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Gift direkt ins Herz

Uwe Siemon-Netto
Gift direkt ins Herz

Mit seiner liberalen Abtreibungspolitik stößt Präsident Barack Obama auf Widerstand. Vor Kliniken kommt es verstärkt zu Demonstrationen. Selbst Universitätswissenschaftler protestieren im akademischen Ornat. 
Die Anlage von Planned Parenthood (PP) in St.Louis hat die Aura einer Stasi-Außenstelle an der früheren innerdeutschen Grenze. Es macht den Betrachter nicht froher, dass vor dem Eingang ein scheinbar lustiges Firmenauto dieses mächtigsten Abtreibungskonzerns der USA parkt, ein zweifarbig gespritzter VW Super Beetle mit der Aufschrift Choice is Power. Will heißen: Wer die Wahl hat, seine Leibesfrucht zu töten, hat auch Macht.

Seit Barack Obamas Amtsantritt sind etwas mehr als 100 Tage vergangen. Aber schon läuft nach Ansicht des republikanischen Vordenkers Newt Gingrich der inneramerikanische Krieg der Kulturen auf Hochtouren. In diesem Konflikt ist Planned Parenthood zu Deutsch etwa: geplante Elternschaft mit seiner Kette von fast 900 Kliniken eine der schärfsten Waffen auf der Seite der Abtreibungsbefürworter.

Der PP-Chefarzt in St. Louis heißt Robert Crist. Schon vor zehn Jahren hatte er der Lokalzeitung Post Dispatch mitgeteilt, er habe bereits mehr als 100 000 Schwangerschaften beendet. Bei dieser Zahl verschlug es damals sogar einigen Medienmachern den Atem. Mittlerweile hat die US-Presse aufgehört, regelmäßig Berichte zu veröffentlichen, in denen die Leidensgeschichte der Ungeborenen in ein unerquickliches Licht gestellt wird.

An einem Frühjahrsnachmittag nun ereignet sich an dieser beklemmenden Stätte ein unerhörter Vorgang. Da tauchen unvermittelt etwa 60 Gelehrte im akademischen Ornat auf. Es waren zumeist Theologieprofessoren, teils strenggläubige Lutheraner, teils Katholiken. Aber es waren auch Religionssoziologen darunter und der Mathematiker Charles Ford, der zugleich ein renommierter Bonhoeffer-Spezialist ist.

Schweigend schreiten sie auf dem Bürgersteig vor Planned Parenthood auf und ab. Mitunter stellen sie sich zwischen die Demonstranten, die hier jeden Tag von sieben bis 19 Uhr beten und fasten; das sind vorwiegend schlichte Gemeindeglieder aus der Erzdiözese St. Louis. Einige Autofahrer, vorwiegend junge Frauen, lassen ihre Wagenfenster herunter, zeigen den Betern ihren Mittelfinger und lassen Ströme von Unflätigkeiten ab.

Andererseits hupen Fernfahrer den Demonstranten Mut zu. Ein junger Schwarzer mit einem kleinen Jungen an der Hand geleitet die Prozession der Talarträger eine Weile. Daddy, warum tun diese Männer das?, fragt das Kind. Der Vater zeigt auf das PP-Gebäude und sagt: Wenn deine Mutter dort gelegen hätte, dann wärst du heute nicht auf der Welt. Ein älterer Schwarzer schiebt seinen Enkel vor den lutherischen Theologieprofessor Joel Biermann und bittet ihn: Erklären Sie diesem Kind, was Abtreibung ist. Mein Enkel glaubt nämlich, dass dies dasselbe sei wie Adoption. Als die Professoren zu ihren Autos zurückkehren, rufen ihnen drei Müllmänner von einem Nachbargrundstück hinterher: Habt Dank, seid gesegnet, kommt bitte bald wieder.

Die Demonstration hat zu einem Zeitpunkt stattgefunden, da sich der elektronische Zähler auf der Webseite der Lebensrechtsorganisation American Life League unerbittlich auf die 50-Millionen-Marke zubewegt. Fünfzig Millionen: So viele Kinder sind in den USA im Mutterleib getötet worden, seit der Oberste Gerichtshof 1973 das Recht auf Abtreibung für verfassungskonform erklärt hat.

Im Jahr 1990 schnellte die Zahl der jährlichen Aborte auf 1,6 Millionen, sank aber dann allmählich auf eine Million, unter anderem, weil die moderne Gynäkologie es nunmehr Schwangeren ermöglicht, ihre Babys bei Ultraschalluntersuchungen live auf Bildschirmen zu sehen. Weshalb also plötzlich ein so spektakulärer Akt wie die Protestprozession von Lebensschützern im akademischen Gewand?

Der Anlass dazu war die Hiobsbotschaft aus dem Weißen Haus, dass der neue Präsident Barack Obama ausgerechnet die Gouverneurin von Kansas, Kathleen Sebelius, zu seiner Gesundheitsministerin nominiert hatte. Diese Frau, eine Katholikin, führt nach Angaben ihres früheren Erzbischofs Ignatius Strecker mit ihrer Abtreibungsideologie den Todesmarsch der Ungeborenen an. Ihre Kür ist nur eines von mehreren Signalen, dass die Abtreibungsgegner derzeit den US-Kulturkampf zu verlieren scheinen, wie James Dobson, der Vorsitzende der evangelikalen Organisation Focus on the Family, es formuliert.

Solche Signale häufen sich. Da bietet Obama der Radikalfeministin Dawn Johnson einen Spitzenposten im US-Justizministerium an. Da versucht er einen Abtreibungsbefürworter nach dem anderen als Botschafter an den Vatikan zu schicken, freilich erfolglos, weil der Papst immer wieder Nein sagt; die letzte gescheiterte Kandidatin ist Präsident John F. Kennedys Tochter Caroline. Da hebt Obama das Dekret seines Vorgängers Bush auf, dass Schwangerschaftsabbrüche im Ausland nicht aus US-Steuermitteln finanziert werden dürften.

Er verspricht dem Frauenverband NOW, eine Gesetzesnovelle zu unterschreiben, die Abtreibungen in jeder Form zulassen und auch kirchliche Krankenhäuser zwingen würde, diese Eingriffe vorzunehmen. Einige katholische Bischöfe haben bereits angedroht, dass sie dann alle 624 Spitäler ihrer Kirche schließen würden.

Aber es ist Kathleen Sebelius, auf die sich zurzeit die stetig anschwellenden Internet-Gebetsgruppen der Lebensrechtler besonders konzentrieren. Denn der Name der Gesundheitsministerin in spe ist unlösbar mit dem des Arztes George Tiller aus Wichita in Kansas verknüpft, eines Fachmanns für Spätabtreibungen, der sich im Internet damit brüstet, bereits 60 000 solcher Eingriffe vorgenommen zu haben, und wöchentlich 100 weitere Kinder unmittelbar vor der Geburt tötet.

Kaum war sie für den Ministerposten nominiert, da stellte sich heraus, dass Sebelius eine Wahlkampfspende Tillers von 23 000 Dollar entgegengenommen, aber nicht deklariert hatte. Dann tauchte ein Brief Tillers auf, in dem er angab, vor sieben Jahren sogar 200 000 Dollar einem politischen Aktionskomitee für Sebelius gespendet zu haben, auf dass sie im Kampf ums Gouverneursamt von Kansas einen Lebensrechtler schlage.

Tiller gilt als ein dermaßen potenter Mäzen der Demokratischen Partei, dass Präsident Bill Clinton ihn nach Angaben der Washington Post 1997 zum Kaffee ins Weiße Haus einlud, und zwar zum Dank für einen Tiller-Scheck von 25 000 Dollar für das Demokratische Nationalkomitee.

Mit Tiller assoziiert zu werden schadet freilich dem Renommee sogar in nichtkonservativen Kreisen, wie der lange und wenig schmeichelhafte Artikel in der liberalen Washington Post über den Besuch im Weißen Haus zeigte. Tillers Name hat Hautgout. Er ist ein Mann, der den Begriff Killerkitsch personifiziert.

Als ein Gemeindeleiter der konservativen lutherischen Heilig-Geist-Kirche von Wichita ihn auf die Wahrscheinlichkeit seiner Exkommunikation aufmerksam machte, erwiderte Tiller: Ich tue nur das Werk des Herrn. Dies sagte er lange bevor solche Sprüche in manchen christlichen Kreisen Amerikas gesellschaftsfähig wurden; inzwischen versteigt sich sogar die neu ernannte Präsidentin des traditionsreichen anglikanischen Priesterseminars in Cambridge, Massachusetts, Katherine Ragsdale, zu einer ähnlichen Aussage: Abtreibung ist ein Segen.

Tiller entzog sich seiner Exkommunikation, indem er in die liberale Lutheran Church of the Reformation übertrat, wo seine Frau und Geschäftspartnerin Jeanne Devotionen für den Gemeindebrief schreibt. Tiller ist lutherisch genug, um zu wissen, dass Föten keine nutzlosen Zellklumpen sind, sondern Menschen. Er bietet seinen Patientinnen die Taufe ihrer getöteten Kinder an und rät ihnen, sich mit der Leiche ablichten zu lassen. Dieses Baby sieht ziemlich gut aus, sagte er denn auch der Lokalzeitung Wichita Eagle, während er das Foto eines von ihm abgetriebenen Fötus studierte. Tiller beschäftigt in seiner Klinik auch Seelsorger, erst war es ein Methodist, dann eine anglikanische Laienpredigerin. Kurz, NOW-Mitglied Tiller ist nach eigenem Bekennen nicht nur ein engagierter Feminist, sondern auch ein frommer Christ.

So groß ist sein Arbeitspensum, dass er jede Woche Kollegen als Helfer aus anderen Bundesstaaten einfliegt. Eine Ärztin kam bis vor kurzem aus Kalifornien; ihre Lebensgefährtin war pikanterweise eine Hebamme. Ein anderer Tiller-Kollege, LeRoy Carhart, reist aus Nebraska an. Von ihm stammt ein Zitat, das der Omaha World Herald 2001 veröffentlichte: Wir verlangen ja nicht, dass jedem Kind das Gehirn abgesaugt wird. Aber wir müssen weiterhin Frauen, die dies brauchen, sichere Abtreibungen anbieten.

Carhart bezog sich damit auf die meistverbreitete Methode der Spätabtreibung: Dem bereits lebensfähigen Fötus wird eine Schere in den Schädel getrieben. In das so entstandene Loch wird ein Schlauch eingeführt, mit dem der Arzt das Gehirn absaugt und das Baby mühelos aus dem Gebärmutterhalskanal gezogen werden kann. Diese Technik war Anfang der Neunzigerjahre von zwei amerikanischen Ärzten entwickelt worden. Tiller wendet allerdings häufiger ein von ihm entwickeltes System an: Er spritzt dem Ungeborenen Gift direkt ins Herz.

Es mutet seltsam an, dass sich ausgerechnet der Afroamerikaner Barack Obama im Krieg der Kulturen auf die Seite von Leuten wie Tiller und Sebelius stellt. Abtreibung ist ein Genozid gegen Schwarze: Dieser Schriftzug auf einem Transparent vor der PP-Anlage in St. Louis war keine Übertreibung, sondern entspricht den Statistiken aller einschlägigen Institute. Schwarze machen nur 12,3 Prozent der amerikanischen Frauen aus, aber 37 Prozent aller im Mutterleib getöteten Babys sind schwarz; die Hälfte der Schwangerschaften schwarzer Frauen wird gewaltsam beendet.

In manchen Schwarzenvierteln kommen auf jede Lebendgeburt drei abgetriebene Babys, sagt Pastor Clenard Childress, ein afroamerikanischer Pastor. Die Abtreibung ist der größte Killer in unserem Gemeinwesen. In Mülltonnen hinter einer Klinik in Südkalifornien wurden vor einigen Jahren 15 000 tote Föten gefunden; 12000 davon waren schwarz.

Zu den verwirrenden Fakten der amerikanischen Politik gehört es, dass die Schwarzen fast ausschließlich für die Demokraten stimmen, bei denen das Bekenntnis zum Recht auf Abtreibung zum unerschütterlichen Dogma geworden ist. 78 Prozent aller Planned-Parenthood-Kliniken, auch jene in St.Louis, sind in schwarzen Wohngegenden angesiedelt, und dies kommt nicht von ungefähr: Die Gründerin dieser Organisation war die Eugenikerin Margaret Sanger (18791966), die vor dem Ku-Klux-Klan zu sprechen pflegte und für eine rigide Politik der Sterilisation und Segregation schwacher Bevölkerungsteile eintrat, so der Schwarzen, der irischen Katholiken und der Armen. Sanger sagte: Farbige sind Unkraut, das ausgerottet werden muss, schrieb der Lebensrechtler Pastor Childress. Sie war eine der führenden US-Frauenrechtlerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Auf der Abschlussfeier nach einer 40-tägigen Demonstrationskampagne vorwiegend katholischer Christen vor der PP-Anlage in St. Louis erinnerte der Hauptredner an die Worte Dietrich Bonhoeffers: Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt. Dass das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.

 Uwe Siemon-Netto, Rheinischer Merkur vom 7.5.09