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Leserbrief zur demographischen Entwicklung in Deutschland an die F.A.Z.

In der F.A.Z. häufen sich die Berichte über den zunehmenden Mangel an Arbeitskräften in unserem Land (26.7.22 „Deutschland sieht alt aus“; 3.8.22 „Jedem zweiten Betrieb fehlt Personal“; 5.8.22 „Transformation braucht Arbeitskräfte“; 17.9.22 „Die große Personalnot“). Der Blick dieser Texte in die demographische Zukunft zeigt düstere bis katastrophale Perspektiven. „Es rücken viel weniger junge Menschen nach“ (17.9.). „Die heutigen Fachkräfteengpässe sind allerdings ein laues Lüftchen, verglichen mit der Orkanfront, die der demographische Wandel nun durch den Übergang der Babyboomer in den Ruhestand in den hiesigen Arbeitsmarkt treibt“ (5.8.), „Es scheiden in Deutschland pro Jahr bis zu 400 000 mehr Menschen altersbedingt aus dem Erwerbsleben aus, als neue aus der Schule dazukommen“ (3.8.).

All die Artikel, die sich dankenswerterweise mit diesem auf uns zukommenden Riesenproblem beschäftigen, sind voller kluger Gedanken („Gezieltes Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland“, „Stärkung der MINT-Schulbildung“ – also der Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, „Stärkere Anreize für die Erwerbstätigkeit beider Elternteile“). Auch die Politik ist nicht untätig. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom März 2020 soll der Anreiz für qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland, nach Deutschland zu kommen, erhöht werden.

Ich frage mich allerdings, wie erfolgversprechend die vorgetragenen Konzepte sind. Sollte es wirklich unsere vorrangige Aufgabe sein, qualifizierte Fachkräfte aus den Entwicklungs- und Schwellenländern anzuwerben, die wahrscheinlich zum Aufbau der dortigen Infrastrukturen mindestens ebenso dringend benötigt werden? Ist es wirklich ein sinnvolles Ziel, noch mehr Frauen in die Vollerwerbstätigkeit hineinzuführen und damit noch mehr Kindern elterliche bzw. mütterliche Geborgenheitserfahrungen wegzunehmen? Ist es wirklich realistisch, angesichts des Lehrermangels und des allgemein abnehmenden Leistungspegels gerade in den unteren Klassen auf eine bessere MINT-Qualifikation zu hoffen?

Wäre es nicht naheliegender, das demographische Problem an der Wurzel anzupacken und eine nachwuchsfreundlichere Einstellung in unserer Gesellschaft zu fördern? Die demographische Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde von uns selber verursacht. Wir selbst leisten uns den zweifelhaften Luxus, mit öffentlichen Mitteln Jahr für Jahr mindestens 100 000 menschliche Leben im Mutterleib auszulöschen. Hier sollte eine zukunftsorientierte Familienpolitik ansetzen und eine neue Willkommenskultur für das Kind aufbauen. Ich staune darüber, dass in den erwähnten klugen Artikeln diese naheliegende Schlussfolgerung aus dem Arbeitskräftemangel nicht diskutiert, ja überhaupt nicht gesehen wird. Die Zukunft unserer Gesellschaft hängt nicht in erster Linie von den Zuwanderern ab, sondern von uns selbst.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius, Walsrode

(Der Leserbrief wurde am 24. September 2022 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht)