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Kinderbetreuung – Vater Staat verdrängt die Eltern

Kinderbetreuung – Vater Staat verdrängt die Eltern

Zitat der Woche 25-2009

Bildung in der Familie

Kinder brauchen Elternzeit, um sich und insbesondere ihre Kompetenzen von einer sicheren emotionalen Basis aus entwickeln zu können. Umgekehrt weisen neue Perspektiven in der Entwicklungspsychologie auf den Stellenwert der gegenseitigen Beeinflussungsprozesse zwischen Kindern und Eltern hin […] – Sozialisationsprozesse verlaufen also auch von den Kindern hin zu den Eltern. Die Bedeutung dieser retroaktiven Sozialisation wiederum steigt in einer Kultur des raschen Wandels […]. Familie spielt über die Grundlegung basaler Kompetenzen für die Lebensbewältigung hinweg eine zentrale Rolle für die Vermittlung und Aneignung von Bildung. Im Rahmen der alltäglichen Lebensführung werden bildungsbezogene Gelegenheiten geboten, die Bildungsprozesse der Familienmitglieder anstoßen und fördern. Eltern übernehmen explizit oder implizit Bildungsleistungen, die für die einzelnen Familienmitglieder und deren kulturelle Teilhabe und soziale Anschlussfähigkeit ebenso von Bedeutung sind wie für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Gesellschaft […]. Familien brauchen Zeit, um die für die gesellschaftliche Entwicklung und Integration notwendigen familialen Leistungen erbringen zu können. Dieser Sachverhalt wurde lange Zeit nicht wahrgenommen und daher Familie als quasi natürliche Ressource verstanden.

Andreas Lange: Einblicke in die Zeitverwendung von Kindern und ihren Eltern, S. 137-157, in: Martina Heitkötter et al (Hrsg.): Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien, Opladen 2009, S. 141.

Nachricht der Woche 25-2009

Kinderbetreuung – Vater Staat verdrängt die Eltern

Fast alle Kinder besuchen heute vor ihrer Einschulung einen Kindergarten (1). Kindergärten haben in Deutschland eine bis auf den Reformpädagogen Friedrich Fröbel (1782-1852) zurückreichende Tradition. Sie waren im 19. Jahrhundert eine Antwort auf die „Kinderbewahranstalten“, in denen Kleinkinder versorgt, gepflegt und beschäftigt wurden, während die Mutter in der Fabrik arbeitete. Im Gegensatz zu den „Kinderbewahranstalten“ sollten die Kindergärten nicht bloß der Verwahrlosung vorbeugen, sondern auch die Bildungspotentiale der Kinder entwickeln helfen. Dabei sollten sie nicht nur die kognitive Entwicklung fördern, sondern auch die „Natur“ des Kindes achten und die Erziehungskraft der Familie stärken. Fröbel sah den Kindergarten als eine die Familie ergänzende Bildungsinstitution an, die auf der Säuglingspflege und Kleinkindererziehung durch die Eltern bzw. Mütter aufbaute (2).

In der historischen Entwicklung blieb die Tradition der „Kinderbewahranstalten“ weiter prägend: Im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 wurde der Kindergarten – im Gegensatz zur „école maternelle“ in Frankreich – nicht als Vor-Stufe der Volksschule dem Bildungswesen, sondern der Sozialfürsorge zugeordnet. Mit dem Ausbau des Kindergartenwesens in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren wandelte sich der Kindergarten von einem „Notbehelf“ für erwerbstätige Mütter zu einer allgemein anerkannten, die familiäre Erziehung ergänzenden Institution (3). Der Kindergarten wurde als wichtiger Ort des sozialen Lernens angesehen – die vorschulische Bildung blieb dagegen eher unterbelichtet. Dass Vorschulkinder primär von ihren Eltern bzw. Müttern erzogen wurden, blieb in Westdeutschland selbstverständlich. Noch Ende der 80er Jahre war die öffentliche Kinderbetreuung „allenfalls eine mehr oder minder punktuelle Ergänzung der privaten Erziehung“ (4). Die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, d. h. insbesondere die Kindertagestätten, sollten, so sah es das 1990 beschlossene Kinder- und Jugendhilferecht (Sozialgesetzbuch VIII) vor, die Eltern darin unterstützen, ihre Kinder zu „einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu erziehen. Ein eigenständiger staatlicher Erziehungsauftrag war nicht vorgesehen. Die Erziehungsaufgabe war Sache der Eltern (5).

Dieses hergebrachte, „altbundesrepublikanische“ Verständnis von Kinder- und Jugendhilfe gilt in politisch-medialen Kreisen heute als überholt: Nach dem 2008 verabschiedeten „Kinderförderungsgesetz“ „ist ein Kind, das das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, in einer Kindertageseinrichtung oder in Tagespflege zu fördern, wenn diese Leistung für seine Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit geboten ist“. Begründet wird dies mit dem Anspruch des Kindes auf „frühkindliche Förderung“, für die eine außerfamiliäre Betreuung schon im Kleinkindalter als notwendig angesehen wird. Nach dem dritten Lebensjahr sollen Kinder nicht mehr wie bisher in Westdeutschland üblich halbtags, sondern möglichst ganztätig Kindertagesstätten besuchen (6). Denn nur so könnten Kinder „optimal“ gefördert werden. Unbeachtet bleibt, dass Kindertagesstätten dem Anspruch Kinder zu „bilden“ gegenwärtig häufig nicht genügen. Für die Zukunft wird hier „mehr Qualität“ versprochen. Man glaubt wohl, dass Eltern die notwendige „Qualität“ der Kindererziehung nicht bieten könnten (7). Deshalb soll die institutionelle Kinderbetreuung künftig die elterliche Erziehung weitgehend ersetzen: Eltern dürfen dann noch durch „Zuwendung und Fürsorge“ in der „Qualitätszeit“ die „Bildung und Förderung“ in Kindertagestätten unterstützen (8). Dies ist zweifellos ein Paradigmenwechsel: Nicht nur die Philosophie des Kinder- und Jugendhilferechts der Bundesrepublik, sondern auch die Fröbel folgende Pädagogik wird auf den Kopf gestellt.

Anmerkungen

(1) Die Analyse von Schuleingangsuntersuchungen zeigt, dass nur noch etwa 1-3 Prozent der Kinder keine Kindertageseinrichtung besuchen. Siehe hierzu: http://www.i-daf.org/134-0-Woche-11-2009.html [1]..

(2) Informativ hierzu: Konrad, Franz Michael: Der Kindergarten. Seine Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, Freiburg im Breisgau 2004.

(3) Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): OECD Early Childhood Policy Review 2002-2004, Hintergrundbericht Deutschland, Fassung vom 22.11.2004, Berlin 2004, S. 35-37.

(4) Siehe: Thomas Rauschenbach: Neue Orte für Familien. Institutionelle Entwicklungslinien Eltern- und Kinder fördernder Angebote, S. 133-155, Klaus Peter Strohmeier: Familien und Familienpolitik im Sozialraum, S. 107-129, in: Familie im Zentrum: Kinderfördernde und Elternunterstützende Einrichtungen – aktuelle Entwicklungslinien und Herausforderungen, Wiesbaden 2008, S. 134-135. Siehe hierzu auch: http://www.i-daf.org/105-0-Woche-49-2008.html sowie zur gegensätzlichen Entwicklung in der DDR: Zum http://www.i-daf.org/129-0-Woche-9-2009.html.

(5) Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): OECD Early Childhood Policy Review 2002-2004, op. cit. S. 27.

(6) Siehe: Gesetz zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz – Kifög), § 24, Bonn 10. Dezember 2008.

(7) Kinder würden – so heißt es – „in Familien und Herkunftsmilieus nicht mehr in der Selbstverständlichkeit mit den Ressourcen ausgestattet – jedenfalls im Schnitt gesprochen bzw. für die große Mehrheit der Kinder – die moderne Gesellschaften benötigen, um den Anforderungen an die individuelle Selbstregulierung gerecht zu werden“. Siehe: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin Februar 2006, S. 89-90. In diesem Sinne hat der zuständige Referatsleiter im Bundesfamilienministerium, Prof. Reinhard Wiesner, bei den „Essener Gesprächen zum Verhältnis von Staat und Kirche“ 2008 das Kinderförderungsgesetz begründet: Für die „überwiegende Zahl der Eltern“, so Wiesner weiter, „stellt die frühe Förderung eine wertvolle Ergänzung der Bildung und Erziehung in der Familie dar. Bei den Kindern, die von ihren Eltern nicht die notwendige Förderung erhalten, sichert eine frühe Förderung die Basisbedürfnisse“. Siehe: http://www.kinderrechte-infos.de/?p=47.

(8) Anders als immer wieder behauptet werden mit der „Krippenoffensive“ nicht für ein Drittel sondern für etwa zwei Drittel der Kinder ab dem zweiten Lebensjahr Betreuungsplätze geschaffen. Die außerhäusliche Betreuung von Kleinkindern soll also künftig die Regel sein: Siehe hierzu:
http://www.i-daf.org/43-0-Woche-19-2008.html.