmlost, gemeinsame Gottesdienste feiert und behauptet, letztlich glauben wir doch alle an denselben Gott und beten zu demselben Gott.

Ganz in diesem Sinne sprach der Schriftführer des Kirchenausschusses der Bremischen Ev. Kirche in der Gedenkstunde aus Anlass des Terroranschlags auf die USA in der Bürgerschaft am 13. September 2001:

„Dass die Terroranschläge im Namen des Gottes geschehen, den Muslime, aber eben auch Juden und Christen anbeten, loben und preisen, erfüllt uns zusätzlich mit großer Traurigkeit.“

Diese Aussage ist weder von der Bibel noch vom Koran her zu rechtfertigen.

Denn Jesus sagt:

„Ich und der Vater sind eins” (Johannes 10,30)

„Wer mich sieht, sieht den Vater!” (Johannes 14,9)

„Niemand kommt zum Vater denn durch mich.” (Johannes 14,6).

Und genau dieser Anspruch wird vom Koran als strafwürdige Gotteslästerung zurückgewiesen. Für einen Moslem ist Jesus eben nicht der Sohn Gottes (Sure 4 und 5). Jesus ist auch nicht gekreuzigt worden (Sure 4), und ein Gebet im Namen Jesu ist eine Gotteslästerung. Der Vater Jesu Christi ist wohl identisch mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, aber nicht mit dem Allah Mohammeds, wie in der Kirche neuerdings immer wieder zu hören und zu lesen ist.

Woher kommt diese Unklarheit?

Nicht unbedingt aus Unwissenheit!

Paradoxerweise steht dahinter fast immer ein durchaus sympathisches Motiv: Man möchte bestimmten Menschen und Gruppen nur Freundliches sagen. Das gilt vor allem im Blick auf Menschen, die in der Vergangenheit oft genug – auch aus der Kirche heraus – diskriminiert worden sind, wie z.B. Homosexuelle oder Menschen anderer Religionen. Es ist richtig und notwendig, dass die Kirche auch diesen Menschen mit Freundlichkeit und Liebe begegnet.

Aber muss dazu die biblische Wahrheit außer Kraft gesetzt werden?

Toleranz besteht ja gerade darin, dass die Wahrheit dem Andersdenkenden in Liebe bezeugt wird, dass ich den andern in seinem Anderssein ertrage und erdulde. Genau diese Bedeutung steckt in dem lateinischen Wort „tolerare”. Ich muss also nicht die Meinung eines andern teilen, um meine Toleranz unter Beweis zu stellen. Im Gegenteil: „Zum Tolerantsein gehört begriffsnotwendig eine Art von Missbilligung dessen, was einer tut oder denkt.” (Kurt Sontheimer). Niemand wird also im Ernst erwarten können, dass Christen mit ihrem Ja zur Toleranz damit automatisch auch Antichristliches und Unbiblisches – wie das Gedankengut des Koran oder wie in ganz anderer Weise die praktizierte Homosexualität – positiv bewerten müssten.

Genau dieser Trugschluss liegt aber bei vielen Entscheidungsträgern innerhalb der Kirche vor. Das führt zwangsläufig dazu, dass bestimmte Aussagen der Bibel uminterpretiert oder als „zeitbedingt” entschärft werden. Die Botschaft der Bibel müsse den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen angepasst werden.

Andersherum wird aber ein Schuh draus, in dem man gehen und stehen kann: Der Mensch täte gut daran, sich den Geboten und Verheißungen der Bibel anzupassen und sie allein zum gültigen Maßstab zu nehmen. Jesus sagt:

„Selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren.” (Lukas 11,28)

Ich fasse zusammen. Nur das trägt im Leben, was auf Liebe und Wahrheit gründet. Beides gehört zur Toleranz!

Nur Liebe – das kann dazu führen, dass der andere auf seinem Weg bestärkt wird, also auch auf einem Weg, den ich als falsch ansehe.

Nur Wahrheit – das kann dazu führen, dass der andere dies als kalte Rechthaberei versteht und sich innerlich dagegen verschließt.

Aber in Liebe die Wahrheit sagen und eventuell ertragen müssen, dass das eine oder andere oder beides zurückgewiesen wird – das macht die wahre Toleranz aus.

Vortrag am 17. Juni 2006 in Hannover