Die Wahrheitsfrage ist nicht zu verabschieden – Zur Relativierung von Wahrheit in Zeiten von Fake News und Cancel-Culture
Dienstag 24. Januar 2023 von Prof. Dr. Werner Thiede

Einst fragte schon Pilatus Jesus: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38). Das war damals freilich eine rhetorische Frage, ja geradezu eine abweisende Antwort – denn zuvor hatte Jesus zu ihm gesagt: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ Zu gläubig-aufgeschlossenem Hören ist völlige Taubheit allerdings nicht die Alternative – heiĂźt es doch bereits zu Beginn des JoÂhannesevangeliums, der in der Person Jesu auf dieser Welt erschienene logos erleuchte alle Menschen (1,9). Aus solch vorläuÂfiger Erleuchtung resultiert also zumindest ein Ahnen, eine bewusste oder unbewusste Sehnsucht nach tiefgreifender Wahrheit.
Kein Geringerer als der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant hat in seiner VerÂnunftÂkriÂtik dargelegt, dass die letzten Fragen, die metaphysische Ahnung, ja im Grunde die WahrÂheitsÂfrage schlechthin der menschlichen Vernunft selbst innewohnt, mithin keinesÂwegs etwas IrraÂtionales darstellt. Nur sind – das ist laut Kant die andere Seite der Medaille – die AntÂworÂten auf solch höchst legitimes Fragen hin noch nicht objektiv gegeben, so dass es in dieser HinÂsicht beim – freilich möglichst durchdachten – Glauben bleiben muss.
Inzwischen ist die postmoderne Relativierung von Wahrheit im Sinne eines gegebenen PluÂralismus von Teil- oder subjektiven Wahrheiten weithin kulturprägend geworÂden. Doch trägt sie einen grundsätzlichen, ja fatalen Denkfehler in sich: Sie beansprucht just die absolute Wahrheit ihrer Relativierungsthese. Damit erweist sich ihr Anschein völliger Toleranz bei näherem Hinsehen als trĂĽgerisch: Im Gegenteil entpuppt sich hier ein steiler, geÂradezu totaÂlitär anmutender Wahrheitsanspruch. Wer ihn infrage zu stellen wagt, muss gleichÂsam mit der Exkommunikation aus den gängigen Debattenzirkeln rechnen.
Namentlich in geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen hat sich längst eine Cancel CulÂture breit gemacht – und zwar auch in Theologie und Kirche. Unausgesprochene oder gar explizite Gesinnungsdiktate und steile WahrheitsansprĂĽche kennzeichnen immer mehr das Verhalten von Leitungsebenen, Gemeindezirkeln, Redaktionen und Akademien. So aber relaÂtiviert sich gesamtgesellschaftlich der Wahrheitspluralismus auf die Dauer selbst. Die FreiÂheitsforscherin Ulrike Ackermann erklärt in ihrem Buch „Die neue Schweige-Spirale“ (2022): In den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften hat sich ĂĽber die Jahrzehnte ein MainÂstream „etabliert, der abweichende Positionen und Meinungen an den Rand drängt oder moraÂlisch sanktioniert. Immer häufiger zählt nicht mehr das vorgetragene Argument… Und der Pluralismus, der die Vielfältigkeit der Perspektiven in Forschung und Lehre garantieren soll, schwindet rapide. Wenn heute von Diversität die Rede ist, geht es nicht mehr um die DiversiÂtät der Standpunkte, sondern um die Diversität der Herkunft, der Hautfarbe, des GeÂschlechts oder der Religion.“ Wobei zu ergänzen und zu präzisieren wäre: im Konkreten auch der KonÂfession oder der jeweiligen religiösen Zirkel…
Die Digitalisierung hat diese Entwicklung gefördert, indem sie namentlich im Bereich der Social Media immer mehr zu „(Filter‑)Blasen“ fĂĽhrt. Allenthalben nehmen die geistigen und politischen Ab- und Ausgrenzungen sichtlich zu. Die je eigene Wahrheit wird oft narzisstisch absolutgesetzt – und zwar derart, dass die Behauptung anderer oder gegenteiliger Wahrheiten geradezu als Verletzung empfunden und womöglich sanktioniert wird. Umgekehrt besteht dann stets die Versuchung, unliebsame Wahrheiten als Fake News abzutun. Ackermann beÂobachÂtet, dass im akademischen Betrieb „wie in anderen gesellschaftlichen Feldern eine sachlich-sachgerechte Auseinandersetzung zunehmend von Moral und Empörung ĂĽberlagert wird.“ Im Kleinen wie im GroĂźen nehmen mehr oder weniger kriegerische Gesinnungen weltweit zu. Man hält das pluralistische Nebeneinander von Wahrheiten eben doch kaum noch aus. Das Zeitalter der Postmoderne scheint sich dem Ende zuzuneigen.
Und das hat mit dem eingangs genannten Denkfehler der pluralistischen Wahrheitsthese zu tun: Wie bei einem nicht ganz richtig funktionierenden Automotor kommt man mit dem GeÂfährt vielleicht noch eine ganze Strecke weit, aber immer mehr zeigt sich sein Versagen. Die TĂĽcke der postmodernen Wahrheitsrelativierung erweist sich heute als schmerzlich zu erÂfahÂrende Realität: Ohne Wahrheit kann der Mensch nicht leben, und Wahrheit muss nun einmal wahr sein, also gelten, sich bewähren ĂĽber die jeweilige Subjektivität und ihren ErÂfahrungsÂbereich hinaus. Freilich kann und sollte man rationalisierend anerkennen, dass es ganz unterÂschiedliche WahrheitsansprĂĽche auf der Welt gibt und sie „demokratisch“ und tolerant im Nebeneinander bestehen können mĂĽssen – ja im Miteinander, insofern sich dem Philosophen JĂĽrgen Habermas zufolge Wahrheit erst erschlieĂźt in der Auseinandersetzungen mit „den vieÂlen Wahrheiten“. Gerade die christliche OffenÂbarungsreligion hat dies insofern anzuerkenÂnen, als ja die Offenbarung in Jesus Christus noch keine uniÂversale ist, die allgeÂmeine EinÂsicht und Zustimmung fordern könnte; vielmehr ist sie einstÂweilen auf Glauben, auf Vertrauen aus, bis am Ende der Zeit die wirklich universale OffenÂbarung des Gottesreiches allen ZweiÂfeln ein Ende setzen wird. Gleichwohl beansprucht die christliche Kirche ähnlich wie viele andere Religionen und Philosophien die Wahrheit, also Verlässlichkeit ihrer BotÂschaft, die allerdings im Sinne der göttlichen Liebe nicht nur eine Lehr-Wahrheit ist, sondern auf Jesu Wort setzt: „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14,6).
Die Annahme der Exklusivität der jeweils erkannten, behaupteten und beanspruchten WahrÂheit, also die Distanzierung von ihr widersprechenden Aussagen gehört eigentlich zu ihrer Natur. Das habe ich in meinem Buch „Die Wahrheit ist exklusiv“ dargelegt. Gleichwohl muss Wahrheit dialogisch zur Disposition gestellt und in ihrer Strittigkeit ausgehalten werden. Das aber funktioniert nur in der Hoffnung, dass sich die Wahrheit am Ende durchsetzen wird – sowohl im Kleinen der individuellen Lebenserfahrung als auch im GroĂźen, theologisch ausgeÂdrĂĽckt: im Endgericht und der universalen Offenbarung des dreiÂeinen Gottes. Wo es eine derÂartige Hoffnung nicht gibt, wo sie wenig oder keine Luft zum Atmen bekommt, dort ist mit Weisheit und Geduld kaum zu rechnen; denn da muss der ErÂweis der Wahrheit jetzt schon sichergestellt und gegebenenfalls womöglich erzwungen werÂden. Das Fehlen von Hoffnung macht intolerant.
Solcher Hoffnungsmangel ist aber die logische Implikation jeder nihilistischen WeltanÂschauÂung. Denn Nihilismus beruht auf der Negation letzter Wahrheiten – auĂźer eben der, dass diese Negation im Recht und wahr sei. Friedrich Nietzsche hat das begriffen und bis in den WahnÂsinn hinein zu durchdenken versucht; er beÂtrachtete den GottesgeÂdanÂken als „eine viel zu exÂtreme HypoÂthese“, die abzulöÂsen sei durch eine andere, nämlich umÂgekehrte: „die UmÂschafÂfung des TeuÂfels in Gott“. Jesus bezeichnete bekanntlich den Teufel als den „Vater der LĂĽge“ (Joh 8,44). Dem entspricht es, dass Nietzsche fordern konnte: „Wir mĂĽssen die LĂĽge, den Wahn und Glauben, die Ungerechtigkeit heiligen.“ Tatsächlich nahm er in Abwandlung gänÂgiger metaphysischer Denkmodelle im Urwesen aller Dinge etwas TäuÂschendes und NärÂriÂsches an; als GeÂschöpfe dieses göttlichen (Un-)Wesens hätten wir, wie Nietzsche folgert, irgendwie an seiÂnem betrĂĽÂgeÂriÂschen Grund-Willen AnÂteil, so dass wir uns am Ende sogar durchaus selber beÂtrĂĽgen wollÂen. Auf diese Weise hat er den Wahrheitsbegriff nachhaltig untergraben und explizit versucht, die LĂĽge in den Himmel zu heben.
Das Fatale am nihilistischen Denken ist freilich, dass es impliziert: Ob es zurecht Wahrheit beansprucht, wird es nie erfahren. Denn wenn der Tod alles verschlingt und es keine ewige Wahrheit gibt, bleibt am Ende entweder nur ein ewiger göttlich-teuflischer Wahnsinn ohne wirkliche Klarsicht ĂĽbrig – oder eben das absolute Nichts. Dabei muss es dem Nihilisten ja sogar gleichgĂĽltig sein, ob er die Wahrheit seiner Anschauung erfahren wird, weil er ohnehin an keine „letzte“ Wahrheit glaubt – die triste Wahrheit seines Nihilismus natĂĽrlich ausgeÂnomÂmen. In diesem Sinn kann es beispielsweise dem russischen Präsidenten Putin aufgrund seiner nihilistischen Orientierung egal sein, dass der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja im UN-SicherÂheitsÂrat angesichts des Kriegsbeginns auf die orthodox-religiöse ĂśberÂzeugung hinÂwies: „Es gibt kein Fegefeuer fĂĽr Kriegsverbrecher, sie kommen direkt in die Hölle.“
Ob nicht tatsächlich unbewusste Angst vor dem – auch theologisch extrem schwierigen – GeÂdanÂken einer ewigen Hölle die verborgene Basis fĂĽr die Weltanschauung so mancher NihilisÂten und Agnostiker darstellt? Könnte sich spätestens jenseits des Todes womöglich doch eine WahrÂheit offenbaren, an der die Ausrichtung des eigenen Lebens mehr oder weniger zerÂschelÂlen mĂĽsste? Philosophisch und theologisch ist das Rechnen mit einer letzten Wahrheit jedenÂfalls keineswegs unsinnig, sondern im Gegenteil sehr vernĂĽnftig. Denn ohne eine letzte, alles traÂgende metaphysische Wahrheit wäre inmitten unserer vergänglichen Welt Wahrheit kaum konsistent denkbar; ja ohne dass wir von Gott wahrgenommen wĂĽrden, wĂĽrde es uns gar nicht geben – so der katholische Philosoph Robert Spaemann.
Folglich kommt alles darauf an, dass diese letzte Wahrheit eine positive und eben keine nihiÂlistische ist. Theologie und Kirche haben hier – Gott sei Dank! – Evangelium, gute Nachricht ausÂzurichten. Diese befreiende und froh machende Botschaft verdient es, inmitten eines zerÂrĂĽtÂteten Wahrheitsrelativismus mit neuer Leuchtkraft ausformuliert und verkĂĽndigt zu werÂden. Nicht „liberale“ Anpassung an Schemata, die die Exklusivität von Wahrheit beÂstreiten, ist anÂgesagt, sondern die Affirmation der vorläufig noch nicht allgemein erkennbaren und doch absoluten Wahrheit ewiger göttlicher Liebe.
Prof. Dr. Werner Thiede
Erstveröffentlichung in: Die Tagespost Nr. 48 vom 1.12.2022, S. 25
Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Buchhinweis:
Werner Thiede: Die Wahrheit ist exklusiv. Gesammelte Aufsätze zum interreligiösen Dialog, 2022, 338 S., € 26, ISBN  978-3-754946-52-7


Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 24. Januar 2023 um 17:47 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche, Theologie.