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Prof. Manfred Seitz 2003: Grundgedanken zur Einschätzung der Lage

Aus:

Landau, Rudolf / Seitz, Manfred (Hg.): Theologie für die Kirche. Beiträge zum christlichen Glauben, Leben und Handeln, Stuttgart: Calwer Verlag 2003, S. 74–77.

Einige Grundgedanken zur Einschätzung der Lage

„… ‚ auf die hin die kirchliche Arbeit in den nächsten Jahren entworfen werden muss. Sie dienen dem Dialog, „der mit den Mächten der Zeit vom urchristlichen Parusiegeheimnis (Wiederkunft des Herrn) her geführt wird“ (Paul Schütz).

I. Die Menschheit in der Säkularität

Es ist unmöglich, in unserem Rahmen ein genügendes Bild von ihr zu entwerfen. Es ist vielleicht auch gar nicht nötig für den, der mit jenem das Innerste aufwühlenden Erbarmen Jesu (Mt 9,36) die Orientierungslosigkeit der Menschen sieht, die Vergötzung der Dinge, den Glauben an sich selbst und das Verfallen an neue Heilslehren. Will man aber die Arbeit der Kirche planen, ist es erforderlich, den Blick zu schärfen und einige Merkmale der Welt in der Säkularität aufzuzeigen.

  1. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten vermutlich das Fortschreiten einer begonnenen gesellschaftlichen Veränderung miterleben. Wir werden Zeugen und Mitbetroffene einer geistigen Revolution umfassenden Ausmaßes sein. Spiel und Arbeit gehen ineinander über. Der Aushöhlungsprozess traditioneller Werte vollendet sich. An die Stelle bisheriger Bindungen wie Familie, Sitte, Pflichtbewusstsein, Arbeitswille, Triebverzicht treten neue Maßstäbe und Normen: Selbstverwirklichung, Konsumdenken, bewusstes Außenseitertum mit nihilistischen und anarchistischen Anschauungen; treten aber auch bewusste Übernahme von Verantwortung und intensivere, vor allem psychologische Reflexion zwischenmenschlicher Beziehungen.
  1. Im Zusammenhang damit verändert sich in eingreifender Weise das menschliche Bewusstsein. Mit einem Wort kann sie dahingehend zusammengefasst werden, dass sich der Mensch von überkommenen Ordnungen, Denkschemata und Verhaltensweisen löst und an die Dinge unvoreingenommener herantritt; jedenfalls nicht so, wie er es gelernt hat. Er tut es, wie man jetzt schon bemerken kann, mit einem daherschießenden Selbstbewusstsein, hinter dem sich bei genauerer Betrachtung eine große Labilität verbirgt.
  1. Ein weiteres Kennzeichen dieser Welt, in der wir leben, ist ihre Mobilität. Und zwar zunächst eine äußere, an die wir uns bereits zu gewöhnen beginnen. In wenigen Stunden vermögen wir heute Entfernungen zu durchmessen, die früher eine Zeitspanne von Monaten und Jahren erforderten. Die Welt, der Erdball schrumpft zusammen und wird zur Provinz. Es wird also in Zukunft provinzielles Denken im Weltmaßstab geben. Wir müssen uns aber auch auf eine innere Mobilität einstellen, die wir bereits mit der Umwertung aller Werte angedeutet haben. Derartige Veränderungen sind Zeichen eines Aufbruchs – und zwar eines Aufbruchs in eine bedrohliche Zukunft hinein. Es ist deshalb keineswegs verwunderlich, wenn man bei allem Desinteresse Kirche und Christen doch hier und da fragt, was ihre Botschaft angesichts dieser Umwälzungen zu leisten vermag.
  1. Ein weiteres Merkmal ist die Überschwemmung des Menschen mit Information. Die Information reicht bis in den Weltraum hinaus. Ein Gang in die Buchhandlung kann heute zum Alptraum werden. Ein Menschenleben reicht nicht mehr aus, selbst das, was nur dem eigenen Beruf zugeordnet ist, zu lesen. Das schlechte Gewissen, über dieses oder jenes nicht genügend informiert zu sein, wird drängender. Das Nichtinformiertsein wird bereits zur Waffe unter den Menschen: Gleichzeitig muss aber das Gedächtnis bestimmte Inhalte verdrängen, um neue aufnehmen zu können. Immunität gegenüber Information wird eines der Probleme sein, vor denen wir künftig stehen, und es bedarf nur des einfachen Hinweises, dass davon Verkündigung und Zeugnis der Kirche nicht unberührt bleiben.
  1. Auch an den Vorgang der Demokratisierung gilt es zu denken. Er gehört der Sache nach wohl, im Blick auf seine politischen Implikationen jedoch nur sehr geprüft in die Kirche. Unter Demokratisierung verstehen wir, dass der Kreis der Mitverantwortlichen und Mitsprechenden größer und eine Durchsichtigkeit und Kontrollierbarkeit aller wesentlichen Entscheidungen erreicht wird. Hand in Hand damit geht allerdings die längst offenkundig gewordene Gefahr, dass jeder bei jedem mitredet und bei nichts verantwortlich zeichnet.
  1. Die Kontinente und ihre Bewohner rücken zusammen. Die undurchsichtige Verflochtenheit der politischen Sphären, Nachrichtengebung, Technik und Verkehr führen dazu, dass jede lokale Unruhe potenziell zur Weltunruhe werden kann. Es ist infolgedessen damit zu rechnen, dass der Erdball und unser eigenes Land in absehbarer Zeit nicht mehr zur Ruhe kommen. Geistige Strömungen und popularisierte philosophisch-weltanschauliche Strömungen werden durch die genannten Kanäle die Menschen wie Seuchen ergreifen und sie zu Millionen hinnehmen.
  1. Dies alles wird dazu führen, dass sich der Menschen ausnahmslos eine noch nie gekannte Ratlosigkeit bemächtigt. Die Probleme sozialer und individueller Art entwickeln sich so schnell, dass sich jeder Mensch an irgendeiner Stelle hoffnungslos antiquiert vorkommt. Er wird immer stärker als einzelner und als Gruppe auf Rat und Hilfe angewiesen sein, um sich zurechtzufinden. Das wird weiterhin zu einer Bedeutungszunahme der Psychologie führen. Wird sie die Ratlosigkeit des Menschen bewältigen helfen und erstatten oder zu einem Instrument raffinierter Manipulation sich entwickeln?

Mit diesen wenigen Punkten sei, wenn auch nur in andeutender Weise, die Zeitlage beschrieben, die Gesamtsituation, die die Situation des christlichen Zeugnisses im einzelnen umschließt. Es wird vermutlich eine Zeit der Kirche in der Minderheit und in der Diaspora mit neuem Sinn und neuen Segnungen sein.

II. Versuch der Elementarisierung

„Wir machen in unserer Zeit die Erfahrung des abwesenden Gottes … In der Welt wird er nicht mehr gefunden. Der Mensch ist allein. Damit ist etwas geschehen, was es zuvor in der Geschichte nicht gab. In dem Augenblick, da der Mensch zum ersten Mal die ganze Erde als eine besitzt, wird er sich bewusst, dass er allein ist. Wie verhält sich der Mensch in der neuen Leere der Welt?“ (P. Schütz, Parusia. GW 3, 27).

  1. Er vergötzt die Dinge (Weltanschaulicher Materialismus). – Er strebt intensiv nach materiellen Gütern und stellt sie im Übermaß, mehr als er braucht, her. Sie sollen ihm eine gesicherte Existenz in einer zwar nicht lückenlos kontrollierbaren, aber radikal durchschaubaren und geheimnislosen Welt ermöglichen. Dadurch beherrschen sie ihn. Statt ihre Vielzahl zu verringern vielleicht wird er dazu gezwungen – sieht er in ihrem Nutzen für ihn selbst einen Höchstwert, ohne damit eine gemeinschaftserhaltende Ethik zu verbinden. Weithin wird auch alles Wirkliche, selbst auf den ersten Blick immateriell erscheinende Ereignisse, von materiellen Vorgängen abgeleitet. So kommt es zu einer Lebenshaltung, die das „Haben“ und das Verfügenkönnen über die Dinge überbewertet, ja vergötzt und das „Sein“, die moralischen und spirituellen Gesichtspunkte verleugnet bzw. vergisst.
  1. Er glaubt an sich selbst (Psychologischer und soziologischer Narzissmus). Der in einer verglichen mit früheren Jahren – unerhörten Weise befreite Mensch der westlichen Industriegesellschaft, der überall hinreisen, sich über alles informieren und sich „alles“ leisten kann, fühlt sich gefangen, enttäuscht, „frustriert“. Er zieht sich in eine neu entdeckte Innerlichkeit und auf sich selbst zurück, staatsverdrossen und antiinstitutionell, Theorien und Aktionen hinter sich lassend und doch zugleich zu blitzartig aufflammender Gewalt bereit. Es ist der Erfahrungshunger, der Hunger nach authentisch gelebtem Leben, der ihn aus einer rational und intellektualistisch sich gebenden Welt mit ihren Sachzwängen dahin treibt. Ist die Gestalt des Narziss, der über eine noch unberührte Quelle gebeugt sein Spiegelbild selbstverliebt betrachtet, ein Symbol, das den Massentypus am Ende des Jahrhunderts zureichend beschreibt? Hat er eine Entsprechung in der „bedienten Gemeinde“ (der Pfarrer bedient, die Gemeinde verzehrt), in der „sprachlosen Gemeinde“ (aktiv im Leben, sprachlos im Glauben) und in der „bürgerlichen Gemeinde“ (Einbürgerung als einzige Pflicht, alles andere sind Ansprüche)?
  1. Er verfällt neuen Heilslehren (Religiöser und ideologischer Pluralismus). – Neue Untersuchungen haben gezeigt: Die Preisgabe von Normen und Werten, und das damit verbundene Herausgehen aus geistigen Orientierungssystemen, seien sie politischer, weltanschaulicher oder kirchlicher Art, führten zu sichtlicher Anfälligkeit für neue religiöse und ideologische Heilslehren. Der Mensch kann ohne ein geistiges Zuhause nicht sein und ist auf die Suche nach Sinn angelegt. Verlässt er das eine Haus, kann er ohne ein anderes nicht bleiben. Insbesondere sind es radikale Gesellschaftsutopien, amerikanisches Modeverhalten auch im Ethischen und fernöstliche Meditationspraktiken, die den in der Masse vereinsamten und mit sich und der Welt unzufriedenen Menschen anziehen und einfangen.

III. Leitlinien für die kirchliche Planung

Leitlinien sind Markierungen zur Abgrenzung einer bestimmten Fahrbahn von einer anderen. Um Leitlinien für die kirchliche Planung zu gewinnen, müssen die Herausforderungen in noch größerer Vereinfachung wiederholt werden.

Die Kirche wird herausgefordert:

  1. durch die Verflüchtigung des Glaubens in einer rational erklärten Welt;
  2. durch die subjektive Meinung, die sich der objektiven Repräsentanz von Glaubenswahrheiten entgegenstellt, vor allem, wenn diese nicht gemeindlich gestützt sind;
  3. durch die Banalisierung des Religiösen in leicht vermittelbare Praktiken.

Die Leitlinien, um diesen Herausforderungen zu begegnen, lauten dann:

  1. Die Kirche muss mit Konfrontation (Christliches Menschenbild, kirchliche Gesellschaftskritik und Bewahrung des Gottesdienstes als Gegenüber) und Evangelisation (Herausrufen aus distanzierter Kirchlichkeit und neuem Unglauben in verbindliche Christusgemeinschaft) arbeiten; eine natürliche, unaufdringliche und realitätsbewusste Glaubenssprache finden, nicht bei Abgrenzungen stehen bleiben, sondern den Kontakt gerade mit den getrennten Gruppen suchen und mit Umgetriebenen sprechen.
  1. Die Kirche muss, da die vorhandenen Gemeinden zum Zeugnis nicht gerüstet und von nur geringer missionarischer Kraft sind, christliche Kerngruppen oder Basisgemeinschaften bilden. In diesen Gemeinschaften erfolgt eine ausdrückliche Hinwendung zu den Fundamenten des Glaubens, um sie mitten in der Welt zu leben und werbend zu vertreten.

Ihre Bestimmungen sind im Einzelnen:

a) Glaubenswachstum durch neues Lesen der Bibel und gemeinsames Gebet.

b) Entstehung und Förderung von Gemeinschaft in der Kirchengemeinde.

c) Erneuerung der Sendung und christlicher Praxis im weltlichen Leben.

  1. Die Kirche muss sich, da ein Christentum, das nur Gedanke oder Gefühl ist, der Wind verweht, um einen gestalteten Glauben bemühen. Nur Gestalt kann mit Gestaltetem, kann mit Dingen und Verhaltensweisen konkurrieren. Dieser Gestaltglaube oder die neue Praxis sind auf Gott und auf die Menschen gerichtete Werke des Glaubens; Gott gegenüber als Hören, Beten und Zusammensein; den Menschen gegenüber als Bekennen und als auf den Feldern des Privaten, Beruflichen, Öffentlichen und Politischen geschehendes Tun des Rechten, das seine Richtung und sein Recht aus der unablässigen Begegnung mit der Bibel in der Gemeinde findet.

Was die Kirche der Erfahrung des abwesenden Gottes entgegenzusetzen und dem Menschen in seiner kosmischen Vereinsamung zu geben hat, ist eine Anwesenheit, die in der urchristlichen Predigt den Namen „Parusia“ empfing. „Es ist eine dynamische Größe, ein Anwesen, das ankommt, von vorne her, eine Zukunft, die Gegenwart ist und dennoch Zukunft bleibt“ (Paul Schütz). Christus liegt vor uns. Er kommt auf uns zu.