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„Ich steh an deiner Krippe(n) hier …“ Zum Weihnachtslied von Paul Gerhardt[1]

Es gibt wenige Lieder, die mich so berühren wie „Ich steh an deiner Krippe hier …“ Advents- und Weihnachtslieder haben wir in der Christenheit ja recht viele und schöne, und bei den bekanntesten würden wohl „Stille Nacht …“ und „O du fröhliche …“ voranstehen. Für mich gehört dieses Lied zu den mir allerliebsten Weihnachtsliedern. Das hat neben dem ruhigen Gang der Melodie vor allem mit der Verbindung von Dichtkunst, theologischer Tiefe und persönlichem Bekennen zu tun – und es berührt. Gerne will ich mit Ihnen den Liedstrophen nachgehen und deren Aussagen erkunden. Zunächst aber kurz einige Informationen zum Lied.

Ich steh an deiner Krippe(n) hier … stammt von Paul Gerhardt (1607–1676), einem der grössten Dichter des evangelischen Kirchlieds. Es ist ab 1653 nachweisbar und findet sich in vielen Kirchengesangbüchern: Im Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz (RG), an dem wir uns orientieren, figuriert es unter der Nummer 402 und enthält 7 der ursprünglich insgesamt 15 Strophen (Originaltext 1653 in Wikipedia: Ich steh an deiner Krippen hier). Weiter findet sich das Lied im deutschen Evangelischen Gesangbuch (EG 37, 9 Strophen) sowie in Liederbüchern von Freikirchen und Gemeinschaften. Es ist auch in den römisch-katholischen Gesangbüchern der Schweiz (KG 333) und Deutschlands (GL 256) enthalten und wird also ökumenisch gesungen. Die beigegebene Melodie soll von Johann Sebastian Bach stammen (singbar ist das Lied auch zur Luthermelodie von RG 291).

Gerard van Honthorst (1592–1656), Adoration of the Child (ca. 1620), Uffizien-Gallerie, Florenz.

Ich steh an deiner Krippe hier … – die Strophen 1 und 2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Abfolge von Bildern, die uns jeden Tag locken, erfreuen, erschrecken und ermüden, ist gross. Dies alte Weihnachtslied fasst ein einziges Bildgeschehen in Worte, von dem alles Weitere ausgeht: Ich steh an deiner Krippe hier … Mit diesen Worten werde ich gleichsam an der Hand genommen, zum Kind in der Krippe und zum Bekennen des Glaubens geführt. Es kommt zum innig-vertrauten Zwiegespräch mit dem Heiland. Im Vordergrund steht nicht rechtes Denken und gutes Fühlen, sondern die Begegnung und heilvolle Verbindung mit dem, den ich als Jesu, du mein Leben anspreche. Das Sehen auf das Christkind öffnet den Blick auf das weitere Geschehen, dass Jesus Christus getan hat – auch für mich. Er ist der gekreuzigte und auferstandene Herr seiner Gemeinde. Im sprechenden und singenden Ich äusserst sich jedes selbst, zugleich wird das Ich zum Wir: Die der Erlösten sammelt sich singend um die Krippe. Zeiten werden dabei übersprungen beziehungsweise „überblendet“. Sehe ich mit den inneren Augen die Krippe und mich beim Christkind stehen und wird mir derart eine innige Verbindung mit Jesus Christus gewährt, spricht man von „Mystik“. Das Wort ist grie­chi­schen Ursprungs und bedeutet: „die Augen schliessen“. Das Schlies­sen der Au­­gen dient zum Freiwerden von äusseren Ablenkungen. Die geschlos­se­nen Augen helfen, die inneren Augen zu öffnen, um die göttliche Wahr­hei­­t zu schauen. Insofern ist dieses Weih­nachts­lied eine Sehschule des Glaubens.

Wir sind nicht die ersten, die an die Krippe treten. Die Zahl derer ist über die Jahrhunderte hinweg gross und reicht zurück bis zum Geschehen selbst: zur Mutter Maria und Joseph, ihrem Anvertrauten; zu den Hirten, die vom Felde und den Weisen, die aus der Ferne kamen. Wo eine Futterkrippe steht, sind auch Tiere da. Sie werden in der Weihnachtsgeschichte nicht erwähnt; beim Propheten Jesaja aber steht: „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn …“ (Jesaja 1,3). Dieses Prophetenwort war der Auslöser, dass auf vielen Bildern und bei Weihnachtsaufführen auch Ochs und Esel ihren Platz haben. Deren Futterkrippe ist freilich „belegt“: das Erlöserkind liegt darin; und es gereicht zur „Nahrung“ für alle Welt. Mit denen, die kommen in der Heiligen Nacht, aber auch mit Ochs und Esel, die schon da sind, stehen nun auch wir an jener Krippe und sagen, singen und bekennen: Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben …

Mit dem Stehen ist Hingabe verbunden: Kommen, Bringen, Schenken. Es ist dies Antwort auf Gottes Hingabe: Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Was haben wir, was wir nicht von ihm hätten? Ist er doch Schöpfer, Retter und Vollender des Lebens. Und dann bitte ich, dass er es annehmen möge, es ihm gefallen darf, wenn ich als von Ihm Beschenkter mein Leben ihm ausliefere: Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s wohl gefallen. Wir leben in einer Welt, die haben will, die fordert, die nimmt – hier tut sich eine Welt des Gebens auf: Wer von Gott beschenkt und von Christi Liebe genährt ist, vermag zu schenken. So wie die Weisen aus dem Morgenlande ihre Gaben vor das Kind legen, tut es mit dem Lob der Lippen der Betende und Singende. Gaben, Talente und Geschenke sind das eine; das Tiefste ist die Selbsthingabe – mit allem, was mich ausmacht an Freude und Not, an Licht und Dunkelheit, an Gaben und Grenzen. Die Selbsterniedrigung Gottes in der Mensch­werdung und die antwortende Selbsthingabe bekommen im Zeichen des Vorrangs der „Distanzhaltung“ und „Distanzierung“ in Corona-Zeiten einen beson­deren Akzent: Das Nahekommen Gottes auf Erden zur Erlösung ist unfassbar gross und lässt uns in staunendem Dank und Hingabe an Gott und die Menschen nahekommen!

Die innige Wechselseitigkeit von Gottes Schenken und mein Mich-ihm-Schenken als Antwort darauf setzt sich in der zweiten Liedstrophe fort. Innerlich beim neugeborenen Christuskind stehend verbinden sich die Gedanken und Worte nun mit der eigenen Geburt: Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren … Doppelsinnig werden leibliches und geistliches Geschehen verbunden. Jesu Geburt und davon ausgehend sein Heil sind Auslöser und Grundlage meines Heilwerdens, meiner von Gott her geschenkten Neugeburt. Dabei ist Jesu erwählendes und erlösendes „Zuvor“ (noch nicht – eh ich – eh ich – schon) betont und Grund dankbaren Staunens: … und hast mich dir zu Eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Es ist das Sehnen und Suchen des Liebenden, das schon vor meiner Zeit da war und mich gefunden hat. Die Worte lehnen sich an Psalm 139,16 an: „Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war …“ Bevor mein Herz zu schlagen anfing, bin ich von Gott gewollt und in seinem Herzen „gezeugt“ worden – unabhängig von meinen leiblichen Eltern. Im Lied singen wir es mit diesen Worten: Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.

Du warest meine Sonne … – die Strophen 3 und 4

  1. Ich lag in tiefster Todesnacht, / du warest meine Sonne, / die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben, Freud und Wonne. / O Sonne, die das werte Licht / des Glaubens in mir zugerich’, / wie schön sind deine Strahlen!
  2. Ich sehe dich mit Freuden an / und kann mich nicht satt sehen; / und weil ich nun nichts weiter kann, / bleibe ich anbetend stehen. / O dass mein Sinn ein Abgrund wär / und meine Seel ein weites Meer, / dass ich dich möchte fassen!

Die Christus-Sonne mit ihrem Leuchten und Strahlen ist das Leitmotiv der dritten Strophe. Ihr Licht erhellt die Dunkelheit des Stalls in der Heiligen Nacht. Sie sprengt auch die Finsternis von Tod und Grab. Weihnachten und Ostern finden im Lied zusammen, und die Sonne fand den Weg in meiner Schuldverfallenheit: Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne …  Der Heiland sucht und findet mich dort, wo niemand hinsieht und auch ich selbst nicht hinschauen will. Er nimmt sich meiner Sündennot an und macht mich heil. Wo Jesus Christus in mein Leben kommt, wird Leben geschenkt, hat Schönheit und Wärme sich niedergelassen. Die Erfahrungen dieser Welt mögen die Sonne immer wie­der eindunkeln und trüben, aber auszulöschen vermögen sie sie nicht. Die Begegnung der Liebenden führt zu diesen Worten: Ich sehe dich mit Freuden an / und kann mich nicht satt sehen … Und sie führt zum Stehen in Anbetung, das vom Stehen an der Krippe ausgeht (Strophe 1). Sie schliesst sich all denen an, die zuvor schon an der Krippe sich niedergebeugt (vgl. Matthäusevangelium 2,11) und danach das Übergrosse verkündet haben (vgl. Lukasevangelium 2,17). Den Ewigen und was er brachte zu fassen, ist der Wunsch: O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!

Gerhard Schöne, ein moderner Liederdichter, hat die Strophen 3 und 4 umgestellt und ihre Worte parodiert: „Ich sehe dich mit Zweifeln an / und will mich von dir wenden. / Das Geld, das ich dir geben kann, / klebt fest an meinen Händen. / ’ne kleine Spende bring ich dir, / dann ist ’s Gewissen still in mir, / und ich kann besser schlafen. // Ich lieg in tiefer Todesnacht. / Kein Traum will mehr gelingen. / Hab Tür und Fenster zugemacht. / Der Mund mag nicht mehr singen. / O Gott des Lebens, hol mich raus! / Brich ein in dieses tote Haus / und mach es hell darinnen.“ Manchmal entsprechen diese neuen Worte unserem Ergehen und Empfin­den mehr als die alten. Wenn wir die vom alten Gerhardt beten, bekennen und singen, ist es gut, auch um diese vom späteren Gerhard zu wissen und sie mit vor Gott zu bringen.

So lass mich doch dein Kripplein sein … – die Strophen 5 bis 7

  1. Du fragest nicht nach Lust der Welt, / noch nach des Leibes Freuden; / du hast dich bei uns eingestellt, / an unserer Statt zu leiden, / suchst meiner Seele Herrlichkeit / durch Elend und Armseligkeit; / das will ich dir nicht wehren.
  2. Eins aber, hoff ich, wirst du mir, / mein Heiland, nicht versagen: / dass ich dich möge für und für / in, bei und an mir tragen. / So lass mich doch dein Kripplein sein; / komm, komm und lege bei mir ein / dich und all deine Freuden.
  3. Zwar soll ich denken, wie gering / ich dich bewirten werde: / Du bist der Schöpfer aller Ding, / ich bin nur Staub und Erde; / doch bist du so ein lieber Gast, / dass du noch nie verschmähet hast / den, der dich gerne siehet.

In Strophe 5 geht es um Lust und Leiden, vor allem um das zweite. Es bündelt sich in der tiefen Wahrheit, dass der Heiland mir zugute am Kreuz gelitten und bezahlt hat – damit ich von der Schuld befreit, für das Leben frei und froh sein darf. Aus einem Nazi-Konzentrationslager wird folgende Begebenheit berichtet: „Morgens mussten die Männer zum Appell antreten. Irgendeine unglückliche Sache war passiert. Darauf aber folgte eine heftige Strafaktion. Jeder Zehnte musste vortreten und wurde erschossen. Einfach nur so, ohne Beschuldigung oder Verteidigung! Willkür der Macht, die sklavischen Gehorsam erzwingen will. Natürlich zählten alle heimlich vor. Voller Schrecken durchfuhr es einen von ihnen: ,Ich bin der Zehnte!‘ Näher und näher kamen die Stimmen der Zählenden. Da tauschte sein Nachbar in einem unbeobachteten Moment mit ihm die Plätze: .Lass mich, du hast noch Kinder und eine Frau‘, flüsterte er leise, ehe der andere abwehren konnte. Er ging in den Tod an seiner Statt! Niemals würde er diesen Menschen vergessen.“ (Gremels, Leuchtfeuer, 97). Jesus hat sich für mich „ausgetauscht“ – nur dass mein Tod nicht willkürlich, sondern aufgrund meines Lebens vor Gottes himmlischem Gericht rechtens wäre. Lass es mich tun! sagte Jesus auf Golgatha, und er sagt es dir und mir: Ich habe es aus Liebe für dich getan!

Mit dem Stehen an der Krippe hatte das Lied begonnen. Wer den Liedweg mitgegangen ist, kommt am Ende in den Strophen 6 und 7 beim Wunsch an, dass mein Leben zur „Krippe“ und zum bescheidenen Herbergsort für den Heiland in dieser Welt werden darf. Selbstverständlich ist es ja keineswegs, dass der heilige Gott, der Auferstandene durch seinen Geist in meiner Bedürftigkeit und Hinfälligkeit heimisch werden will. Doch er hat es zugesagt, und so ist es gewiss, dass er als ein lieber Gast keinen verschmäht, der ihm die Tür öffnet – gemäss dem letzten Buch der Heiligen Schrift, wo der Auferstanden sich mit diesen Worten an die Gemeinde richtet: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.“ (Offenbarung 3,20) Zwar bin ich nur Staub und Erde bzw. werde einmal mein irdisches Kleid ablegen (vgl. Psalm 90). Doch der Ewige möge in dieser Erdenzeit nicht ein lieber Gast sein, der sich wieder verabschiedet. Vielmehr möchte ich ihn für und für in, bei und an mir tragen – bis ich einmal in Ewigkeit bei ihm nicht nur Gast, sondern zuhause sein werde.

Dr. Beat Weber, Trouvaille Nr. 25, Evangelische Stadtmission Basel 2020 (vgl. https://www.stadtmissionbasel.com/trouvaillen [1])

[1] Den Ausführungen zugrunde liegt eine in der Kirchgemeinde Linden (BE) an Weihnachten 2007 gehaltene Predigt (anlässlich des 400. Geburtstags des Pfarrers und Liederdichters Paul Gerhardt).

Literatur und Links:

(Hinweise verdanke ich auch meinem Kollegen und profunden Kenner des Kirchenlieds Pfr. Dr. theol. h.c. Hans-Jürg Stefan).