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Gottesdienst in Zeiten von Corona

Als ich gerade angefangen hatte, diesen Beitrag zu schreiben, erreicht mich die Nachricht, dass die Mutter eines afghanischen Kirchenasylanten an Covid 19 gestorben ist. Vor sieben Jahre hatte er sich in Schweden taufen lassen, hatte seitdem vergeblich um ein Aufenthaltsrecht in Schweden gekämpft und musste jetzt nach sieben Jahren als engagierter Christ vor seiner Abschiebung nach Afghanistan aus Schweden nach Deutschland fliehen. Immer hatte er gehofft, seine Mutter noch einmal sehen zu können. Jetzt ist es zu spät. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele enge Familienangehörige von Gliedern unserer Gemeinde im Iran und Afghanistan seit dem vergangenen Jahr an Covid 19 gestorben sind – die meisten jünger als ich und wenige Tage vor ihrer Erkrankung noch ganz gesund.

Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Glieder unserer Gemeinde an Covid 19 erkrankt waren und sind – sicher über 200, nicht wenige mit Krankenhausaufenthalt und jetzt mit Long Covid. Keiner hat sich bei uns im Gottesdienst angesteckt – aber Corona-Leugner oder Corona-Verharmloser dürfte man in unserer Gemeinde schwerlich antreffen. Ich kann keinen Beitrag darüber schreiben, was für wunderbare neue Chancen und Aufbrüche die Corona-Pandemie in unserer Gemeinde eröffnet hat. Die Corona-Pandemie ist für unsere Gemeinde eine Heimsuchung, die uns auch in unserer missionarischen Arbeit schwer getroffen hat. Gemeinsame Gottesdienste mit 300 Teilnehmern am Sonntag, gemeinsame Mittagessen nach dem Gottesdienst, Kindergottesdienste während der großen Gottesdienste, der persische Chorgesang, die Erfahrung intensiver Gemeinschaft miteinander – alles, was uns so selbstverständlich erschien, wurde uns aus den Händen geschlagen und konnte nicht einfach mal durch anderes ersetzt werden.

Natürlich haben wir auf die Herausforderungen reagiert: An die Stelle des großen Sonntagsgottesdienstes und der beiden weiteren Gottesdienste in der Woche sind nun etwa 15 „kleine“ Sakramentsgottesdienste pro Woche mit jeweils etwa 30-40 Teilnehmern, schön coronavorschriftenkonform, getreten. Weit über 1000 solcher Sakramentsgottesdienste in Kurzform haben wir seit Mai letzten Jahres bei uns gefeiert. Allein die Terminvergabe und die Erstellung der Anwesenheitslisten sind schon eine gewisse logistische Herausforderung. An die Stelle der Kindergottesdienste sind Familiengottesdienste getreten; dazu kommen regelmäßige Konfirmanden- und Jugendgottesdienste. Unsere bisherigen zweisprachigen Gottesdienste mussten wir notgedrungen in jeweils einsprachige Gottesdienste umwandeln – zwei deutsche, zwölf farsisprachige Gottesdienste und dazu noch ein englischer Gottesdienst. Ein Nebeneffekt dabei ist der, dass ich nun jede Woche zwölf Predigten auf Farsi halte – so weit waren wir vor der Pandemie nicht. Und das hat sich nun doch auch als ein Segen für unsere Gemeindeglieder herausgestellt. Und doch schmerzt es unsere Gemeindeglieder alle miteinander sehr, dass sie sich einander so wenig sehen können, dass vor allem der Kontakt zwischen deutschen und iranischen/afghanischen Gemeindegliedern durch diese Aufteilung weniger geworden ist.

Wenn ich der Corona-Pandemie in Bezug auf unsere Gemeinde und die Kirchen insgesamt etwas Gutes abgewinnen kann, dann allein dies, dass sie eine Krise im besten Sinne des Wortes ist – eine Zeit, in der Entscheidungen gefallen sind und fallen, die auch langfristige Auswirkungen haben werden. Eine Krise war und ist die Corona-Pandemie hinsichtlich des Verständnisses von Gottesdienst überhaupt – und besonders hinsichtlich des Verständnisses des Heiligen Altarsakraments.

Wenige Wochen nach dem allgemeinen Verbot von Gottesdiensten zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 wies das Verwaltungsgericht Berlin eine Klage eines Pfarrers gegen das Gottesdienstverbot mit der Begründung zurück: „Der Kernbereich der Religionsfreiheit werde nicht berührt. Kirchenbesuche zur individuellen stillen Einkehr blieben weiter erlaubt, ebenso private Andachten im Kreis der Haushaltsangehörigen. Ferner bestehe die Möglichkeit, Gottesdienste auf elektronischem Wege zu übertragen und als gläubiger Mensch entsprechende Angebote zu nutzen.“[1] [1] Ganz offen erklärte das Verwaltungsgericht Berlin, dass das Verbot der Teilhabe an den Sakramenten im Gottesdienst den Kernbereich der Religionsfreiheit nicht berühre. Diese Argumentation erleben wir im selben Verwaltungsgericht immer wieder neu auch in Bezug auf konvertierte christliche Asylbewerber, deren Klagen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft immer wieder mit denselben Argumentationsmustern abgelehnt wird: Dass ein Christ auf die Teilhabe an den Sakramenten nicht verzichten könne, sei „nicht nachvollziehbar“, da es im christlichen Glauben doch nur um die Vermittlung von Regeln und Werten ginge. Von daher könne es auch Christen, die sich darauf berufen, dass sie ohne die Teilhabe am Heiligen Altarsakrament nicht leben könnten, zugemutet werden, wieder zum Islam zurückzukehren. Der Staat setzt eine Staatsreligion als Norm, in der der öffentliche Gottesdienst und die Sakramente keine Rolle mehr spielen. Zum Kernbereich der Religionsfreiheit gehörten nur stille Einkehr, private Andachten und Gottesdienste auf elektronischem Weg. Bezeichnend war das ohrenbetäubende Schweigen der Kirchen zu dieser staatlichen Definition der Religionsfreiheit, die in jener Zeit auch von der Bundesregierung öffentlich vertreten wurde.[2] [2] Auch von ihr wurden wiederholt die elektronischen Gottesdienste als Ersatz für die gottesdienstlichen Versammlungen mit Sakramentsfeier benannt.[3] [3] Lediglich der Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Hans-Jörg Voigt, hat damals im April 2020 in einem Offenen Brief gegen diese Urteilsbegründung des Berliner Verwaltungsgerichts protestiert.[4] [4]

In unserer Gemeinde haben wir damals ganz bewusst auf „elektronische Gottesdienste“ verzichtet. Die Gemeindeglieder bekamen auf elektronischem Wege jeden Morgen und Abend eine Anleitung zu einer Hausandacht mit Auslegung auf Deutsch und Farsi zugeschickt. Keinesfalls wollten wir aber auch nur ansatzweise den Eindruck erwecken, als ob elektronische Gottesdienste ein Ersatz für die gottesdienstliche Versammlung der Gemeinde um den Altar sein könnten. Den Wegfall der Sakramente in dieser Zeit haben wir als Gericht Gottes in dieser Zeit getragen.

Als Anfang Mai 2020 die Gottesdienste wieder erlaubt wurden, mussten wir angesichts der Corona-Auflagen Entscheidungen treffen, was für uns als Gemeinde unabdingbar ist, wenn wir wieder Gottesdienste feiern: Dazu gehörte für uns zunächst einmal die leibliche Versammlung der Gottesdienstteilnehmer, das Hören auf Gottes Wort und der Empfang von Leib und Blut Christi. Vieles andere musste im Gottesdienst eingeschränkt werden oder auch wegfallen. Doch Wort und Sakrament als die beiden Säulen des Gottesdienstes traten auf diese Weise in den vielen Kurzgottesdiensten, die wir jede Woche an fast jedem Tag feierten und bis jetzt feiern (sonntags jeweils gleich sechs), noch deutlicher erkennbar heraus. Nie und nimmer wäre es für die Glieder unserer Gemeinde vorstellbar gewesen, dass wir Gottesdienste ohne Sakramentsfeier anbieten. Es war im Gegenteil für mich selber bewegend zu erleben, wie viele unserer Gemeindeglieder weiterhin bis zu drei Stunden Anfahrt zum Gottesdienst auf sich nahmen, nur um in den zunächst nur 45 Minuten dauernden Gottesdiensten Gottes Wort hören und Leib und Blut Christi empfangen zu können.

Bald merkten wir in unserer Umgebung, dass wir mit dieser Haltung nicht unbedingt eine Mehrheit darstellten: In vielen Kirchen wurde über viele Monate hinweg überhaupt auf die Feier des Heiligen Abendmahls verzichtet. Selbst römisch-katholische Bischöfe sprachen offen darüber, dass man den Kommunionempfang doch auch einmal ein halbes Jahr aussetzen könne – so wichtig sei er nun auch wieder nicht. Und daneben wurde immer offener das Angebot von Internet-Gottesdiensten als Gestalt der Kirche der Zukunft angepriesen: Die Vorstellung, man müsse sich zum Gottesdienst in einer Kirche versammeln, sei überholt, wenn sich doch alle genauso gut auch vor ihrem Laptop zum Anschauen des Gottesdienstes einfinden könnten. Und stolz wurde dann darauf verwiesen, dass die Zahl derer, die diese Online-Gottesdienste angeklickt hätten, doch sehr viel höher sei als die Zahl derer, die sich sonst immer in der Kirche eingefunden hätten.

Ja, eine Krisenzeit war und ist die Corona-Pandemie für das Verständnis von Gottesdienst und Sakrament: Wo den Gemeindegliedern durch die kirchliche Praxis nahegebracht wurde, dass das Altarsakrament ein durchaus verzichtbarer Bestandteil des Gottesdienstes sei, dürften die geistlichen Langzeitfolgen dieser Entscheidungen in der Zukunft unübersehbar werden: Als ornamentales Beiwerk des Gottesdienstes wird das Sakrament in der Frömmigkeit der Gemeindeglieder immer weiter an Stellenwert verlieren. Und wo die Kirche meint, sich mit digitalen Gottesdienstangeboten zur Kirche der Zukunft entwickeln zu können, vertritt sie nicht nur ein neognostisches Verständnis von Gottesdienst, in dem für die Leiblichkeit des Glaubens letztlich kein Platz mehr ist, sondern wird wohl auch sehr bald erfahren, dass sie bei einer solchen Entwicklung am Ende nur verlieren kann: Selbst da, wo sich die Kirche in diesem Bereich um Professionalität bemüht, wird sie mit anderen digitalen Angeboten ganz grundsätzlich kaum mithalten können und dazu letztlich auch einem unverbindlichen Verständnis von Glauben und Gottesdienst Vorschub leisten, den man sich je nach Bedürfnis mit einem Klick nebenbei anschauen und den man dann aber ebenso schnell auch wieder wegklicken kann.

Wir haben in unseren Gottesdiensten auf jegliche „Gags“ und Attraktionen verzichtet. Und doch ist die Zahl der Gottesdienstteilnehmer in der Corona-Pandemiezeit nicht weniger geworden, wenn nun auch auf viele kleine Gottesdienste in der Woche verteilt. Die Gemeindeglieder haben verstanden, warum es für sie unverzichtbar ist, auch weiter zum Gottesdienst zu kommen – und es sind neben all den Neugetauften, die auch in dieser Zeit zu uns dazugekommen sind, auch auffallend viele neue Gemeindeglieder zu uns gekommen, die es nicht verstanden haben, warum sie in ihrer bisherigen Gemeinde monatelang auf Präsenzgottesdienste und Sakramentsfeiern verzichten sollten.

Bei den Sakramentsfeiern selber haben wir darauf geachtet, sie möglichst dicht an der Gestalt zu lassen, wie sie vor der Corona-Pandemie üblich war und, Gott geb’s, eines Tages auch nach dem Wegfall der Corona-Beschränkungen in unserer Gemeinde wieder sein wird. Dazu gehört der kniende Empfang des Sakraments in der Form der Intinctio[5] [5] und die Mundkommunion (die jeweils mit einer Desinfektion der Finger nach jedem Kommunikanten verbunden ist). Gerade unsere iranischen und afghanischen Gemeindeglieder haben ein sehr feines Gespür für solche liturgischen Gesten und wissen, wie und warum diese Ausdruck unseres Bekenntnisses zur Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi sind.

Können andere Gemeinden von unseren Erfahrungen etwas lernen? Wahrscheinlich wohl nur dies eine: Wir haben unsere Kräfte nicht dafür aufgewendet, unsere Gemeindeglieder mit irgendwelchen besonderen Aktionen „bei der Stange“ zu halten oder anzulocken. Wir haben ihnen mit der Konzentration auf die Feier der Sakramentsgottesdienste ein deutliches Zeichen gegeben, das sie verstanden haben, wie die ungebrochene Teilnahme an den Gottesdiensten zeigt. Denn am Ende zählt doch nur dies eine: „In dieser schwern betrübten Zeit verleih uns, Herr, Beständigkeit, dass wir dein Wort und Sakrament erhalten rein bis an das End.“[6] [6]

Pfr. Dr. Gottfried Martens, Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche Berlin-Steglitz

Quelle: CA – Das lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur (III/IV 2021)

Das CA-Magazin kann hier [7] bezogen werden.

[1] [8] https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.917896.php

[2] [9] vgl. hierzu auch: Gottfried Martens: Religionsfreiheit in Corona-Zeiten, in: Informationsbrief der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ Nr. 322 (Juni 2020) S.17-19. Es ist bezeichnend, dass auch in der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes vom November 2020 die Möglichkeit der Untersagung von religiösen Versammlungen ausdrücklich nicht als Einschränkung des Grundrechts der Religionsfreiheit bezeichnet wird. Vonseiten von CDU/CSU und SPD besteht man, wie die Abstimmung im Bundestag gezeigt hat, weiterhin darauf, dass die Feier von Gottesdiensten mit Sakramentsempfang nicht zum Kernbereich der Religionsfreiheit gehört.

[3] [10] Erfreulich war immerhin, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 10. April 2020 dieser Auffassung sachlich doch deutlich widersprochen hat, wenn es das Gottesdienstverbot als „überaus schwerwiegende(n) Eingriff in die Glaubensfreiheit“ bezeichnet und die Argumentation des Klägers, dass die gemeinsame Feier der Eucharistie nicht „durch alternative Formen der Glaubensbetätigung wie die Übertragung von Gottesdiensten im Internet oder das individuelle Gebet kompensiert werden“ könne, als „nachvollziehbar“ und plausibel bezeichnet hat. (https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/qk20200410_1bvq002820.html)

[4] [11] https://www.selk.de/index.php/newsletter/6109-offener-brief-an-berliner-verwaltungsgericht-16-04-2020

[5] [12] Der Leib Christi wird in den Kelch mit dem Blut Christi eingetaucht; Leib und Blut Christi werden so den Kommunikanten gemeinsam gereicht.

[6] [13] Nikolaus Selnecker (ELKG 207,2)