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Kinderschicksale in DDR-Krippen: Eine historische Aufarbeitung beginnt

Samstag 4. Februar 2023 von Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.


Institut fĂŒr Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Es sind erschĂŒtternde Schicksale vernachlĂ€ssigter, wehrloser Kleinstkinder, die der Erfurter Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg in seinem Werk „Die beschĂ€digte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ (erschienen 2022 bei C.H.-Beck) darstellt. So etwa den Tod des kleinen Michael, der erstickte, weil sich ein Lederriemen um seinen Hals zuzog, mit dem er ĂŒber Nacht an seinem Bett angegurtet war. Oder den Todesfall des behinderten vietnamesischen Jungen Dan Ngyen, der in einem SĂ€uglingsdauerheim kollabierte, weil er eine Überdosis von Beruhigungsmedikamenten verabreicht bekam.

Rosenberg analysiert diese TodesfĂ€lle (zusammen mit vielen anderen Kinderschicksalen) anhand amtlicher Dokumente der DDR. Auffallend an den Dokumentationen ist die SelbstverstĂ€ndlichkeit, mit denen die Praktiken der Fixierung und medikamentösen Sedierung von Kindern behandelt wurden. So ging es bei der amtlichen Untersuchung zum Tod von Dan Ngyen nur darum, dass man sich mit der Menge verkalkuliert hat. Die Verabreichung von Beruhigungsmitteln an sich wurde nicht in Frage gestellt. Im Fall des kleinen Michael ging es nur darum, wie der Lederriemen eingesetzt werden soll, um zukĂŒnftige UnfĂ€lle zu vermeiden. Die Fixierung an sich wurde als notwendig angesehen, da in den Wochenkrippen eine Nachtwache 30, 40 oder sogar 50 schlafende Kinder zu beaufsichtigen hatte. An den TodesfĂ€llen zeigt sich so exemplarisch die InhumanitĂ€t eines Kinderbetreuungssystems, in dem viele Kinder auch ĂŒber die Nacht, getrennt von ihren Eltern, in Einrichtungen verblieben.

In den DDR-Wochenkrippen wurden die Kinder am Montagmorgen abgegeben und blieben dort bis zum Samstag oder zumindest bis zum Freitagnachmittag. In dieser Form der ganzwöchigen Kinderbetreuung auch ĂŒber Nacht lösten sich die Beziehungen der Kinder zu ihren Eltern. Schilderungen zeigen, dass Kinder, die in solchen Einrichtungen waren, ihre Eltern an den Wochenenden wie Fremde wahrgenommen haben.

Noch schlimmer erging es Kindern in SĂ€uglingsdauerheimen. Hier waren alle Kinder dauerhaft von ihren Eltern getrennt, weil z. B. das Kindeswohl gefĂ€hrdet war oder weil die Eltern inhaftiert waren. Auch fĂŒr das Personal war die Situation sehr belastend. Die Fluktuation war deshalb hoch. Dies verschlimmerte die Lage zusĂ€tzlich, denn so war auch der Aufbau von Ersatzbindungen zu den Erziehern extrem erschwert. SĂ€uglingsdauerheim wie Wochenkrippe sind mit tragischen Schicksalen verbunden. Einen Einblick hierzu gibt die ARD-Dokumentation „Die TrĂ€nen der Kinder. Wochenkrippen in der DDR“.

Auch die Tageskrippen waren „nicht unproblematisch“, wie von Rosenberg im Interview mit der „Tagespost“ feststellt. Die Abgabe der Kinder in die Krippen beschrieben DDR-Forscher als einen Schock, der sich auf die Gesundheit der Kinder, ihr Gewichts- und LĂ€ngenwachstum, ihre Psyche und kognitive Entwicklung negativ auswirkte. Sie verglichen, wie sich Kinder in Familien, Tageskrippen, Wochenkrippen und SĂ€uglingsdauerheimen entwickelten. Dabei zeigte sich ein klares Muster: „Die Tageskrippenkinder schnitten in diesen Tests schlechter ab als die Familienkinder. Die Wochenkrippenkinder schlechter als die Tageskrippenkinder und am Schlechtesten waren die Ergebnisse der Kinder in den SĂ€uglingsdauerheimen. Man kann also sagen, je weniger Zeit die Kinder in den Familien verbrachten, desto schlechter waren ihre Entwicklungswerte“. Wie von Rosenberg darstellt, galt dies nicht nur fĂŒr die physische und psychische Gesundheit, sondern auch fĂŒr die kognitive und sprachliche Entwicklung.

Eine öffentliche Diskussion dieser Erkenntnisse wurde von der DDR-FĂŒhrung strikt unterbunden. Forschungsarbeiten mussten unveröffentlicht bleiben oder umgeschrieben werden. Zweiflern und Skeptikern wurde klar gemacht, dass jede Kritik an den Krippen als Angriff auf die sozialistische Frauenpolitik angesehen wurde. Sogar das Problem des „Hospitalismus“ war seit den 1960er Jahren tabu. Wie alle Erkenntnisse der Bindungsforschung galt das Problem als eine Erfindung der „bĂŒrgerlichen Psychologie“ und damit des Klassenfeindes, der allein darauf aus sei, den Sozialismus zu diskreditieren.

Oberste PrioritĂ€t war die rasche Eingliederung der MĂŒtter in die Arbeitsprozesse. Der Wochenurlaub fĂŒr MĂŒtter war 1945 (also noch in der Sowjetischen Besatzungszone) auf sechs Wochen verkĂŒrzt worden. KinderĂ€rzte forderten Ende der 1950er Jahre, diesen Wochenurlaub auf drei Monate zu verlĂ€ngern, um MĂŒttern mehr Zeit zum Stillen zu geben. Anlass dazu gaben schwere ErnĂ€hrungsstörungen, an denen viele SĂ€uglinge starben. (Der Übergang zu kĂŒnstlicher SĂ€uglingsnahrung war damals schwieriger als heute). Trotzdem lehnte die DDR-FĂŒhrung einen lĂ€ngeren Wochenurlaub ab.

In der Tschechoslowakei (ČSSR) wurde der Wochenurlaub auf drei Monate verlĂ€ngert. Zu Beginn der 1960er Jahren starben in diesem sozialistischen „Bruderland“ fĂŒnfmal weniger SĂ€uglinge an Magen-Darmerkrankungen. Von Rosenberg schließt daraus, dass die DDR fĂŒr die Gewinnung (weiblicher) ArbeitskrĂ€fte den Tod von SĂ€uglingen „billigend in Kauf“ nahm.

Der Vorrang der FrauenerwerbstĂ€tigkeit vor dem Kindeswohl war nicht bloß wirtschaftlich, im Mangel an ArbeitskrĂ€ften begrĂŒndet. Vielmehr war die DDR-FĂŒhrung ĂŒberzeugt von ihrer marxistisch-leninistisch begrĂŒndeten Mission, die (deutschen) Frauen zu befreien. So verkĂŒndete eine fĂŒr den Krippenausbau zustĂ€ndige FunktionĂ€rin, dass mit der GrĂŒndung der DDR „endlich auch im Leben der deutschen Frau die Wende eingetreten“ sei, „die fĂŒr die sowjetische Frau schon die Oktoberrevolution 1917 brachte“. Krippen galten ihr als unerlĂ€sslich, um „die Frau zu befreien, ihre Ungleichheit gegenĂŒber dem Manne [
] zu verringern und aus der Welt zu schaffen“. Bis heute wird die DDR-Kinderbetreuungspolitik aus unter dem Aspekt der Frauengleichstellung betrachtet. Aus dieser Perspektive gilt sie noch immer vielen als eine „Errungenschaft“ der DDR und geradezu vorbildlich (fĂŒr Westdeutschland).

Die Schattenseiten des DDR-Betreuungssystems fĂŒr Kinder zu thematisieren, ist noch immer schwierig. So wird Rosenberg unterstellt, dass er als Westdeutscher den Ostdeutschen erklĂ€ren wolle, dass „mit ihnen etwas nicht stimmt und die Krippen daran schuld sind“. Aber gerade darum geht es in seiner Forschung gar nicht. Vielmehr leistet er eine zeithistorische Dokumentation dessen, was man im DDR-Staatsapparat ĂŒber die Probleme der Kleinstkinder in Krippen wusste, aber öffentlich nicht sagen durfte.

Was aus den Krippenkindern wurde, welche Folgen ihre „beschĂ€digte Kindheit“, ist noch gar nicht Gegenstand seiner Aufarbeitung der DDR-Dokumente. Die medizinisch-psychologische Erforschung der Lebensschicksale von Wochenkrippenkindern steht noch ganz am Anfang. Erkenntnisse hierzu sind von dem Forschungsprojekt „Bindung und seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder“ zu erwarten, das 2022 an der UniversitĂ€tsklinik Rostock begonnen wurde. Der aktuelle Erkenntnisstand wird bei einem Symposium zur „wochenweisen Fremdbetreuung von SĂ€uglingen und Kleinkindern und ihrer Folgen“ am 21-23. April diskutiert werden. Es ist zu hoffen, dass diese verdienstvollen BemĂŒhungen zur AufklĂ€rung der systemischen Kindesmisshandlung im SED-Staat auch von den Medien beachtet werden, die in anderen FĂ€llen (zu Recht) mit Vehemenz „historische Aufarbeitung“ fordern.

Florian von Rosenberg: Die beschÀdigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen, C.H.-Beck 2022.

Quelle: IDAF Buch des Monats 1/2023
mail@i-daf.org

Dieser Beitrag wurde erstellt am Samstag 4. Februar 2023 um 14:03 und abgelegt unter Buchempfehlungen, Gesellschaft / Politik.