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Der Abfall in 2 Thessalonicher 2,3 – Glaubensabfall oder Entrückung?

Mittwoch 9. Februar 2022 von Johann Hesse


Johann Hesse

Im 2. Thessalonicherbrief schreibt der Apostel Paulus, dass vor der Wiederkunft Christi und der Sammlung der Gemeinde zu Christus hin zwei Dinge geschehen müssen: „Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offenbart werden, der Sohn des Verderbens“ (2 Thess 2,3). In allen Bibelübersetzungen kann man es so oder ähnlich lesen. Doch ging es Paulus tatsächlich um einen Glaubensabfall? Könnte hier nicht ein Übersetzungsfehler vorliegen? Meinte der Apostel mit dem griechischen apostasia eigentlich die Entrückung der Gemeinde?

In diese Richtung argumentiert die kleine Schrift des amerikanischen Theologen Andrew M. Woods „Der Abfall – Glaubensabfall oder Entrückung? Ein zweiter Blick auf 2 Thessalonicher 2,3“, Christlicher Medienvertrieb Hagedorn, Düsseldorf, 2021. Sollte Vers 3a nicht von einem Glaubensabfall reden, sondern von der Entrückung der Gemeinde, dann wäre die Diskussion über den Zeitpunkt der Entrückung geklärt. Die Fragestellung hat also eine gewisse Tragweite, darum wollen wir die 10 Gründe, die der Autor zur Untermauerung seiner These anführt, etwas genauer ansehen.

Grund 1: Zu jeder Zeit gab es Glaubensabfälle

Woods argumentiert, dass der Glaubensabfall wohl kaum ein wesentliches Merkmal für den Beginn der Trübsalszeit sein könne, weil sich dieses Phänomen durch die Bibel und die Kirchengeschichte ziehe. Paulus müsse mit apostasia folglich etwas anderes meinen. Es ist richtig, dass sich der Abfall vom Glauben durch die Kirchengeschichte hindurchzieht. Das schließt allerdings nicht aus, dass es zum Ende hin zu einer Zuspitzung des Abfalls kommt, die Paulus hier in besonderer Weise betont und ankündigt. Ganz analog sehen wir das bei der Bedrängnis. Die Gläubigen werden von Abel an bedrängt, und wir finden Bedrängnisse der Nachfolger Jesu durch die ganze Kirchengeschichte hindurch. Doch zum Ende der Geschichte hin kommt es dennoch zu einer „großen Bedrängnis“ (Mt 24,21), die alle vorhergehenden Bedrängnisse in den Schatten stellen wird. Das Phänomen der Bedrängnis oder Trübsal ist längst bekannt, nimmt aber zum Ende hin an Intensität zu und kulminiert in der „großen Bedrängnis“. Gleiches gilt für den Antichristen: „Und wir ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind nun schon viele Antichristen gekommen“ (1 Joh 2,18). Ja, es gibt viele Antichristen, und doch kommt es vor der Wiederkunft zum Auftreten des Antichristen, für den alle anderen Antichristen nur Vorläufer waren. Obwohl der Abfall vom Glauben ein Phänomen ist, das man in der ganzen Kirchengeschichte findet, wird es doch mehrfach von Paulus gerade auch mit der „letzten Zeit“ in Verbindung gebracht, so z. B. in 1 Tim 4,1-4 oder 2 Tim 3,1. Warum also nicht auch hier in 2 Thess 2,3? Dass es auch im Bereich des Abfalls vom Glauben zu einer endgeschichtlichen Zuspitzung kommt, deckt sich mit dem Bild der Wehen, das Jesus in der Endzeitrede (Mt 24,8) verwendet. Wenn die endgeschichtlichen Entwicklungen zum Ende hin wehenartig zunehmen, wenn der Antichrist in seiner letzten und gefährlichsten Personifizierung die Weltbühne betritt, wenn es eine Bedrängnis nie gekannten Ausmaßes gibt, dann ist es doch nur folgerichtig, dass wir mit 2 Thess 2,3 auch mit einer letzten großen Apostasie-Bewegung rechnen müssen.

Grund 2: Der 2. Thessalonicherbrief ist einer der ersten Briefe des Paulus

Woods argumentiert, dass die endzeitliche Abtrünnigkeit erst in den Timotheusbriefen ein Thema sei. Diese seien jedoch erst relativ spät in den 60er Jahren des ersten Jahrhunderts abgefasst worden. Der endzeitliche Abfall sei also ein Thema, das Paulus erst in den letzten Jahren seines Dienstes betont habe. Die Thessalonicherbriefe wurden aber um 51 n. Chr. abgefasst. In dieser frühen Phase seines Dienstes habe ihn das Thema noch nicht beschäftigt. Darum habe Paulus mit dem Begriff apostasia in 2 Thess 2,3 etwas anderes gemeint als Abfall vom Glauben. Hier liegt allerdings ein typischer Zirkelschluss vor. Woods will beweisen, dass apostasia in 2 Thess 2,3 nicht Abfall meinen könne. Um das zu beweisen, setzt er voraus (behauptet er), dass der endzeitliche Abfall von Paulus erst in den 60er Jahren thematisiert worden sei. Doch das zu Beweisende ist in dieser Voraussetzung bereits enthalten. Denn der 2 Thessalonicherbrief aus dem Jahr 51 n. Chr. spricht ja gerade von der Apostasie, also dem Glaubensabfall, im Zusammenhang mit einer endgeschichtlich-antichristlichen Zuspitzung. Das Gegenteil ist also wahr: Paulus hat das Thema bereits sehr früh thematisiert und bekräftigt es in seinen späteren Briefen. Der Abfall vom Glauben findet sich sowohl in den frühen als auch in den letzten Briefen und zeigt, dass es von Beginn an ein unverzichtbarer Aspekt der apostolischen Verkündigung war. Dass die Apostel, die es dann Paulus weitersagten, schon früh über die Gefahr des Abfalls wussten, ergibt sich aus der Apostasie des Judas Iskariot und der Warnung des Herrn in Johannes 16,1: „Das habe ich zu euch geredet, damit ihr nicht abfallt.“ Warum sollte Paulus das Thema also nicht bereits in seinen frühen Briefen angesprochen haben (vgl. auch Apg 20,29-30)?

Grund 3: Der bestimmte Artikel vor dem Substantiv Apostasia

Der bestimmte Artikel vor apostasia weise darauf hin, dass der „Abfall etwas sein wird, was konkret und zeitgebunden ist, genau wie das Kommen des Menschen der Gesetzlosigkeit“. Die apostasia werde plötzlich und unaufhaltsam stattfinden, das aber passe nicht zur Vorstellung eines geistlichen Abfalls, der normalerweise schrittweise und über einen längeren Zeitraum geschehe. Es passe besser zur Entrückung, weil diese plötzlich und unaufhaltsam geschehen werde. Es ist richtig, dass der bestimmte Artikel eine „individualisierende Funktion“ hat. Daraus folgt, dass Paulus tatsächlich von einer ganz bestimmten, konkreten und zeitgebundenen apostasia spricht. Dass diese „plötzlich“ eintreten müsse, ergibt sich nicht zwingend aus der Verwendung des Artikels. Sie kann sich auch schrittweise oder wehenartig im Verlauf der Kirchengeschichte aufbauen. Auch wenn es in der Vergangenheit Glaubensabfall gab, kann es in der Zukunft zu einer ganz konkreten, zeitgebundenen und herausragenden Abfallbewegung kommen. Paulus setzt in 2 Thess 2,3 den bestimmten Artikel vor apostasia und vor „Mensch der Gesetzlosigkeit“ und kündigt so eine konkrete und zeitgebundene antichristliche Zuspitzung der Geschichte an, die sowohl vom Auftreten des letzten Antichristen als auch von einer nie dagewesenen Abfallbewegung gekennzeichnet sein wird. Dass eine solche Abfallbewegung zu erwarten ist, ergibt sich auch aus dem Gesamtkontext des Abschnitts, denn „Der Böse aber wird in der Macht des Satans auftreten mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern und mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben, dass sie gerettet würden“ (2 Thess 2,9-10). Eben weil der „Sohn des Verderbens“ in der letzten Stunde der Weltgeschichte in nie gekannter Verführungsmacht auftreten wird, kann es zu einem weltweiten Abfall vom Glauben kommen, wie es ihn in diesem Ausmaß in der gesamten Kirchengeschichte nicht gegeben hat.

Grund 4: Apostasia im Sinne eines physischen Weggangs

Woods argumentiert hier, dass das Wort apostasia in bestimmten Zusammenhängen ein physisches und räumliches „Weggehen“ bezeichne. Der Verweis auf Apg 21,21 reiche nicht aus, um den Begriff zu bestimmen. Dies sei eine „oberflächliche“ Herangehensweise, denn man greife damit auf einen „weit entfernten Zusammenhang in einem völlig anderen Buch der Bibel“ zurück, das „von einem völlig anderen menschlichen Autor geschrieben wurde“. Diese Argumentation verwundert, denn der Autor aller biblischen Bücher ist Gott selbst (2 Tim 3,16). Hinzu kommt, dass Lukas ein enger Mitarbeiter des Apostels Paulus war – es ist naheliegend, dass beide Autoren den Begriff apostasia gleich verstanden haben. Ein exegetischer Grundsatz lautet, dass „Schrift durch Schrift“ (scriptura sui ipsius interpres) ausgelegt wird. Sollte es eine Unklarheit bezüglich der Bedeutung in einem Bereich der Heiligen Schrift geben, sollte man zunächst dort in der Bibel nachschlagen, wo die Bedeutung klar ist. Diese Klarheit liegt in Apg 21,21 vor. Dort geht es unstrittig um den Abfall vom Glauben. Diese Bedeutung wird auch durch die griechische Übersetzung des Alten Testaments (LXX) unterstützt, die den Glaubensabfall ebenfalls mit apostasia wiedergibt (Josua 22,22; 2 Chronik 29,19; vgl. 1 Makk 2,15). Weder LXX noch das NT kennen das Substantiv apostasia als physischen Weggang. Das Wörterbuch zum Neuen Testament gibt folgende Bedeutung für apostasia an: „die Lossagung oder der Abfall im religiösen Sinn“[1], das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament: „Mit 2 Makk 5 ist im Neuen Testament Apg 21,21 zu vergleichen, wo dem Paulus vorgeworfen wird: ‚apostasein didaskeis apo Moseos‘ (JH: „von der Lehre des Moses abfallen“). Sachlich ist die Verwerfung der Tora gemeint. 2 Thess 2,3 findet sich apostasia im absoluten Sinn als ein Ereignis der letzten Tage, das mit (vor?) dem Erscheinen des anthropos tes anomias (JH: „Mensch der Gesetzlosigkeit“) stattfindet. Hier ist die jüdische Tradition aufgenommen, die von dem völligen Abfall von Gott und seiner Tora kurz vor dem Erscheinen des Messias berichtet und auf den Abfall der Christen von ihrem Glauben zur Lüge und zum Unrecht (v 11f) in den ‚letzten Tagen‘ (Mt 24,11f) bezogen.“[2] Alle gängigen deutschen Übersetzungen geben das Wort apostasia in diesem Sinne wieder: Abfall (LUT, ELB, Schlachter, Menge), Widerruf (Zürcher), Aufruhr (NeÜ) oder Gott den Rücken zukehren (HfA). Die englischen Übersetzungen verwenden rebellion (ESV, NIV), rising up against God (NIR), falling away (KJV). Die Bedeutung „physisches Weggehen“ oder gar „Entrückung“ wird in den Wörterbüchern und den weitaus meisten Kommentaren nicht einmal als mögliche Bedeutungsvariante diskutiert.

Grund 5: Das Verb aphistemi kann sich auf ein physisches Weggehen beziehen

Da das mit apostasia verwandte Verb aphistemi in 75 % der Fälle von einem physischen Weggang spreche, könne auch apostasia in 2 Thess 2,3 ein physisches Weggehen bezeichnen. Während Woods die Bezugnahme auf Apg 21,21 kritisiert hat, weil es in einem anderen Buch stehe und von einem ganz anderen menschlichen Autor stamme, zieht er verschiedene Stellen aus den Evangelien und der Apostelgeschichte und damit von anderen menschlichen Autoren zu Rate, um zu zeigen, dass aphistemi auch ein physisches Weggehen oder ein „von etwas Weichen“ bezeichnen könne. Allerdings bestreitet niemand, dass das Verb kontextbezogen auch ein „Weggehen“ oder „Entfernen“ bedeuten kann. Entscheidend ist, dass Paulus das Verb gerade auch dort einsetzt, wo er einen endzeitlichen Glaubensabfall ankündigt: „Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass in späteren Zeiten manche vom Glauben abfallen werden“ (1 Tim 4,1; Hebr 3,12). Weiterhin wird das Verb aphistemi an keiner Stelle im Neuen Testament oder der LXX verwendet, um eine plötzliche Entrückung zu beschreiben. Paulus benutzt in 2 Thess 2,3 nicht das Verb aphistemi, sondern das Substantiv apostasia.

Grund 6: Der weitere Zusammenhang spricht für die Interpretation von Apostasia als einen physischen Weggang

Weil die beiden Thessalonicherbriefe insbesondere die Wiederkunft Jesu zum Thema haben, liege es nahe, dass apostasia eigentlich einen physischen Weggang bezeichne und nicht einen geistlichen Abfall. Woods hat Recht, wenn er die Einbeziehung des weiteren Zusammenhangs fordert. Blicken wir zum Beispiel auf 1 Thess 4,13-18, der „genauesten Abhandlung über die Entrückung“, wie Woods schreibt. Hier stellen wir fest, dass Paulus den Begriff harpazo verwendet, wenn er von der Entrückung der Gemeinde spricht. Die Begriffe aphistemi oder apostasia tauchen nicht auf.

Grund 7: Der unmittelbare Zusammenhang spricht für die Interpretation von Apostasia als einen physischen Weggang

Im unmittelbaren Zusammenhang spreche Paulus von der Wiederkunft Jesu und der Entrückung der Gemeinde, wenn er schreibe: „Was nun das Kommen unseres Herrn Jesus Christus angeht und unsere Vereinigung mit ihm“ (2 Thess 2,1). Dem ist nichts hinzuzufügen. Dass auch die Verse 2 Thess 2,6-7 von der Entrückung der Gemeinde sprechen, ist dagegen unklar. Wenn Woods den „Aufhaltenden“ mit dem Heiligen Geist und im nächsten Schritt mit der Gemeinde gleichsetzt, bleibt das eine unbewiesene Arbeitshypothese. Woods scheint zu übersehen, dass Paulus im unmittelbaren Zusammenhang dieses Abschnittes von Ereignissen schreibt, die noch „vor“ (proton) der Wiederkunft und Entrückung der Gemeinde am Tag des Herrn geschehen müssen (2 Thess 2,3). Was muss „vorher“ (proton) geschehen? Was zwingend vorher geschehen muss, ist der endzeitliche Abfall (apostasia) und die Erscheinung des Menschen der Bosheit (2 Thess 2,3). Doch der Mensch der Bosheit wird zur Zeit noch aufgehalten (2 Thess 2,6). Erst wenn der Aufhaltende weggetan wird, kann der Mensch der Bosheit auf der Weltbühne erscheinen (2 Thess 2,7). Paulus gibt hier folgende Reihenfolge vor:

  • Der Aufhaltende muss weggetan werden (2 Thess 2,6-7)
  • Der Antichrist erscheint und es kommt zum endzeitlichen Glaubensabfall (2 Thess 2,3)
  • Die Parusie des Herrn und die Entrückung der Gemeinde am Tag des Herrn (2 Thess 2,1-2)

Kurzgefasst: Da das proton in 2 Thess 2,3 anzeigt, dass die apostasia vor der Wiederkunft des Herrn und der Sammlung (Entrückung) der Gemeinde stattfinden wird, kann die apostasia nicht zugleich die Entrückung sein.

Des Weiteren nennt Paulus in 2 Thess 2,3 den Antichristen auch „Sohn des Verderbens“ (huios tes apoleias). Damit zieht er eine Linie von Judas Iskariot zum Antichristen, denn Jesus hatte Judas im Hohepriesterlichen Gebet ebenfalls als „Sohn des Verderbens“ (huios tes apoleias) bezeichnet (Joh 17,12). Judas hatte genau das begangen, was die Bibel mit apostasia bezeichnet; er war vom Herrn abgefallen. So wie Judas im engsten Jüngerkreis apostasia beging, so wird es am Ende der Zeiten zur apostasia der Kirche kommen, nämlich dann, wenn der „Sohn des Verderbens“ die Weltbühne betritt. Dass Paulus den Begriff apostasia im selben Atemzug nennt wie den Begriff „Sohn des Verderbens“, spricht dafür, den Begriff im Sinne von Glaubensabfall zu übersetzen.

Grund 8: 2 Thess 2,3a gehört zu einer Wiederholung

Die Frage, warum Paulus an dieser Stelle nicht das griechische Wort für Entrückung verwendet habe, beantwortet Woods so: „Die Antwort darauf ist, dass Paulus in seinen Briefen viele verschiedene Begriffe verwendet, um die Entrückung zu beschreiben.“ Er gibt dann einige Beispiele: rhyomai (1 Thess 1,10), parousia (2 Thess 2,1), episynagoge (2 Thess 2,1), apokalypsis (1 Kor 1,7), epiphaneia (Tit 2,13) und harpazo (1 Thess 4,17). Diese Aufzählung ist verwunderlich. Lediglich eines dieser Worte kann tatsächlich mit „entrücken“ übersetzt werden: harpazo (1 Thess 4,17). Ein weiteres Wort wird von Paulus als Synonym für den Vorgang der Entrückung der Gemeinde verwendet: episynagoge (2 Thess 2,1). Ryhomai (1 Thess 1,10) bedeutet retten, nicht entrücken. Natürlich ist es möglich, dass Gott u. a. durch die Entrückung rettet.

Der Begriff parousia (2 Thess 2,1) kann dagegen nicht mit der Entrückung gleichgesetzt werden. Das Wörterbuch zum Neuen Testament (Bauer-Aland) liefert folgende Angaben: Parousia ist 1.) die Anwesenheit und Gegenwart einer Person und 2.) die Ankunft als Eintritt der Anwesenheit. Das kann ganz allgemein von Menschen gesagt werden, aber auch als ein Terminus Technicus für das „Hervortreten der verborgenen Gottheit, die ihre Gegenwart durch Machtentfaltung erweist“. Das Neue Testament verwendet den Begriff mit Blick auf Jesus Christus, und zwar beinahe immer, um die „messianische Ankunft des Verklärten zum Gericht am Ende dieses Aeons“ zu beschreiben (Mt 24,3; 1 Kor 1,8; 1 Kor 15,23; 2 Thess 2,8; 2 Petr 3,4; 1 Joh 2,28; Mt 24,27.37.39; 1 Thess 4,15; 1 Thess 3,13; 2,19; 5,23; 2 Thess 2,1; 2 Petr 1,16; 2 Petr 3,12).[3]

Der Begriff parousia spricht von der Ankunft des Messias. In der Entrückung wird die Gemeinde zu Christus hin entrückt. Gegenstand der Parusie ist Christus, Gegenstand der Entrückung ist die Gemeinde.

Die Entrückung ist zwar einer von mehreren Aspekten des Parusie-Geschehens, aber nicht mit diesem gleichzusetzen. Dasselbe gilt auch für die Begriffe apokalypsis (1 Kor 1,7) und epiphaneia (Tit 2,13). Beide Begriffe sind Synonyme zur parousia und beschreiben die Offenbarung oder die Erscheinung des Christus am Ende dieses Äons, nicht aber die Entrückung der Gemeinde. Es ist schlichtweg falsch, die Begriffe parousia, apokalypsis oder epiphaneia mit der Entrückung gleichzusetzen und daraus eine mögliche Gleichsetzung von apostasia und Entrückung herzuleiten.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Woods bereit ist, bewährte Standards der neutestamentlichen Exegese zu übergehen, um in der apostasia die Entrückung der Gemeinde zu sehen.

Grund 9: Frühe Bibelübersetzungen unterstützen den Standpunkt des physischen Weggangs

Woods meint, dass der Begriff apostasia in der frühen Kirchengeschichte noch als physischer Weggang verstanden wurde. So habe Hieronymus (347-420) das Wort mit dissectio wiedergegeben und damit einen physischen Weggang gemeint. Erst im Laufe der Übersetzungsgeschichte sei es aus theologischen Motiven heraus zu einer Umdeutung des Begriffes apostasia in Richtung eines Glaubensabfalls gekommen.

Wenn allerdings Hieronymus unter apostasia eine physische Wegnahme und damit – wie Woods es mit seiner Schrift nahelegt – eine Entrückung gesehen haben will, warum hat er apostasia nicht mit dem lateinischen Ausdruck für Entrückung (raptus) wiedergeben, den er auch in 1 Thess 4,17 verwendet, wo es heißt: „simul rapiemur cum illis in nubibus“ (zugleich mit ihnen in den Wolken entrückt)?

Mehr noch. Hieronymus hat sein Verständnis von apostasia in 2 Thess 2,3 in seinem Brief an Algasia unmissverständlich dargelegt:

“Unless,” he says, “revolt (dissectio) comes first”, which in Greek is called apostasia, so that all nations, which are subject to the Roman Empire, may withdraw from them — “and he will be revealed” – that is, he will be shown, whom the words of all the prophets announce in advance — “the man of sin” — in whom lies the spring of all sins — “and the son of perdition” — that is, the devil; for he himself is the destruction of everything — “who is opposed” to Christ and for that reason is called the antichrist. [4], [5]

Übersetzung: „Es sei denn“, sagt er, „dass zuerst die Revolte (dissectio) kommt“, was im Griechischen apostasia heißt, damit alle Völker, die dem Römischen Reich untertan sind, sich von ihm zurückziehen – „und er wird offenbart werden“ – das heißt, er wird sichtbar werden, den die Worte aller Propheten im Voraus ankündigen – „der Mensch der Sünde“ – in dem die Quelle aller Sünden liegt – „und der Sohn des Verderbens“ – das heißt, der Teufel; denn er selbst ist die Zerstörung von allem – „der gegen Christus ist“ und deshalb der Antichrist genannt wird.

Hieronymus hat in der apostasia, die er mit dissectio übersetzte, eine Revolte, eine Rebellion, einen Abfall der Völker (omnes gentes) vom Römischen Imperium verstanden. Er spricht im Zusammenhang von dissectio ausdrücklich von den Völkern, nicht von der Gemeinde Jesu. Erst müsse es zu einem politischen Abfall der von Rom beherrschten Völker (quae Romano imperio subiacent) von Rom und in der Folge zu einer Zerstörung des Römischen Reiches kommen, dann erst könne der Antichrist offenbar werden. An keiner Stelle des Briefes macht Hieronymus auch nur eine Andeutung, dass er mit dissectio die Entrückung der Gemeinde verstanden haben will.

Auch Chrysostomos (349-407 n. Chr.), ein Zeitgenosse des Hieronymus, verstand apostasia nicht etwa als physischen Weggang oder als Entrückung, sondern als Abfall in der Folge antichristlicher Verführung: „Here he discourses concerning the Antichrist, and reveals great mysteries. What is the falling away? He calls him Apostasy, as being about to destroy many, and make them fall away.“[6]

Übersetzung:Hier spricht er über den Antichristen und enthüllt große Geheimnisse. Was ist das Abfallen? Er nennt ihn Apostasie, weil er dabei ist, viele zu zerstören und sie zum Abfall zu bringen.“

Woods behauptet, dass frühe Bibelübersetzer wie Hieronymus den Begriff „Apostasie“ als physische Wegnahme oder physischen Weggang verstanden. Er spricht sogar von einer „durchgängigen Überlieferung“ in diesem Sinne. Ein Blick in die Schriften des Hieronymus und anderer Autoren seiner Zeit zeigt, dass dem nicht so ist. Sicher will Woods seine Leser nicht absichtlich in die Irre führen; das heißt aber auch, dass er oberflächlich gearbeitet hat und seine These auf falschen Voraussetzungen aufbaut.

Grund 10: Vertrauenswürdige Bibellehrer vertreten das Verständnis des physischen Weggangs

Woods gibt zu, dass nur eine Minderheit von Bibellehrern in 2 Thess 2,3 einen physischen Weggang sehen könne. Ein Blick in verschiedene Kommentare zeigt, dass es sich tatsächlich nur um eine verschwindend kleine Minderheit handeln kann. Die Bedeutung von apostasia in 2 Thess 2,3 wird durch die Kirchengeschichte in verschiedene Richtungen gedeutet: Einigen Auslegern stellte sich die Frage, ob mit apostasia der Abfall des Antichristen gemeint sei,[7] andere sahen in der apostasia einen politischen, andere wiederum einen geistlichen Abfall. So meinte Luther: „Der Abfall bedeutet, dass man vom Glauben zur menschlichen Lehre übertritt, wie es auch bei 1 Tim 4,1 steht.“[8] Und etwas ausführlicher Lucas Osiander (1604): „Dieser Abfall ist geschehen, als die römischen Bischöfe von dem ausdrücklichen Wort Gottes und von den Geboten Gottes zu Menschensatzungen und eigenen Fantasien abgewichen sind. Denn zu Zeiten des Gregorius Magnus, des römischen Bischofs, ist dieser falsche Wahn eingerissen vom Fegefeuer und dass man für die Toten Messen halten soll, und es sind haufenweise Menschensatzungen in der Kirche eingeführt worden.“[9]

Die Frage nach der Entrückung der Gemeinde stellte sich den Auslegern gar nicht erst. Sie muss wohl im Zusammenhang des Dispensationalismus entstanden sein, also erst ab dem 19. Jahrhundert, möglicherweise verbunden mit dem verständlichen Wunsch, hier einen Schriftbeleg für die Entrückung der Gemeinde vor dem Auftreten des Antichristen zu finden. Doch selbst Vertreter der Vorentrückungslehre wie Arnold Fruchtenbaum verstehen apostasia als Glaubensabfall: „Das erste Ereignis ist der Abfall der Kirche und das zweite das Offenbarwerden des Menschen der Sünde, des Sohnes des Verderbens.“[10]

Schlussfolgerung

Woods führt 10 Gründe an, die seiner Meinung nach dafür sprächen, dass apostasia in 2 Thess 2,3 als physischer Weggang und in der Folge als Entrückung übersetzt werden sollte. In seiner Schrift erhebt er folgenden Vorwurf: „Warum sollte man in das Wort apostasia einen Glaubensabfall hineinlesen, wenn doch der Zusammenhang sehr eindeutig von Dingen handelt, die sich auf eine physische Wegnahme beziehen?“ In keiner Weise konnte der Autor zeigen, dass Paulus mit apostasia etwas anderes meinte als Glaubensabfall. Der Vorwurf des Hineinlesens (Eisegese) geht ins Leere, ja fällt sogar auf Woods zurück. Er ist es, der gegen das Zeugnis der Septuaginta und des Neuen Testaments, gegen den Befund der griechischen Wörterbücher, gegen eine zweitausend Jahre alte Auslegungstradition und gegen alle gängigen Bibelübersetzungen dem Begriff eine in diesem Zusammenhang ganz neue Bedeutung beimessen will. Aus exegetischer Sicht eine Geisterfahrt. Geht es ihm wirklich um die korrekte Wiedergabe des Begriffes apostasia? Zweifel daran sind erlaubt. Es scheint, dass es dem Autor um etwas ganz anderes geht. Er schließt seine Broschüre mit den Worten: „Wenn das, was ich hier geschrieben habe, stimmt, dann ist es Zeit, damit aufzuhören, über den Zeitpunkt der Entrückung zu diskutieren. Die Diskussion ist zu Ende. Die Entrückung der Gemeinde wird ‚zuerst‘ stattfinden, bevor die Trübsalszeit beginnt.“

Es scheint Woods vor allem um eines zu gehen: das Ende der theologischen Debatte um den Zeitpunkt der Entrückung. Würde apostasia Entrückung bedeuten, wäre die Diskussion tatsächlich beendet. Dann wäre bewiesen, dass die Entrückung vor der Trübsal stattfinden wird. Diesen Beweis konnte der Autor nicht führen. Für die Wiederkunft Jesu und die Entrückung der Gemeinde gilt auch weiterhin die Lehre des Apostels: „Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch des Frevels offenbart werden, der Sohn des Verderbens.“ (2 Thess 2,3).

Johann Hesse, Geschäftsführer des Gemeindehilfsbundes

[1] Walter Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, 6. völlig neu bearbeitete Auflage von Kurt und Barbara Aland, Walter de Gruyter, Berlin 1988, Sp. 197.

[2] Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 1, Gerhard Kittel (Hg.), W. Kohlhammer, Stuttgart 1933, S. 510.

[3] Walter Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, 6. völlig neu bearbeitete Auflage von Kurt und Barbara Aland, Walter de Gruyter, Berlin 1988, S. 197. Sp. 1271.

[4] https://epistolae.ctl.columbia.edu/letter/1291.html.

[5] nisi, inquit, uenerit discessio primum — quod Graece dicitur apostasia, ut omnes gentes, quae Romano imperio subiacent, recedant ab eis — et reuelatus fuerit —id est ostensus, quem omnium prophetarum uerba praenuntiant — homo peccati — in quo fons omnium peccatorum est — et filius perditionis — id est diaboli;

[6] Chrysostomos, Commentary 2 Thessalonians, The Nicene and Postnicene Fathers, First Series, Volume 13, The Sage Digital Library Collection, Hg. Von Philip Schaff.

[7] Langes Bibelwerk, Karl August Auberlen und Christoph Johannes Riggenbach, Die beiden Briefe Pauli an die Thessalonicher, Verlag von Velhagen und Klasing, Bielefeld und Leipzig 1867, S. 113.

[8] Bibel – Das Alte und das Neue Testament – Mit Erklärungen von Dr. Lucas Osiander (1604), Dolle-Verlag, S. 6073.

[9] Ebenda.

[10] Arnold G. Fruchtenbaum, Handbuch der Biblischen Prophetie, Verlag Schulte und Gerth, Asslar 1984, S. 331.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 9. Februar 2022 um 11:45 und abgelegt unter Gemeinde, Kirche, Theologie.