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Was ist eigentlich die Entrückung?

Christen warten auf die Wiederkunft Jesu. Manche Gläubige bezeichnen jedoch das zukünftige prophetische Ereignis, das sie erwarten, als „die Entrückung“. Die Bibel lehrt in 1. Thessalonicher 4,17, dass die Gläubigen „entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen“, und zwar bei der Wiederkunft des Herrn (Vers 16). Das griechische Wort für „entrücken“ (harpazo) bedeutet auch „(ent)reißen“ (Mt 11,12; 13,19; Jud 1,23); „gewaltsam ergreifen“ (Joh 6,15; Apg 23,10) oder „rauben“ (Joh 10,12.28). Im Alten Testament wurden Henoch (1Mo 5,24) und Elia (2Kö 2,11) ebenfalls in den Himmel entrückt, anstatt auf der Erde leiblich zu sterben. Die Gläubigen, die bei der Wiederkunft Christi noch leben, werden also nicht leiblich sterben, sondern „verwandelt werden“ (1Kor 15,51-52).

1. Korinther 15,51-52 ist die zweite Schriftstelle, die die Entrückung der Gläubigen bei der Wiederkunft des Herrn beschreibt, jedoch ohne das Wort an sich zu verwenden. Das Wort selbst finden wir im Neuen Testament noch bei Philippus, der nach der Bekehrung des Kämmerers aus Äthiopien an einen anderen Ort entrückt wurde (Apg 8,39) und im 2. Korintherbrief, wo Paulus von jemandem erzählt (wahrscheinlich von ihm selbst), der visionshaft „in den dritten Himmel entrückt“ wurde (2Kor 12,2.4). Außerdem wird in Offenbarung 12,5 der kindliche Messias zu Gott entrückt. Die Himmelfahrt Jesu ist auch eine Art Entrückung, und Christen werden nicht nur wie Jesus auferstehen, sondern dürfen wie er auch eine Himmelfahrt in die Wolken erleben. Das Schöne und Erhoffte daran ist natürlich nicht diese Attraktion, die vermutlich noch viel cooler sein wird wie jede Achterbahnfahrt oder wie Bungeespringen, sondern die Hauptsache ist, dass wir dann „allezeit beim Herrn sein“ (1Thes 4,17) werden. Mit dieser wunderbaren Aussicht sollen wir „einander ermuntern“ (Vers 18).

Wann geschieht die Entrückung?

Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts sind viele Christen zu der Überzeugung gelangt, dass die Entrückung der Gemeinde geraume Zeit vor der Wiederkunft Jesu stattfinde, nämlich vor Beginn der Drangsalszeit. Je nach Endzeit-Modell verorten sie die Entrückung dreieinhalb oder sieben Jahre vor der öffentlich sichtbaren Wiederkunft des Herrn. Ich selbst habe das viele Jahre lang geglaubt, bis ich in einem Hauskreis herausgefordert wurde, diese Sichtweise anhand der Bibel zu belegen. Das konnte ich nicht, denn es gibt keine Schriftstelle, die eine solche „Vorentrückung“ (vor der Drangsal) lehrt.

Der Schlüsselstelle 1. Thessalonicher 4 zufolge findet die Entrückung ausdrücklich dann statt, wenn „der Herr selbst … vom Himmel herabkommt“, „…bei der Posaune“, zusammen mit bzw. unmittelbar nach der Auferstehung der verstorbenen Gläubigen (1Thes 4,16). Auch 1. Korinther 15,23 lehrt genau diese einfache Reihenfolge: Zuerst ist Jesus auferstanden, und wenn er wiederkommt, werden die verstorbenen Gläubigen auferstehen und zusammen mit den noch lebenden Gläubigen „bei der letzten Posaune“ (15,52) entrückt werden, und dann kommt „das Ende“ (Vers 24). Die Posaune von 1. Thessalonicher 4,16 ist also offenbar wirklich die „letzte Posaune“. Kein kompliziertes Auslegungsmodell könnte plausibel wegerklären, dass die Entrückung zeitlich mit der Wiederkunft Jesu zusammenfällt.

Außerdem verdeutlicht die Aussage, dass die Gläubigen dem Herrn „entgegen gerückt“ werden (1Thes 4,17) den Ablauf der Entrückung: Diese Formulierung zeigt, dass nicht der Herr den Gläubigen in die Luft entgegen kommt, um mit ihnen wieder zurück in den Himmel zu gehen (so die Vorentrückungslehre), sondern dass die Gläubigen dem Herrn bei seinem Kommen auf die Erde „entgegen“ gerückt werden. Die Verwendung des Wortes „entgegen“ hat im Neuen Testament die Bedeutung, dass jemand einer Person entgegengeht, um diese Person auf ihrem weiteren Weg zu begleiten, und nicht umgekehrt: In Matthäus 8,34 geht „die ganze Stadt Jesus entgegen“; in Matthäus 25,1.6 gehen die Brautjungfern dem Bräutigam entgegen; in Matthäus 28,9 kommt der auferstandene Herr den Frauen auf ihrem Weg vom Grab zu den Jüngern entgegen, und in Apostelgeschichte 28,15 kamen Christen aus Rom Paulus auf seinem Weg nach Rom entgegen. Der Vorentrückungslehre zufolge würde also bei der Entrückung der Herr den Christen entgegen kommen (um dann mit ihnen wieder in den Himmel zurückzukehren), aber die Schrift formuliert es genau umgekehrt; Jesus ist auf dem Weg zur Erde und die Gläubigen werden ihm auf seinem Weg aus dem Himmel zur Erde entgegengerückt. Er kommt dann mit einer riesigen Ehren-Eskorte, „mit allen seinen Heiligen“ (1Thes 3,13), auf die Erde.

Keine Gemeinde ab Offenbarung 4?

Manche wenden ein, die Gemeinde sei in den Endzeitabläufen ab Offenbarung 4 nicht mehr auf der Erde, weil das Wort „Gemeinde“ in den Kapiteln 4-21 nicht vorkommt, also sei die Gemeinde auch nicht in den in Kapitel 6-18 beschriebenen Drangsalen gegenwärtig. Das ist jedoch ein exegetisch sehr schwaches „Argument aus dem Schweigen“, mit dem genauso gut behauptet werden könnte, dass die Gemeinde dann auch nicht im Himmel ist, denn ein Großteil der Visionen des Johannes findet im Himmel statt. Und man könnte mit diesem Argument auch belegen, dass das Volk Israel ab Kapitel 7 nicht mehr auf der Erde sei, denn von Kapitel 7,5 – 21,11 kommt das Wort „Israel“ ebenfalls nicht vor.

Die gesamte Vorentrückungs-Theorie beruht auf der Grundannahme, dass es zwei getrennte Völker Gottes gebe: Israel und die Gemeinde. Das ist die Kernlehre des sogenannten Dispensationalismus. Aber wenngleich man „Israel“ (dafür gibt es viele Definitionen) und „die Gemeinde“ unterscheiden kann im Sinne einer Differenzierung, kann man sie nicht als zwei getrennte Völker Gottes strikt trennen, denn Gott hat nur ein Volk und Jesus nur eine Braut, für die er sein Leben gegeben hat. Ganz offensichtlich kommen in den betreffenden Kapiteln der Offenbarung Gläubige vor – unter verschiedenen Bezeichnungen. Aber wenn diese Gläubigen erlöst sind durch das eine Erlösungswerk vom Kreuz, dann sind sie auch vereint in dem einen neutestamentlichen Volk Gottes aus Juden und Heiden (vgl. z.B. Eph 2,11 – 3,13; den einen Ölbaum aus Röm 11 etc.). Das Volk Gottes des Neuen Bundes ist eins, am Kreuz vereint worden zum einen Leib all derer, die an den Herrn Jesus glauben. Da ist nicht Jude noch Grieche. Und es kann kein Zurück in den Alten Bund und ein israelitisches Zeitalter geben, das würde dem Hebräerbrief eklatant widersprechen.

Ein weiteres Problem mit der Vorentrückungslehre ist: Wenn nach der Entrückung der Gemeinde noch Gnade für Israel (im Sinne ethnischer Juden) besteht, dann verliert Mission insbesondere unter Juden ihre Bedeutung und Dringlichkeit. Die Hoffnung, dass nach der Entrückung noch Rettung möglich ist, ist sehr trügerisch. Der Hebräerbrief ruft ausdrücklich auf: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht …“ (Hebr 3,7.15; 4,7) und „solange es heute heißt …“ (3,13). Kritisch ist auch die These der Vorentrückungslehre, dass die Gläubigen aus alttestamentlicher Zeit gar nicht bei der ersten Auferstehung und Entrückung dabei seien, obwohl der Hebräerbrief ausdrücklich bezeugt, dass die AT-Gläubigen „nicht ohne uns vollendet werden“ (Hebr 11,40).

Der Ausdruck „komm hier herauf“ in Offenbarung 4,1 kann schwerlich mit der Entrückung der Gemeinde in Verbindung gebracht werden, wie es manche Vorentrückungs-Vertreter tun. Obwohl sie ansonsten sehr auf eine möglichst buchstäbliche Auslegung der Bibel bedacht sind, gehen sie hier weit über die Textaussage hinaus und sehen hier (und auch in Offenbarung 3,10) eine Entrückung der Gemeinde, die aber in diesen Texten ebenso wenig zu finden ist wie in irgendeiner anderen Schriftstelle. Wenn Johannes eine in den Himmel entrückte Gemeinde repräsentiert, wäre es seltsam, dass er im Verlauf der Offenbarung doch immer wieder eine irdische Perspektive einnimmt (10,1;11,1; 13,1; 14,1; 18,1). Er ist jemand, „der das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt hat“ (1,2; vgl. 1,9) und damit ist er Repräsentant gerade derer, die wegen dieser Dinge in der Drangsal leiden (Offb 6,9; 12,11.17; 19,10).

Die Offenbarung hat zwar eine zeitliche Dreiteilung in „das, was du gesehen hast, was ist, und was nach diesem sein wird (1,9; was eine Unterteilung in Kapitel 1, Kapitel 2-3 und Kapitel 4-22 nahelegt), aber ganz strikt lässt sich keiner drei Teile isoliert auf ein begrenztes Zeitalter reduzieren. Die Offenbarung ist nicht strikt chronologisch aufgebaut, sondern hat mehrere rekapitulierende Zyklen, die mehrmals eskalierend die Zeit vom ersten bis zum zweiten Kommen Jesu beschreiben. Auch in den Sendschreiben in Kapitel 2-3 ist mehrfach von der gesamten Zeitperiode bis zur Wiederkunft Jesu die Rede. Aus Thyatira z.B. werden manche als Zuchtmaßnahme „in große Drangsal“ (2,22) geworfen; die Treuen sollen das Gute festhalten, „bis ich komme“, sagt Jesus in Vers 25, und seine Werke „bis ans Ende bewahren“ (Vers 26). Die reiche Bildersprache der Sendschreiben ist eng verwoben mit denselben Bildern, die in den restlichen Kapiteln der Offenbarung wieder aufgegriffen werden.

Würde die Bibel eine Entrückung der Gemeinde vor der Drangsalszeit lehren, dann würde das Buch der Offenbarung ohnehin seinen ganzen Sinn und Zweck verlieren. Die Offenbarung ist ein Trostbuch für bedrängte, treue Gläubige, das sie durch den Blick auf den bevorstehenden Triumph Jesu zum Durchhalten anspornt und kräftigt, und das sie davor warnt, den vielen Antichristen, die in der Welt sind (1Jo 2,18; einschließlich des einen schlimmsten, 2Thes 2,3) auf dem Leim zu gehen. Das ist die große Gefahr der Vorentrückungslehre: Sie geht davon aus, dass alles, was der Gemeinde widerfährt, nicht die große Drangsal und der letztendliche Antichrist sein kann.

PS: Es ist gut, über solche Lehrfragen zu diskutieren, aber nicht gut, sich deswegen zu streiten! Bitte streitet und verurteilt euch nicht, wenn ihr unterschiedliche Ansichten habt. Fragen der Endzeitabläufe sind nicht heilsentscheidend. Ich selbst bin in einer Gemeinde, die vorwiegend die Vorentrückungslehre vertritt, und wir haben uns trotzdem gegenseitig lieb und schätzen uns als Geschwister sehr. Seid sicher: das geht!

Hans-Werner Deppe

Quelle: Timotheus, Heft Nummer 43 (2/2021), Seiten 15-16.

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