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Wie sich ein Staat Kirchen unterwerfen kann und warum Staat und Kirche unabhängig voneinander bleiben müssen

Es geht mir in diesem kurzen Beitrag nicht darum, Staatsverdrossenheit oder Abwendung von Gesellschaft und Politik das Wort zu reden. Im Gegenteil, Christen sollten sich gerade in öffentliche Angelegenheiten einbringen, wozu es in der Bibel ja einige Modellfiguren gibt. Es geht mir auch nicht darum, mit einem allgemeinen Mißtrauen allem zu begegnen, was uns von der Obrigkeit präsentiert oder verordnet wird. Wir glauben ja, daß Christus der Herr der Welt ist, und daß der Teufel nur so viel Macht hat, wie Gott es ihm läßt (Hiob 1).

Wir glauben, daß jede Obrigkeit von Gott eingesetzt ist. Das steht unverrückbar fest, allerdings gilt ebenso sicher, daß die Obrigkeit nicht auf beliebige Weise Gottes Dienerin sein darf, daß sie kein unumschränktes Mandat hat. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Dieser Satz des Neuen Testaments, die clausula Petri, wird gesprochen gerade im Hinblick auf obrigkeitliche Versuche, die Freiheit der Verkündigung von Jesus Christus als dem Herrn einzuschränken, also im Hinblick den Kernbereich der christlichen Gemeinde, ihren Missionsauftrag. Genau an diesem Punkt ist die Gemeinde auch heute zur Wachsamkeit verpflichtet.[1] [1]

Ich behaupte ausdrücklich nicht, daß alle Vorgänge, von denen ich hier spreche, in der Schweiz oder in Deutschland Wirklichkeit sind, aber ich möchte den Blick auf Vorgänge und Prinzipien lenken, die in der Vergangenheit bereits umgesetzt wurden und die heute wieder in den Bereich des Möglichen getreten sind.

1. Der Titel und seine Geschichten
Oder: Wie sich Staaten Kirchen unterworfen haben (historisch)

„Wie sich ein Staat Kirchen unterwerfen kann“ ist abgeleitet von „Wie sich der Staat die Kirchen unterwirft“: So, also ohne das „kann“, lautete vor knapp 23 Jahren der Titel eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, verfaßt von Konrad Adam.[2] [2] Damals ging es nicht um den Gottesdienst, sondern „nur“ darum, daß der deutsche Staat für die neue Pflegeversicherung ein Opfer, eine Gegenfinanzierung brauchte. Ausgerechnet ein christlich-demokratischer Arbeitsminister vertrat den Staat; die Arbeitgeber drängten, die evangelische Kirche widersprach nur leise – da stimmte das Parlament zu, nicht einen staatlichen, sondern einen kirchlichen Feiertag zu opfern. Der Buß- und Bettag fiel.[3] [3] Der Staat war nicht bereit, für die Wohltaten, die er verteilen will und für die die Regierungsparteien Wählerstimmen erhoffen, aus dem eigenen Besitz von Feiertagen finanzieren.

Geschichte reimt sich. 1803, beim Reichsdeputationshauptschluß, ließen sich die frommen Staatsvertreter für den Verlust ihrer linksrheinischen Gebiete durch rechtsrheinisch gelegenes Kirchengut entschädigen. Aufgelöst wurden: Zwei Kurfürstentümer, neun Hochstifte, 44 Reichsabteien und 45 Reichsstädte. 45.000 km² Land und fast 5 Millionen Menschen erhielten neue Landesherren.[4] [4] Seither, so schreibt Konrad Adam, „weiß man, daß Säkularisation etwas mit Raub zu tun hat. Die Abschaffung des Buß- und Bettages hat das bestätigt.“[5] [5] Die Einführung der Kirchensteuer war kein weiser Ersatz, denn das Wesen einer freiwilligen Spende für eine Religionsgemeinschaft hat einen völlig anderen Charakter als ein staatlich organisierter Lohnabzug. Leider wurde das vielen erst später klar.[6] [6] Was geht es den Staat an, wieviel Geld ich für meine Kirche gebe? Unter Kindern Gottes ist dieser Zustand der Unfreiheit schlicht unwürdig. Ort des Opfers für Kirche und Gemeinde sollte der Gottesdienst sein, nicht die vom Steueramt kontrollierte Lohnabrechnung.

Die Dienstbarmachung der Religion für staatliche Zwecke ist geschichtlich eher der Durchschnitt als die Ausnahme. Seit der Aufklärung kehrt Europa in teils kleineren, teils größeren Schritten wieder in diesen „Normalzustand“ zurück. Der mittelalterliche Staat hatte seine Rechtssetzung, neben gewissen Kontinuitäten zum römischen Recht, im Wesentlichen auf das biblische Recht und besonders die Zehn Gebote zurückgeführt. Natürlich ist eine Verklärung dieser Zeit nicht angebracht. Auch unter den angeblich biblischen Vorzeichen gab es eine wechselseitige Unterdrückung von Katholiken und Protestanten, Religionskriege und ähnliche Vorgänge. Doch die transzendente Gebundenheit des mittelalterlichen Staates wich seit der Renaissance einer zunehmenden Säkularisierung. Der moderne, autonome Staat suchte gleichzeitig die Kirche zu beherrschen.

Das Land, dessen Staatsverständnis im 17. Jahrhundert auf diesem Weg wohl am weitesten vorangeschritten war, war Frankreich. Frankreich hatte schon im Mittelalter begonnen, die „Gallikanischen Freiheiten“ auszubilden. Die französische Kirche sollte möglichst wenig vom Papst bestimmt sein, um so mehr dagegen vom französischen König.[7] [7] Frankreich vollendete sein Staatskirchentum unter Ludwig XIV. Dem französischen Protestantismus gegenüber hat der Machtstaat Ludwigs XIV. mit seinen zentralistischen Prinzipien besonders rücksichtslos durchgegriffen, als 1686 das Toleranzedikt von Nantes (1598) aufgehoben wurde, um die religiöse Einheitlichkeit der Bevölkerung wiederherzustellen. Auch gegen die weltlichen Körperschaften, wie Stände und Parlamente, schritt er erbarmungslos ein und setzte die höchste Machtvollkommenheit des Königs der Machtlosigkeit der Untertanen entgegen.

Der Absolutismus hat somit einen Grundgedanken der Großen Revolution und der modernen Demokratie vorbereitet: den der politischen Gleichheit aller. Heinz-Otto Sieburg schreibt in seiner Darstellung der französischen Geschichte: „Es war Ziel des modernen Staates, die organischen Korporationen des Mittelalters allmählich aufzulösen. Das erreichte er auch, indem er, diese Korporationen nivellierend, die Menschen isolierte und der staatlichen Allmacht unmittelbar unterstellte. … Der absolutistische Staat war aber nicht nur Machtstaat. Er schrieb sich auch erzieherische und kulturpolitische Aufgaben zu. Die Erziehung der Untertanen entwand er allmählich weitgehend der Kirche, um sie selbst auszuüben. Der Begriff des ‚Kulturstaates‘ kündigte sich an. Im Frankreich Ludwigs XIV. gelangte die Synthese von Geist und Macht zu nachhaltiger und folgenreicher Wirkung.“[8] [8]

Die staatliche Obhut und Förderung der Kultur führte zunächst zu einer – gegenüber dem durch den 30jährigen Krieg verwüsteten Deutschland – überlegenen Stellung Frankreichs. Selbst ein sonst skeptischer Geist wie Voltaire pries „das Jahrhundert Ludwigs XIV.“ (Siècle de Louis XIV) als einen der vier Höhepunkte der Menschheitsgeschichte (neben Athen, Rom und Florenz). Gerade in Deutschland war man Ende des 17. Jahrhunderts kritiklos bereit, Frankreich nachzuahmen.[9] [9] Auch der russische Adel des 18. Jahrhunderts sprach lieber Französisch als Russisch.

Wir haben damit politische Zentralisierung (im Gegensatz zu Föderalismus und Subsidiarität) und Ausrichtung von Geistesleben und Kultur auf den Staat als Mittel kennengelernt, soziale Kontrolle und Vereinheitlichung auszuüben. Was das Geistesleben betrifft, führte Jean-Jacques Rousseau im „Contract social“ (1762) aus, daß nicht nur die politische Gleichheit aller, sondern auch die geistliche Orientierung der Bevölkerung durch eine Zivilreligion zu vereinheitlichen ist.

„Die Lehrsätze/Dogmen der bürgerlichen Religion (Religion civile) müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne daß Auslegungen und Erläuterungen nötig sind. Die Existenz einer allmächtigen, allwissenden, wohltätigen Gottheit, einer allumfassenden Vorsehung; ein zukünftiges Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze – das sind die positiven Dogmen. Was die negativen betrifft, so beschränke ich mich auf ein einziges: die Intoleranz. Sie ist eine Eigentümlichkeit der von uns verworfenen Religionsformen.“[10] [10]

Nach Rousseau eignet sich das Christentum nicht als Zivilreligion, weil es politischen (sogar sozialen) Erfordernissen nicht gewachsen sei. Es gebe zum Beispiel keine Anweisungen für die Fälle von Machtmißbrauch oder Krieg.[11] [11] (Offenbar hatte er zum Thema weder die Bibel noch Luther studiert!) Zum anderen stehe in ihr Christus immer noch über dem Staat. „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“, lautet, wie erwähnt, die clausula Petri, der Ratschluß des Petrus (Apg 5,29, vgl. 4,19). Rousseau dagegen meinte im Schlußkapitel: „Es gibt ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, und die Festsetzung seiner Artikel ist lediglich Sache des Staatsoberhauptes.“[12] [12] Rousseaus „rein bürgerliche Religion“, „une profession de foi purement civile“ wird eine Religion, die nicht wirklich Religion sein will, weil ihre Inhalte eben nicht vom Himmel kommen, sondern vom Staatsoberhaupt festgesetzt werden. Wenn ein weltliches Staatsoberhaupt, also in der Regel ein Nichttheologe (und oft ein Nichtchrist), die Artikel festsetzt, so werden diese vermutlich so einfach, so praktikabel bzw. kontrollierbar wie möglich sein. Rousseau definierte ein reduziertes, blaß-religiöses Extrakt, das mit allem Spezifischen des biblischen Glaubens nur noch gewisse Begriffe gemeinsam hat.

Das noch größere Problem ist aber dies: Ein Staatsoberhaupt oder eine Regierung, das Glaubensartikel festlegen und durchsetzen will, macht sich selbst zu Gott. (Daher hätte die Fragestellung der Tagung der Basler Theologischen Fakultät im Mai 2021 nicht allein lauten sollen: „Wie politisch darf/soll Religion sein?“ Sondern mit gleicher Verve: Wie religiös darf Politik sein?)

Damit ist der Weg zur unumschränkten staatlichen Kontrolle, zur sozialen Unfreiheit, zur Gedankenpolizei geebnet. Wenn eine Regierung keinen Gott mehr über sich sieht, dem sie verantwortlich ist, öffnen sich dem Machertum und der gewaltsamen Welterlösung Tür und Tor.

1905 wurden die Religionen aus dem öffentlichem Raum in Frankreich entlassen; im März 2021 nun wehren sich die protestantischen, katholischen und orthodoxen Kirchen des Landes in einer gemeinsamen Erklärung dagegen, daß der Staat ihren Raum betritt («dans la qualification de ce qui est cultuel et dans son fonctionnement»). Damit würde er sich vom Grundsatz der Trennung verabschieden. Der Innenminister verteidigt das geplante Gesetz damit, der Staat müsse Mittel in die Hand bekommen, um dem «séparatisme identitaire» entgegenzutreten, der sich hinter dem Religiösen verberge.[13] [13] Auch hier: Das Anliegen der Volkseinheit und der Loyalität erstrebt der Staat nun nicht mehr durch Freiwilligkeit, sondern durch Zwang.

Nach der Präsentation durch Premierminister Jean Castex im Dezember 2020 war der Gesetzesentwurf «zur Stärkung der republikanischen Prinzipien» auf breiten Widerstand gestossen. Der Staat will religiöse Vereinigungen leichter auflösen können.
Der Senat hat Anfang April 2021 die Vorlage in erster Lesung behandelt und weitere Änderungen angebracht. Minderjährigen soll das Tragen von Kleiderstücken und Zeichen, die eine religiöse Zugehörigkeit anzeigen, im öffentlichen Raum verboten werden.

Übrigens hat Frankreich im gleichen Gesetzentwurf auch die Freiheit zum Homeschooling in Frage gestellt. Dieser Teil des Gesetzes wurde aber in erster Lesung im konservativ dominierten Senat abgelehnt.

„Im Juli 2019 hatte die Regierung bereits die Unterrichtspflicht ab dem 3. Lebensjahr festgeschrieben. Kurz darauf setzte der französische Präsident eine Sonderkommission ein, welche [sogar auch] die ersten 1 000 Tage im Leben des Kindes ‚zu einer Priorität des öffentlichen Handelns machen soll.‘“[14] [14]

Nach der französischen Revolution haben erst die großen kollektiven Zwangssysteme des 20. Jahrhunderts Rousseaus Gedanken verwirklicht. Im Namen der Gleichheit haben sie allerdings die größten Ungleichheiten hervorgebracht. Im Namen der Freiheit haben sie bürgerliche Freiheiten beseitigt. Im Namen des allgemeinen Wohlstandes haben sie breite Schichten verarmen lassen. Im Namen der Erhebung des Menschen aus religiöser Erniedrigung haben sie ihn versklavt. Im Namen der staatlichen Erziehung lösen sie die Familie auf. Im Namen der Pluralität erstreben sie Konformität, beginnend mit Sprachzwängen (Rechtschreibung und Inklusion), endend mit Berufsverboten, Lagern und Eliminierungen von Kritikern.

Mit dieser Übersicht jedoch stehen wir bereits in Teil 2.

2. Wie sich Staaten Kirchen unterwerfen können (systematisch)

Rod Dreher hat 2020 das Buch „Live not by Lies. A Manual for Christian Dissidents“ herausgebracht. Geschöpft aus Gesprächen mit christlichen Dissidenten unter dem Kommunismus des Ostblocks behauptet er, daß sich im Westen ebenfalls totalitäre Strukturen anbahnen. Jedenfalls behaupten dies viele, die den Kommunismus als Christen überlebt haben, und die sich ansehen, was derzeit in Amerika und in Europa passiert. Dreher sagt nicht, daß wir genau das gleiche erleben oder erleben werden, was unter dem Kommunismus passierte bzw. passiert. Er unterscheidet einen weichen und einen harten Totalitarismus und meint, wir schlittern derzeit in einen weichen Totalitarismus hinein. Unabhängig von der Gegenwartsanalyse meine ich, ist sein Sensorium für ähnliche Faktoren und Vorgänge nützlich. Ich greife einige der Faktoren auf, die die Durchsetzung totalitärer Strukturen begünstigt haben. Es müssen nicht Faktoren sein, die als solche vom Staat gewollt werden, aber es sind Faktoren, die sich aber leicht kanalisieren lassen, um totalitäre Strukturen zu erreichen.

Die genannten Faktoren und Strukturen treffen nicht nur Kirchen, sondern alle freien Verbände, die Kirchen jedoch besonders empfindlich, weil die Art kirchlicher Gemeinschaft und Tätigkeit sich durch ihren Transzendenzbezug von Kunst- oder Sportvereinen grundsätzlich unterscheidet, also immer einen Bezug mit sich führt, der sie um ihrer Identität willen nach Unabhängigkeit vom Staat streben läßt.

a. Die Besetzung dessen, was „Fortschrittlich“ heißt, durch die kollektivistische Ideologie

Marxismus stand für die vom Zar und von der orthodoxen Kirche unverstandenen Arbeiter für eine verheißungsvolle Zukunft. Die Marxisten verbreiteten ihre Ideen mit religiöser Inbrunst: Sie waren „religious about being secular“. Sie eroberten ihre Ideen nicht nur in den Fabriken, sondern eroberten auch die Universitäten. Intellektuelle und Künstler schlossen sich kommunistischen Ideen an, die eine Zukunft von Milch und Honig versprachen.

Über die in allen Bereichen wirksame Fortschrittsideologie hat zuletzt Martin Erdmann ein siebenbändiges Werk geschrieben. Prägnant schrieb Christoph Raedel über die „Fortschrittsfalle“.[15] [15]

Beispiel: Bei der Frage der Neudefinition von Ehe wurden Konservative bisher meist nur belächelt – neuerdings gelten sie als rückschrittlich, fortschrittsfeindlich, ja diskriminierend. Nachdem man die biblische Position lange allenfalls psychologisiert hatte („Homophobie“), so wird sie neuerdings kriminalisiert, erste Verfahren laufen in verschiedenen Ländern.

b. Urbanisierung und Individualisierung

Entwurzelte Menschen, die vom Land in die Stadt kamen, um in den Fabriken Geld zu verdienen, waren oft allein. Einsame Menschen sind leichter verführbar oder in neue soziale Strukturen integrierbar. Vor der Durchsetzung des Kommunismus gab es ein social distancing noch ohne Staatsorder, sozusagen die Reichsunmittelbarkeit des Einzelnen: Zwischen dem Einzelnen und dem Staat stand keine Familie, keine freie gesellschaftliche Gruppe, keine Religion mehr. Die Herauslösung des Menschen aus seiner Heimat, aus Familie, Volk, von seiner Scholle, aus seiner Muttersprache und Dialekt, macht ihn also verfügbar für die in der neuen Umgebung herrschenden Kräfte. Früher oder später müssen derlei soziologische Prozesse immer politische Auswirkungen.

Hanna Arendt, die bahnbrechende Erforscherin totalitärer Bewegungen, schrieb 1951: Totalitäre Bewegungen sind Massenorganisation von atomisierten, isolierten Individuen.[16] [16] Die digitalen sozialen Netzwerke spiegeln eine Gemeinschaft vor, die nicht besteht, und verstärken so, trotz hoher Zahlen an „Freunden“, die Einsamkeit im leiblichen Leben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus: https://www.wir-sind-kirche.de/?id=125&id_entry=8185 [17] (11.06.2021)

Gemäß Rod Dreher wurden im Kommunismus im Prinzip alle Institutionen, die vom Staat unabhängig waren, zerstört. Alle Aspekte des Lebens wurden politisiert. Religiös Gläubige wurden verfolgt, freie Rede unterbunden (S. 28).

Die Propagierung einer frei ausgeübten Sexualität, das Streben nach unmittelbarer Bedürfniserfüllung war bereits im frühen 20. Jh. ein wichtiger Faktor, der Menschen vereinzeln ließ, statt lebenslange Bindungen zu suchen und in solchen Bindungen auch bei unerfüllten Wünschen und schwierigen Verhältnissen menschlich und geistlich zu reifen und der nächsten Generation zu dienen. Nach dem 2. Weltkrieg eroberte die 68er Bewegung mit ihrer programmatisch hypertrophen Sexualisierung praktisch den gesamten Westen (G. Kuby, Die globale sexuelle Revolution, 2012) und vervielfachte die Zahl an psychisch Verunsicherten, Vereinzelten, somit kollektiv Manipulierbaren.

Kollektivierung ist die unmittelbare Kehrseite der Individualisierung. Das beginnt bei den Kindern, deren Elternbindung im Nationalsozialismus wie im Internationalsozialismus gelockert wurde und wird, um die „staatliche Lufthoheit über die Kinderbetten“ (Vizekanzler Olaf Scholz) zu erzielen. Damit wird die geistig-kulturelle Befindlichkeit vereinheitlicht. Das implizierte zu allen Zeiten – im Alten Ägypten ebenso wie bei Ludwig XIV. oder später bei Hitler – das Bemühen darum, die konfessionelle Spaltung aufzuheben. Heute will man nicht nur ökumenisch, sondern interreligiös denken (sichtbares Zeichen: Errichtung des Berliner House of One vor allem mit Steuergeldern).

Daher enthält Rousseaus Gesellschaftsvertrag nur ganz simple Dogmen, die der Herrscher selbst festlegen soll. Allerdings hat Rousseau dem Herrscher diese einfachen Dogmen gleich selbst in die Feder diktiert – darunter (und darum erwähne ich das an dieser Stelle): die Ablehnung der religiösen Intoleranz.

c. Negative Bildungsvoraussetzungen, Deframing und Framing von Vergangenheit und Gegenwart

Das kulturelle und geschichtliche Gedächtnis wird durchlöchert, ausgedünnt, ersetzt. Das Phänomen „Cancel Culture“ ist überhaupt nicht neu, sondern gehört für totalitäre Systeme seit jeher notwendig zur Verflüssigung der bisherigen Verhältnisse dazu. In Orwells „1984“ hieß es: „Unwissenheit ist Stärke“. Das „Wahrheitsministerium“ tat das übrige.

Die Parallele zur heutigen Entwicklung mit unseren ausgedünnten Lehrplänen bei teils verkürzten Schulzeiten in Ganztagsschulen ist an diesem Punkt besonders erdrückend. Wer sie nicht mehr kennt, den kümmert das Absinken einer Bildungsnation auch nicht mehr.

Besonders bedrückend ist es, wenn Intellektuelle das Spiel betreiben. 2019 startete die New York Times das „1619 Project“. Hierbei sollte das Jahr 1776, in dem die Unabhängigkeitserklärung verkündet wurde, ersetzt werden, wohl genauer: in seiner überragenden Bedeutung ersetzt werden durch das Jahr, in dem die ersten Sklaven aus Afrika nach Nordamerika kamen. Das positiv besetzte Gründungsdatum soll also durch ein negativ besetztes anderes Datum relativiert werden, dergestalt, daß der Rassenhaß zum Zentrum der nationalen Identität gehöre. Von diesem Rassenhaß wiederum möchte man sich dann moralisch möglichst weitgehend abgrenzen – und damit von der bisherigen nationalen Identität überhaupt, mithin von ihrer freiheitsliebenden Verfassung.[17] [18]

d. Der Glaubwürdigkeitsverlust außerstaatlicher Hierarchien und Institutionen

Nach deutschen und amerikanischen Umfragen liegt die Glaubwürdigkeit von Institutionen auf einem historisch niedrigen Niveau. Auch in den 1920er Jahren hatten, so Hanna Arendt, die Parteien große Probleme, noch junge Leute anzuziehen. Der Individualismus führte und führt dazu, daß die Menschen aufhören, außerhalb von sich selbst nach verläßlichen Sinnquellen zu suchen. Der Liberalismus hat den Einzelnen zwar in einem gewissen Hinsicht befreit, ihn aber zugleich verfügbar gemacht für Entwicklungen, die in den Totalitarismus führten oder führen (vgl. Dreher S. 33).

e. Absenkung des Privatvermögens (Besteuerung, ggfs. Enteignungen, Lastenausgleich, Goldverbot), unmittelbarere Abhängigkeit von immer mehr Menschen von Staatsleistungen, Ausbau des Sozialstaats

 f. Überwachung durch Digitalisierung, digitale Identität, digitales Geld, digitaler Impfstatus bzw. entsprechende Zertifikate und Nachweise.

3. Warum Staat und Kirche unabhängig voneinander bleiben müssen (normativ) (Thesen)

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: Frankfurt/Oder. Im Hintergrund die Kirche St. Marien;
links hinter dem Betrachter die Europa-Universität Viadrina.

Kirche und Staat müssen getrennt bleiben, …

a. weil der Staat keine Kompetenz hat, Recht neu zu setzen (Ehe für alle, Abtreibung, Familie, Sprache etc.). Er hat nach Röm 13 nur die Aufgabe, zu bestimmen, wer gut ist und Lohn verdient, und wer böse ist und Strafe verdient, und nicht, was gut und böse ist.

b. weil die Kirche keine Kompetenz für die weltlichen Regierungsgeschäfte hat. „Die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts“ (Lk 16,8). Die Kirche hat aber die prophetische Aufgabe, den Politikern und Herrschern die Zehn Gebote ins Bewußtsein zu rufen, besonders dort, wo diese die herrschende Zivilreligion in Frage stellen.

c. weil der Staat keine Kompetenz in geistlichen Dingen hat. Woher sollte der Staat auch entscheiden können, wie und ob die Kirche Gottesdienst zu gestalten hat?

d. weil die biblischen Vorgaben für die christliche Erwartung an den Staat höchst sparsam sind. Alle Obrigkeiten, mit denen das Volk Gottes in der biblischen Heilsgeschichte zu tun hat, die eigenen und (!) die fremden, werden nicht nur als menschlich, also als nicht göttlich dargestellt (im Unterschied zu den ägyptischen, phönizischen, römischen usw. Selbstvergottungen der Könige), sondern auch als sündig, als verführbar, als verführend, als machthungrig, als sexbesessen, trinkfest, als die Steuern übertreibend usw. – jedenfalls als kritisierbar und als zu kritisierend. Eine Kirche, die sich diese Kritik nicht zutraut und meint, nur positiv auf die Politik zugehen zu sollen, verfehlt ihr Amt an der Welt, und verfällt der gleichen Kritik, wie man am Gegensatz zwischen einzelnen Propheten und Königen im Alten Testament sehen kann.

e. weil die Kirche aus dem Wort Gottes außer dem weltlichen König den Herrn der Welt kennt, den Herrn aller Herren und König aller Könige.
Die von der Welt sind, werden, so Offb 17,14 „gegen das Lamm kämpfen, und das Lamm wird sie überwinden, denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige, und die mit ihm sind, sind die Berufenen und Auserwählten und Gläubigen.“ Die aus der Welt sind eben dies nicht, und eine Kirche, die ihr Befinden vom Beifall der Welt abhängig macht, verleugnet ihren Herrn.

Jakobus 4: „4 Ihr Abtrünnigen, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.  5 Oder meint ihr, die Schrift sage umsonst: Mit Eifer wacht Gott über den Geist, den er in uns hat wohnen lassen, 6 und gibt umso reichlicher Gnade? Darum heißt es (Sprüche 3,34): »Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.« 7 So seid nun Gott untertan. Widersteht dem Teufel, so flieht er von euch.“

f. weil gerade das spannungsreiche Gegenüber von Staat und Religion der wichtigste Garant für individuelle Freiheit ist. Nur im Fall des christlichen Abendlandes hat dieses Gegenüber zu einem großen Maß an individuellen Freiheiten geführt – in keinem der 57 muslimischen Staaten, geschweige in einem der atheistischen, buddhistischen oder hinduistischen Systeme war dies der Fall (Stückelberger, Demokratie, 2020).
Einen perfekten und dauerhaften Ausgleich zwischen Christentum und Politik wird es niemals geben, weil die sündhafte Natur des Menschen dies verunmöglicht.

Überall wo Kirche und Staat (aus geschichtlichen Gründen) verbunden sind, wäre die erste Aufgabe der Kirche, gerade an den Verbindungsstellen – Theologie an den Universitäten, Religionsunterricht, Militär- und Krankenhausseelsorge, Staatsakte mit Kirchenvertretern usw. – ihre spezifischen (d.h. biblischen) Verkündigungsquellen mutig zur Geltung kommen zu lassen und sich nicht zivilreligiös (d.h. im staatlichen Einheitsinteresse) zu reduzieren.

Dr. Stefan Felber (www.stefan-felber.ch [19]), „Kirche und Corona“, Vortrag in Hinwil/Schweiz am 12.6.2021 (= https://www.youtube.com/watch?v=BVq74NhOZJs [20])
Download von https://acch.info/wp-content/uploads/2022/05/220411_ACCH_SF_Kirche-und-Staat.pdf [21] und https://www.gemeindenetzwerk.de [22] (Mai 2022)

Genaueres siehe in meinem Buch „Kein König außer dem Kaiser?
Warum Kirche und Staat durch Zivilreligion ihr Wesen verlieren“,
Freimund-Verlag Neuendettelsau 2021, 244 Seiten.

[1] [23] Vgl. meinen Beitrag beim Freundestag des Gemeindehilfsbundes (15.5.2021), unter dem Titel „Kirche, Corona und Staat“ (s.u. www.gemeindenetzwerk.de [24] bzw. Youtube unter den Stichworten „Felber Gemeindehilfsbund“).

[2] [25] „An die Fleischtöpfe: Wie sich der Staat die Kirchen unterwirft“, in: FAZ 18.11.1998, Nr. 268, S. 41.

[3] [26] Außer im Bundesland Sachsen, wo aber ein höherer Pflegeversicherungsbeitrag eingezogen wird.

[4] [27] https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsdeputationshauptschluss [28] (09.06.2021).

[5] [29] An die Fleischtöpfe, ebd.

[6] [30] Vgl. Jochen Teuffel: Rettet die Kirche. Schafft die Kirchensteuer ab, Basel 2014, 144 S.; hierzu die Rez. von H. Seubert, in: Diakrisis 2/2015, S. 112f. (zur Thematik Kirchensteuer finden sich weitere Beiträge in diesem Heft).

[7] [31] Wikipedia: „… wodurch die Macht des Papstes praktisch aufgelöst wurde. Der Einfluss der französischen Könige auf die eigene Kirche war ohnehin sehr stark, nun jedoch durfte der Papst auch keine Legaten mehr ohne des Königs Zustimmung nach Frankreich senden. Bischöfe durften ohne königliche Erlaubnis das Land nicht verlassen, kein Staatsbeamter exkommuniziert werden für Taten, die seinen Dienst betrafen. Alle kirchlichen Privilegien wurden dem Monarchen übertragen, sämtliche Einflussmöglichkeiten des Papstes durch die Billigung des Königs reguliert“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_XIV [32]., 11.06.2021).

[8] [33] Sieburg, Heinz Otto: Grundzüge der französischen Geschichte, Darmstadt 2009, S. 75.

[9] [34] AaO. 76.

[10] [35] Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, in: aaO. S. 21378 = Rousseau-Gesell., S. 180. Gleiches Zitat bei Dähler, Zivilreligion und Evangelium, S. 3. Rousseau verlangte in der ersten Fassung seines Contract social noch die Todesstrafe für den Verrat am heiligen Gesellschaftsvertrag und den heiligen Gesetzen (Vorländer, Brauchen Demokratien, S. 154, Fußn. 28)!

[11] [36] Darstellung bei Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion, S. 59.

[12] [37] Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag; zitiert nach: Philosophie von Platon bis Nietzsche (Digitale Bibliothek S. 21377 = Rousseau-Gesell., S. 180). Abgesehen vom Kapitel „Von den römischen Komitien“ ist der Abschnitt über den Gesellschaftsvertrag mit Abstand der längste im Buch. Die Fortsetzung dort lautet: „Es handelt sich hierbei also nicht eigentlich um Religionslehren, sondern um allgemeine Ansichten, ohne deren Befolgung man weder ein guter Bürger noch ein treuer Untertan sein kann. Ohne jemand zwingen zu können, sie zu glauben, darf der Staat jeden, der sie nicht glaubt, verbannen, zwar nicht als einen Gottlosen, wohl aber als einen, der den Gesellschaftsvertrag verletzt, der unfähig ist, Gesetze und Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfalle sein Leben seiner Pflicht zu opfern. Sobald sich jemand nach öffentlicher Anerkennung dieser bürgerlichen Glaubensartikel doch als Ungläubigen zu erkennen gibt, so verdient er die Todesstrafe; er hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat einen wissentlichen Meineid im Angesichte der Gesetze geleistet.“

[13] [38] https://lkf.ch/berichte/laizistisches-frankreich [39] (11.06.2021).

[14] [40] https://de.catholicnewsagency.com/story/franzoesische-regierung-will-hausunterricht-verbieten-8216 [41] (11.06.2021).

[15] [42] Raedel, Christoph: Die Fortschrittsfalle. Zur Moralisierung gesellschaftspolitischer Debatten, in: Die politische Meinung 562 (2020), 72–78.

[16] [43] Nach Dreher S. 31.

[17] [44] Dreher S. 36f.