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Die moderne Jesusforschung und die Folgen für die Kirche

Schon 1957 hat der Neutestamentler Günther Bornkamm auf dem Kirchentag in Essen einen Vortrag zum Thema „Gotteswort und Menschenwort im Neuen Testament“ gehalten, in dem er die Fragen aufnahm, die Bibelleser und Theologen beschäftigen: „Was ist in der Bibel Gotteswort und was ist nur Menschenwort? Was ist ewig, verbindlich und gültig, und was geht uns als vergangenes Menschenwort nichts mehr an? Wo fängt das eine an und hört das andere auf? Was muss man glauben, und was darf man getrost als überholt und vergangen preisgeben?“ In der neueren theologischen Forschung haben diese Fragen zu dramatischen Auseinandersetzungen um die historische Bibelkritik geführt. Um die gegenwärtige Diskussion, die ja auf allen kirchlichen Ebenen geführt wird, zu verstehen, müssen wir uns ein wenig mit der modernen Jesusforschung beschäftigen.

I. Ergebnisse der modernen Jesusforschung

In der theologischen Forschung spricht man inzwischen von der dritten Suche nach dem historischen Jesus. Da sich die Forschung in den letzten Jahren von Europa nach Nordamerika verlagert hat, heißt der Fachausdruck ‚the third quest‘. Die erste Suche begann im 18. Jahrhundert, als Theologen anfingen, hinter dem ‚biblischen Christus‘ den ‚historischen Jesus‘ zu suchen. Die zweite Suche ist durch Namen wie Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann gekennzeichnet. Für uns wichtig und aufschlussreich ist die dritte Suche, die gegenwärtig, wie schon gesagt, vor allem von Nordamerika ausgeht, aber inzwischen auch in unsere Hochschulen Eingang gefunden hat. Was sich da zusammenbraut, ist beängsti­gend. Einer der deutschen Vertreter der neuen Bibelkritik ist Klaus-Peter Jörns. In seinem Buch ‚Notwendige Abschiede‘ schreibt er: „Inzwischen kommen wir nicht mehr an der Einsicht vorbei, dass viele Glaubensvorstellungen unglaubwürdig geworden sind, obwohl sie sich aus der Bibel herleiten lassen (S.13). …Vor allem aber verlangt die Situation, dass das Christentum sich selbst als Religion wie jede andere sehen lernt“ (S.15). Das hat Konsequenzen. U. a. seien im Verständnis des Jesus von Nazareth eingreifende Revisionen überfällig, meint Matthias Kroeger in seinem Buch ‚Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche‘. „Das ‚Christus alleine‘, das ’solus Christus‘ ist nicht nur sozial unakzeptabel geworden, es ist vielmehr vor allem religiös und theologisch unwahr geworden und muss daher aufgegeben werden. Dies hat die Theologie m. E. zu begreifen und durchzuführen“ (S. 134/135).

Damit sind wir mitten in der ‚third quest‘. Ein typischer Vertreter der dritten Suche ist das sog. Jesus-Seminar. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Darstellung von Wolfgang Stegemann in seinem Buch ‚Jesus und seine Zeit‘ (2010). Das Jesus­-Seminar wurde 1979 in Nordamerika gegründet und besteht aus etwa 50 Neutestamentlern. Die Gruppe traf sich zwei Mal jährlich, tauschte dazwischen schriftlich ihre Forschungsergebnisse aus, um am Ende über die Frage der historischen Authentizität der Worte und Taten Jesu, wie sie uns in den Evangelien berichtet werden, abzustimmen. U.a. hat das Jesus-Seminar sich dafür entschieden, alle Worte Jesu am Kreuz für nachträgliche Deutungen zu halten, da sie sich meistens auf alttestamentliche Texte zurückführen lassen. Die Gruppe hält in den von ihr so genannten fünf Evangelien (Mt, Mk, Lk, Joh und zusätzlich das Thomasevangelium) nur 18% aller Jesus zugeschriebenen Aussprüche für authentisch (S. 119). Dabei hat sie das Johannesevangelium völlig ausgeschieden. Im Markusevangelium findet das Jesus-Seminar nur einen Satz, der für jesuanisch gehalten wird, nämlich Mk 12,17: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Von den 39 Gleichnissen, die in den Evangelien Jesus zugeschrieben werden, halten die Mitglieder des Jesus-Seminars nur 5 für authentisch. Wie nicht anders zu erwarten, sind, nach Meinung der Gruppe, auch alle Geburtsgeschichten Jesu erfunden – mit Ausnahme des Namens der Mutter Jesu: Maria! Folgerichtig wird dann auch keine der Wundergeschichten als authentisch angesehen. Ebenso werden der Einzug Jesu in Jerusalem und alle Beschreibungen des Prozesses Jesu als nicht authentisch verstanden. So wundert es nicht, dass auch die Auferstehungsgeschichten unter diese Beurteilung eingeordnet werden.

Die so auf die Spitze getriebene historische Bibelkritik sorgte in der amerikanischen Öffentlichkeit verständlicherweise für große Aufregung, fand aber in der Folgezeit auch in Europa Eingang in die theologische Forschung.

Man sucht jetzt nach dem „Mann aus Nazareth, der auf den Hügeln Galiläas wanderte, weil man den Gottessohn der Evangelien, der über den galiläischen See wandelte, verloren hat und beide nicht mehr zusammenbringt“ (S. 397). Es geht um die sog. ‚Zweinaturenlehre‘, wie sie im Konzil von Chalcedon 451 festgelegt wurde, wonach Christus zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott ist. Ein Gedanke, der mit den heutigen Standards von Wissenschaftlichkeit und Rationalität unvereinbar erscheint. Die radikalste Konsequenz daraus zieht der amerikanische Neutestamentler und Mitbegründer des oben genannten Jesus­-Seminars Robert W. Funk, wenn er in seinen 21 programmatischen Thesen schreibt: „Wir sollten Jesus degradieren. Es ist nicht länger glaubwürdig, Jesus als göttlich zu denken. …Ein Jesus, der aus dem Himmel herabkommt, einige magische Handlungen vollzieht, um die Menschen von der Macht der Sünde zu befreien, der von den Toten aufersteht und in den Himmel zurückkehrt, ist nicht länger glaubwürdig. Ebenso unglaubwürdig ist die Vorstellung, dass er am Ende der Zeit zurückkehren und über die Welt zu Gericht sitzen wird“ (S.400). Ein weiterer Vertreter dieser theologischen Richtung ist der Frankfurter Neutestamentler Werner Zager. Für ihn sind „sämtliche christologische Aussagen des Credos – angefangen bei der Präexistenz und Jungfrauengeburt über Sühnetod am Kreuz und leibliche Auferstehung, bis hin zum Kommen Jesu zum Weltgericht – nicht mehr vertretbar“ (S.402).

II. Was bleibt für die Predigt?

Nicht mehr vertretbar, nicht länger glaubwürdig, unauthentisch, nicht mehr zu halten – die so über viele biblische Erzählungen und dogmatische Glaubens­wahrheiten urteilen, sind nicht Atheisten und Kirchengegner, sondern Theologen, die Lehrstühle an Universitäten und theologischen Hochschulen innehaben. Die Frage drängt sich auf, wie sie überhaupt noch mit biblischen Texten arbeiten, sie zum Inhalt und zur Grundlage ihres Berufes machen können. Wie z. B. Prof. Dr. theol. Klaus-Peter Jörns, der nach zehnjähriger Tätigkeit als Gemeindepfarrer und anschließender Tätigkeit als Professor am Predigerseminar in Herborn von 1981 – 1999 Professor für Praktische Theologie in Berlin lehrte. Er schreibt in seinem Buch ‚Notwendige Abschiede‘: „Das ‚leere Grab‘ ist also die erzählerische und literarische Konsequenz aus der Vorstellung von der Himmelfahrt Jesu Christi, aber keine physikalische Realität gewesen“ (S. 134). Oder Professor Dr. Matthias Kroeger, der Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Hamburg lehrte. Er schreibt in seinem Buch ‚Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche‘: „Nicht alle Götter, die unter dem ‚Einen‘ Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sind, müssen Götzen sein; sie können auch andere Namen und Gestalten desselben Einen Göttlichen darstellen: Allah, Lord Shiva, das Dao“ (S. 137). Wer die Bibel durch die Brille der Aufklärung und nach heutigen Standards von Wissenschaftlichkeit und Rationalität liest, der findet in ihr ein Sammelsurium unterschiedlichster Schriften mit teils historischem, teils mythischem Hintergrund und kann daran gehen, unter Zuhilfenahme einschlägiger Methoden und Modelle aus anderen Fachgebieten „ein glaubwürdiges“ Jesusbild zu entwerfen. Das Ergebnis ist in der Regel ein von allen wunderhaften und daher „unauthen­tischen“ Attributen gereinigter‘ historischer Jesus, der weder auferstanden noch gegenwärtig ist und deswegen auch niemandem etwas nützt.

Wenn die Studenten dieser Professoren später eine Pfarrstelle übernehmen – was sollen sie predigen? Dass die Auferstehung ein Mythos ist und das Grab gar nicht leer war? Dass die meisten Herrenworte – auch die Gleichnisse – Gemeinde­bildung sind und nicht von Jesus stammen? Viele weichen dann aus, engagieren sich für Klimagerechtigkeit und Umweltbewusstsein, für sparsamen Umgang mit den Rohstoffen der Erde und Artenschutz. Die Folgen sind katastrophal. Z. Zt. erleben wir die größte Austrittswelle aus den christlichen Kirchen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind unterschiedlich. Ein wichtiger Grund ist sicher, dass in vielen Predigten nicht das Evangelium verkündigt wird, sondern Gedanken darüber, wie man die Welt verbessern könnte und sollte. Wie es z. B. Margot Käßmann in ihrem Buch ‚mehr als ja und amen doch, wir können die Welt verbessern‘ ausführt.

III. Das Wagnis des Glaubens

Für uns bleibt die Frage: Wie soll man nun die Bibel lesen? Wie finden wir das heraus, was noch gültig ist? Gilt überhaupt noch etwas so, wie es dasteht? Im Jesusseminar hat man dann abgestimmt. Die Mehrheit entschied, was wahr ist und was nicht. Das kann aber doch wohl nicht die Lösung sein, dass die Wahrheit eine Frage der Mehrheit ist. Wenn Jesus sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), sollen wir dann darüber abstimmen, ob er die Wahrheit sagt? Und ob er das überhaupt gesagt hat?

Es gibt – Gott sei Dank – noch eine andere Möglichkeit, das herauszufinden: Das Wagnis des Glaubens. Mit die Ersten die dieses Wagnis eingingen, waren die Jünger Jesu. Die Zweifel gibt es ja nicht erst seit der Aufklärung, wie uns das die moderne Theologie vermitteln möchte. Die Jünger sind einem mittellosen Wanderprediger nachgefolgt und haben ihm geglaubt, dass er der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes ist (Mt 16,16; Joh 6,69). Sie ließen sich durch die Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich und ihnen beweisen wollten, dass dieser Mann aus Nazareth gar nicht der Messias sein kann, nicht von ihrem Glauben abbringen. Für die Jünger blieb er der Christus, der von Gott Gesandte, wie für die vielen anderen, die an ihn glaubten und denen er geholfen hat: Der Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,10), der Gelähmte und seine Freunde (Mk 2,5) und die blutflüssige Frau (Mt 9,22), die beiden Blinden (Mt 9,29), die kanaanäische Frau (Mt 15,28) und viele andere. Sie trauten Jesus zu, dass er ihnen helfen konnte. Sie hatten von Jesus gehört und machten sich auf den Weg zu ihm oder sprachen ihn an, als er vorbeikam.

Die Situation hat sich im Grunde nicht verändert: Auch wir haben von Jesus gehört und die Berichte der Evangelisten gelesen, wir wissen, was er gesagt und getan hat, wie er die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft (Mt 11,28), wir kennen seinen Auftrag: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“ (Mt 9,13) und seine Verheißung „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Und da gibt es auch bei uns wieder die ‚Schriftgelehrten‘, die sich auskennen in den heiligen Schriften. Damals wie heute erwecken sie den Eindruck, mit ihrem theologischen Wissen auf der Höhe der Zeit zu sein. Damals sprachen sie im Blick auf Jesus von Gotteslästerung (Mt 26,65) und Volksverführung (Mt 27,63), heute vom „fälligen Ruck in den Köpfen der Kirche“ (M. Kroeger), von „notwendigen Abschieden“ (K-P. Jörns) und von der „Degradierung Jesu“. Sie wollen den „historischen Jesus“ vorführen, so wie Pilatus damals den gefolterten Jesus vorführte: „Seht, welch ein Mensch!“ (Joh 19,5). Dem gegenüber stand und steht das Zeugnis des Glaubens: Das Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz Jesu „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ (Mt 27,55) und des Jüngers Thomas vor dem Auferstandenen „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28). Der Jesus, den wir aus dem neuen Testament kennen, hat den Menschen geholfen, die etwas von ihm erwartet haben. Damals sind sie ihm auf der Straße begegnet. Heute brauchen wir dazu die Heilige Schrift. Sie öffnet sich denen, die sich aus ihrem Wort Trost und Hilfe erhoffen. Wer in dieser Absicht die Bibel aufschlägt, der sucht nicht nach dem ‚historischen Jesus‘ hinter dem ‚biblischen Christus‘, sondern er sucht Hilfe und Trost bei dem, der die Verfolgten seligpreist (Mt 5,10) und die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft (Mt 11,28). Er will den kennenlernen, der gekommen ist zu suchen und selig zu machen, was verloren ist (Lk 19,10) und der allein als von Gott Gesandter Worte des ewigen Lebens für uns hat (Joh 6,68). Wer so an die Heilige Schrift herangeht, der stößt sich nicht an überholten Speisegeboten, denn er liest die Bibel mit der Hilfe des Heiligen Geistes, von dem Jesus sagt, dass er uns alles lehren und uns an alles erinnern wird, was er uns gesagt hat (Joh 14,26).

In der Vorrede zum 1. Band der Wittenberger Ausgabe seiner Schriften gibt Martin Luther den Rat, wie wir die Heilige Schrift lesen sollen: „Knie nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen Heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe.“ Wer die Bibel liest, um die wirkliche, lebendige Begegnung mit Gott in seinem Wort zu finden, für den wird die Bibel – wie Martin Luther einmal sagt – „zu einem Buch, das aller anderen Bücher Weisheit zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt außer diesem.“ Im Wort der Heiligen Schrift begegnet uns der Auferstandene nach seiner Verheißung: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20).

Quelle: Arbeitsgemeinschaft Lebendige Gemeinde München, Informationsbrief 2022-3
www.lgm-info.de