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„Gottesfürchtige bekommen die besten Ideen.“ Vom Flüchtlingskind zur Trägerin des Bundesverdienstkreuzes

Am 4. Mai 1934 wurden mein Zwillingsbruder Hans und ich in Tiegenhof geboren, einem Ort in Westpreußen, Landkreis Groß Werder, 36 km südöstlich von Danzig und nur 17 km südlich vom KZ Stutthof mit den drei Verbrennungsöfen. Der Geruch kam bis zu unserem Haus, ich habe ihn jetzt noch in der Nase, wenn ich dort bin. Viele Juden standen immer wieder auf dem Bahnhofsvorplatz gegenüber unserem Elternhaus, jüdische Männer, Frauen und Kinder warteten auf den Weitertransport. Tiegenhof war der Umladebahnhof der Schmalspurbahn auf dem Weg nach Stutthof. Viele weinten.

Ich habe nicht verstanden, warum. Denn bei uns zuhause weinte keiner. Man redete nicht darüber; die Eltern hatten Angst, dass wir Kinder uns verplappern könnten. Also hab ich eines Tages die Frauen direkt gefragt: Warum weint ihr denn? Ich bekam keine Antwort – sie schauten mich nur mit großen, traurigen Augen an. Ich hab noch so vieles mehr erlebt, aber die Tränen dieser Menschen konnte ich nicht vergessen. Ich kannte sie nicht. Ich hatte als Volksschulkind damals nichts weiter gehört als Propaganda. Auch nichts von dem Euthanasieprogramm, mit dem Hamburger Juden aus den Alsterdorfer Anstalten in unserer Nähe ermordet wurden. Ich habe aber gesehen…! Merkt euch das: Es werden immer Augenzeugen gesucht, aber keine Ohrenzeugen … Glaubt nicht allem, was ihr hört, aber macht die Augen auf! Tränen sind eine besondere Gabe, sie schmecken nach Salz. Salz brennt. Die Tränen, die ich gesehen habe, haben immer gebrannt. Ich wollte als Erwachsene die Menschen, die das geweint haben, einmal kennenlernen.

Ich war 10 Jahre, als das Kriegsende über uns hereinbrach. Im Januar 1945 wurden wir in Lauenburg/Lebork in Pommern von den Russen überrollt. Wir konnten nicht mehr weg. Wir Kinder erkrankten an Scharlach, meine Mutter an Diphterie. Wir kamen ins Infektionshaus. Am Karfreitag hat man uns da eine Glatze geschoren. Ich war die meiste Zeit ohnmächtig, bekam nur manchmal mit, wie sie die Toten rausholten. Heute weiß ich, dass die Krankheiten und unser Aussehen eine Schutzmaßnahme war für unser Leben: Kein Russe hat uns angefasst und vergewaltigt, weder mich, meine Mutter noch meine Schwester. Mein Vater arbeitete als Sanitäter unter den überlebenden Juden. Er steckte sich dabei mit Flecktyphus an. Zehn Tage später starb er – aber wir haben überlebt.

In der Nachfolge Jesu gibt es nur eins: Augen auf, Ohren und Mund zu, nicht darüber sprechen, Ärmel hochkrempeln und zupacken. Meine Eltern konnten einigen Menschen helfen, Gott sei Dank! Eine Russin war auf der Suche nach ihren ehemaligen deutschen Peinigern. Dabei fand sie meine Mutter wieder, die ihr, als sie noch Kriegsgefangene war, bei der Geburt ihres Kindes jedoch das Leben gerettet hatte. Sofort sorgte sie dafür, dass der russische Kommandant uns schützte. Wir bekamen Essen, und Mutter arbeitete als Hebamme mit einem jüdisch-polnischen Arzt zusammen.

Im Herbst 1945 wurden alle Deutschen aus den Ostgebieten vertrieben – in Viehwaggons! Bei Stettin trafen wir auf Partisanen. Ich dachte, unser letztes Stündlein hat geschlagen. Eine Kommunistin ging mitten im Waggon auf die Knie – und flehte Gott um Rettung an! Plötzlich fiel auf alle Kinder ein tiefer Schlaf. Kein Laut drang mehr aus dem Zug. Und die Partisanen gingen am Zug entlang. Sie hatten keine Ahnung, dass drinnen Menschen waren. Gott hat das Gebet dieser Frau gehört; die Partisanen wurden mit Blindheit geschlagen. In der Bibel kann ich sehen, wer gottesfürchtig ist, der rettet andere. Gottesfurcht ist ja der Weisheit Anfang! Gottesfürchtige bekommen die besten Ideen! Der Zug fuhr weiter, insgesamt drei Wochen bis nach Eisenach. Wir flohen in die Britische Zone.

Mit Gottes Hilfe haben wir dann ein neues Leben in Deutschland aufbauen können. Viele Jahre später, 2004, durfte ich mit Hilfe von polnischen und deutschen Christen die Gedenktafel am Verladebahnhof Tiegenhof einweihen. Dafür und für Versöhnungsarbeit in Moldawien und Rumänien erhielten mein Mann und ich jeder ein Bundesverdienstkreuz. Durch Gottes Gnade werden wir alle zugerüstet für die Zukunft!