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Vortrag beim Regionaltreffen des Gemeindehilfsbundes: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt 10,34)

Vor fünfhundert Jahren reiste Martin Luther nach Worms, um dem Reichstag seine theologischen Positionen, die doch so viel Diskussion und Aufregung in der christlichen Welt hervorgerufen haben, zu erläutern. Auch wenn der Kaiser ihm geschrieben hatte: „Ehrsamer, Lieber, Andächtiger! Nachdem Wir und die Stände des heiligen Reiches, die jetzt hier versammelt sind, uns vorgenommen und entschlossen haben, der Lehre und Bücher halber, die vor einiger Zeit von dir herausgegeben wurden, Erkundigung von dir einzuholen und diese zu bekommen, haben Wir dir für dein Herkommen und später wieder von hier zu deiner sicheren Bleibe Unser und des Reichs freie, ungeschmälerte Sicherheit und Geleit gegeben. Das senden Wir dir hiermit zu, mit dem Begehren, du mögest dich demnächst aufmachen, und zwar so, dass du in einundzwanzig Tagen, wie es unser Geleit bestimmt, mit Gewissheit hier bei uns sein mögest und nicht ausbleibst. Du sollst dir auch um keine Gewalt oder Unrecht Sorgen machen. Karl V.“, lagen doch die Vorstellungen über die Art und Weise des Auftritts vor dem Reichstag weit auseinander.

Luther hoffte, seine Theologie zu erläutern, vielleicht sogar ein wenig zu disputieren, der Kurfürst hoffte, dass sich Luther dergestalt rechtfertigen würde, dass der Reichstag die Causa Lutheri beenden werde und Luther damit der Jurisdiktion der Kirche entzogen wäre, Karl V. wollte ein Verhör, seine Räte und die Kurie, dass Luther ein für alle Mal seine in ihren Augen häretischen Lehren widerrufen würde. Zwischen Erläuterung und Widerruf öffnete sich ein breiter Graben.

Mit Blick auf Jan Hus wusste Luther, wie wenig das Freie Geleit eines Kaisers im Ernstfall wert war. Am 24. März 1521 hatte er noch einem Freund geschrieben: „Sie arbeiten daran, dass ich viele Artikel widerrufen soll, aber mein Widerruf wird dieser sein: Früher habe ich gesagt, der Papst sei der Statthalter Christi; jetzt widerrufe ich es, und sage: Der Papst ist Christi Widerwärtiger und der Apostel des Teufels.“ Er zweifelte nicht daran, dass der „allerheiligste Widersacher Christi, der oberste Anstifter und Lehrer der Mörder“ ihn vernichten wolle – so, wie er Johannes Hus auf den Scheiterhaufen geschickt hatte. Ungewiss blieb indes, ob dem Papst der Anschlag auf Martins Leben gelingen würde. Sicherheit in dieser schwierigen Situation fand er nur, wie so oft schon, im Glauben: „Es geschehe der Wille des Herrn. Mein Christus wird mir den Geist geben, dass ich die Diener des Satans im Leben verachte und im Sterben überwinde.“ Man darf nicht vergessen, dass Luther zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Bulle „Decet Romanum Pontificem“ als Ketzer galt. Dennoch entschloss sich Luther zur Reise nach Worms. Oft dürfte er an Christus im Garten von Gethsemane gedacht habe: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ (Mt 26,39). Als Doktor der Heiligen Schrift focht Luther nicht für sich, sondern stand in der Verantwortung des Glaubens. Nahm er das ernst, lag es nicht in seiner freien Entscheidung, ober er zum Reichstag ging oder nicht, dann hatte er sich auf diesen Weg zu begeben. An seinen Dienstherrn Friedrich den Weisen schrieb er: „Aber da ich jetzt sehe, dass meine Hoffnung ein bloßer Menschengedanke gewesen ist, und ich täglich in dieses große, tiefe Meer hineingezogen werde, in dem unzähliges Gewürm, die großen Tiere mit den kleinen ihre Kräfte und Bemühungen zusammensetzen, so sehe ich zugleich, dass der Satan durch die Anfechtung meiner Hoffnung nichts Anderes gesucht habe, als dass ich abgelenkt durch das Gefühl meiner Nichtigkeit, endlich ganz und gar von meinem Vornehmen abkäme, und ich eher nach Babylon wandern müsste, ehe ich mein Jerusalem mit Wehr und Speise versehen müsste.“ Und Freund Spalatin ließ er grimmig wissen: „Wenn so viel Teufel zu Worms wären als Ziegel auf den Dächern, noch wollte ich hinein.“

Wie war der Zustand der Kirche – damals: Wie ein frühes Brüssel wollte der römische Klerus Europa beherrschen – und die Deutschen sollten dafür und im immer größerer Weise den Zahlmeister abgeben. Deshalb entstanden die berühmten Gravamina der deutschen Nation. Die Bestrebungen in den deutschen Landen, eine Nation zu werden, waren groß und wurden von tag zu tag stärker. Nicht mehr Glaube und Verkündigung, nicht mehr Demut und apostolische Armut standen in Rom in hohem Kurs, sondern die neue Götzen, die von den Renaissancepäpste und der Kurie angebetet wurden, nämlich die Macht, der Reichtum, der Prunk, die Überheblichkeit und der Luxus. Während Martin Luther 1517 noch an den guten Papst glaubte und mit den Thesen eine innerkirchliche Disputation zur Erneuerung des Glaubens anregen wollte, begriff er in der Disputation mit Johannes Eck in Leipzig 1519, die politische Dimension seiner theologischen Kritik. Mit der Kritik am Ablass hatte er die Machtfrage und zugleich die Wirtschaft der Kurie in Frage gestellt. Spätestens seit 1519 war die römische Kirche für Luther die Kirche des Antichrists. Notwendig war eine Reform an Haupt und Gliedern. Er ging soweit zu fordern, dass, wenn die Kirche sich nicht aus eigener Kraft reformieren könnte, der christliche Adel deutscher Nation und der Kaiser ihre Verantwortung als christliche Fürsten wahrnehmen und nach Rom ziehen müssten, um dort ein Reformkonzil abzuhalten, mit anderen Worten den Augiasstall auszumisten. Schließlich war die Kirche nicht die Kirche des Papstes und der Kurie, sondern es war seine, Christi Kirche.

So sah es vor genau 500 Jahren aus, als Luther nach Worms ging. Und heute? Heute hat die EKD den christlichen Glauben durch einen neuheidnischen Wohlfühlprotestantismus ersetzt, dessen Katechismus aus der grünen Ideologie besteht. Die Kirche ist zu einer Vorfeldorganisation der grünen Partei geworden. Sie hat sich aus Angst vor der Säkularisation selbstsäkularisiert, sie fragt sich inzwischen, ob nicht Christus als Sohn Gottes der Verständigung mit dem Islam, die eher einer Unterwerfung gleichkommt, im Wege stünde und ob man nicht auf anderen Wege – außer über Christus – zu Gott gelangen könnte. Der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, der sich als politischer Inquisitor innerhalb der EKD zu sehen scheint, meint, dass man den Koran als „drittes Testament“ betrachten müsste. Damit liefe alles auf den Islam zu und würden Judentum und Christentum vom Islam aus approbiert. Welche Blüten der ideologische und parteipolitische Kurs der EKD inzwischen treibt, zeigte eine Tagung im Januar 2020 zum Thema „Kirche, Theologie und AfD. Sozialwissenschaftliche und theologische Reflexion zur rechten Normalisierung“ in Frankfurt am Main. Seit wann ist „rechts“ unnormal? Bis vor kurzem – und darin bestand die konsensuale Stärke der Bundesrepublik – lebte die pluralistische Demokratie vom gesellschaftlichen Diskurs, der von rechts bis links reichte. In der Geschichte der Bundesrepublik war rechts legitim und normal, weshalb sehen die Veranstalter der Tagung in der Normalität von Rechts eine Normalisierung von Rechts? Nur die sozialistische Demokratie, die in Wahrheit eine Diktatur war, erlaubte lediglich ein Spektrum, nämlich das linke, wer darüber hinausging, wurde mit allen Mitteln als Klassenfeind oder als rechter Abweichler bekämpft. Wenn es nicht mehr normal ist, rechts zu sein, heißt das, dass die Kirche, nicht mehr evangelisch, sondern links ist? Dann käme es auf die politische Gesinnung und nicht auf den christlichen Glauben an. Sind Christen, die als Bürger keine linken Ansichten hegen, in der evangelischen Kirche sogar zu überwachen? Mit diesen Vorstellungen würde die AK Politische Theologie die kirchenpolitischen Positionen der SED übernehmen, die auch meinte, dass man „zur genaueren Prüfung die Predigten anhören oder Äußerungen auf Pfarrkonventen aufmerksam verfolgen“ müsse, wie die Pfarrerin Josephine Furian Evangelisch.de gegenüber forderte.

Einige Leipziger Pfarrer hatten vor einiger Zeit eine Initiative angestrengt, die den letzten Bischof in der EKD, Carsten Renzing, der als „konservativ“ gilt, weil er nicht die Parteipolitik, sondern den Glauben in den Mittelpunkt stellt, aus dem Amt drängte. Die Leipziger Petenten führten die Mitgliedschaft in einer Landsmannschaft ins Feld und ein williger Journalist grub Äußerungen des Bischofs aus, die er als junger Mann getätigt hatte. Dem Verfahren haftete der Geruch des Inquisitorischen an. Erstens ist es unseriös, Zitate aus dem Zeitkontext zu lösen, und zweitens hat auch jeder das Recht, sich zu ändern. Nähme man die Petition der Leipziger Petenten ernst, müsste Paulus als Apostel zurücktreten. Drittens ist es nicht verboten, einer Landsmannschaft anzugehören, wie es auch nicht untersagt ist, Mitglied der Grünen Partei zu sein. Viertens, die Rücktrittsforderung auch damit zu begründen, dass der Bischof einen Vortrag in der Bibliothek des Konservatismus hielt, ist in politischer wie in theologischer Hinsicht niederschmetternd, erstens entlarvt es eine mangelnde demokratische Haltung der Petenten, wenn nicht gar totalitäre Neigungen, und zweitens würden diese Maßstäbe die Frage stellen, wo Jesus Christus, wo Petrus und wo Paulus nach dem Willen der Petenten hätten predigen dürfen und wo nicht. Gehört es nicht zu den Aufgaben des Christen, allen Menschen das Evangelium zu bringen?

Auf der Homepage der „Antifaschistischen Kirchen“, deren Logo an die linksextreme Antifa erinnert, erfährt man, dass das Netzwerk „Theologien, die sich als neutral oder objektiv darstellen,…in ihrer Positioniertheit entlarven“ will, „da sie bestehende Herrschaftsstrukturen verschleiern und damit stützen“, denn es geht darum „parteiliche Lesarten der Bibel, die auf Befreiung zielen, z.B. feministische, sozialgeschichtliche Exegese“ zu unterstützen. Endet die „parteiliche Lesart der Bibel“ dann beim Genossen Jesus und dem ersten jesuanischen Zentralkomitee der „Volksfront von Judäa“? Ersetzt gar der Film „Das Leben des Brian“ die Evangelien? Flagge hatte im Übrigen das von der EKD unterstützte Schiff zur sogenannten Seenotrettung gezeigt – und zwar die Flagge der Antifa.

Im Evangelium des Johannes lesen wir, dass Pontius Pilatus von Jesus Auskunft verlangt, ob er der König der Juden sei. Jesus fragt zunächst zurück, denn er will wissen, wessen er beschuldigt wird: „Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt?“ Jetzt wird es wichtig, denn die Behauptung der Juden, der Gesalbte der Messias zu sein, bedeutet für die Römer ein Staatsverbrechen, für die Juden aber Frevel und Gotteslästerung. Pilatus entzieht sich der Diskussion, zumal es ihm herzlich egal ist. Einzig womit Jesus die Juden gegen sich aufgebracht hat, möchte der Prokurator erfahren, auch um herauszufinden, welche Handlungsoptionen er besitzt. An diesem Punkt jedoch wechselt Jesus die Ebene der Diskussion, denn es geht weder um Aufruhr, noch um Blasphemie, weil Aufruhr und Blasphemie nur in dieser Welt stattfinden können. Die Heilszusage, die Jesus gegeben hat, geht eben nicht in dieser Welt auf, sie besitzt eine universelle Perspektive: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier.“ Um aber zum Christus zu werden, um den Menschen den Weg in das andere Reich zu ermöglichen, muss er den Juden überantwortet, hat er gekreuzigt zu werden, bleibt ihm nur, den ganzen Weg zu gehen, den Menschen zum Vorbild. Denn: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ (Johannes 14,6–7) Die Heilszusage bedarf des Kreuzes. Ohne Kreuz kein anderes, kein wirkliches Reich, sondern die Verhöllung des Diesseits. Luther hat dieses Kreuz auf sich genommen, als er nach Worms ging.

Christi Heilszusage weist den Menschen den Weg über sich und seine Welt hinaus, in die Ewigkeit, indem sie den sündigen Menschen mit Gott versöhnt. Sünde, Vergebung, Gnade, Tod und Auferstehung sind der Grund des christlichen Glaubens – in die Welt gebracht durch Gott selbst, indem er Fleisch geworden ist und unter den Menschen gelebt und ihnen so den Weg gewiesen hat. Von dieser Vorstellung ging Martin Luther aus, als er die Zwei-Regimenten-Lehre aufstellte. Bei Lukas 20,25 sagt Jesus eindeutig: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Für Martin Luther besteht kein Zweifel daran, dass zwei Regimenter bestehen, das weltliche und das geistliche. Für das weltliche Regiment, um das Recht aufrechtzuerhalten und durchzusetzen, hat Gott die weltliche Obrigkeit eingesetzt und ihr das Schwert gegeben, für das geistliche Reich, dafür, den Tod zu besiegen, die Seelen zu retten, den Weg durch die Welt in die Ewigkeit, in das Reich nicht von dieser Welt zu gehen, dafür bestimmte Gott die geistliche Obrigkeit, dem Christen auf seinem Weg zu helfen. Übrigens kann man in der Zwei-Regimenten-Lehre den Ursprung der modernen Vorstellung von der Gewaltenteilung im modernen Staat erblicken. Er warnt davor, dass die weltliche Obrigkeit versucht in den geistlichen und dass die geistliche Obrigkeit versucht in den weltlichen Bereich hineinzuregieren. Er warnt davor, die Gewissen der Gläubigen zu nötigen, wie das eine Vielzahl von Initiativen der EKD versuchen, wenn er schreibt: „Das wollen wir so klar machen, dass man’s mit Händen greifen solle, auf dass unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben.“ (Obrigkeitsschrift) „Denn wie streng sie gebieten und wie sehr sie loben, so können sie die Leute nicht weiter nötigen, als dass sie ihnen mit dem Mund und mit der Hand folgen; das Herz können sie ja nicht zwingen, und wenn sie sich zerreißen sollten.“

In dem Essay „Gehört Luther zu Deutschland“ habe ich es befürchtet, in der Streitschrift „Geht der Kirche der Glaube aus“ davor gewarnt, dass die Kirche, wenn sie sich politisch handsgemein macht, als parteipolitischer Akteur wahrgenommen wird. Genau das ist eingetroffen. Vor dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund 2019, der allen Parteien – auch den Nachfolgern der SED – mit Ausnahme der AfD ein Podium geboten hat, hat die AfD ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie die Evangelische Kirche für ihren Pakt mit den Mächtigen kritisiert. Das Verstörende an der Kritik ist nicht, dass sie von der AfD erhoben wurde, sondern dass die AfD nur an die Kritik an der Politisierung der Kirche, anschließen konnte, die von Theologen, von Publizisten und auch von Politikern wie Wolfgang Schäuble erhoben worden war und sogar noch durch die Ausladung der AfD zum Kirchentag beglaubigt wurde. Der Journalist Hans Leyendecker als überforderter Präsident des Kirchentages dekretierte: „Wer nichts zu sagen hat und nicht zu einem Diskurs wirklich beitragen kann, bekommt keinen Platz auf einem Podium.“ Dieserart Sätze sind bekannt, wohl bekannt – aus Diktaturen. Denn wenn Leyendecker darüber entscheidet, wer etwas beizutragen hat und wer nicht, dann steht das nur allzu sehr in der geistigen Verwandtschaft zu dem Diktum: Jeder darf frei und öffentlich meine Meinung äußern. In der Predigt des Abschlussgottesdienstes sprach die Pastorin Sandra Bils, die den Hebräerbrief als eine Mischung aus „Trost und Arschtritt“ versteht, von den Christen als „Gottes Gurkentruppe“. Müssen wir uns die Texte der Bibel als „Arschtritte“ und Gott uns fürderhin als Gurke vorstellen? Besteht Gottes Ebenbildlichkeit des Menschen nicht darin, dass jeder ein Held des Alltags ist, dass er tätig ist, eine Familie gründet, Kinder erzieht, sich im Beruf bemüht, seine Christenpflichten erfüllt, Erfolge erarbeitet und Misserfolge verarbeitet? Die Vorstellung über die Kirche, mit der der Kirchentag endete, mag Wohlfühlprotestantismus sein, christlich ist sie nicht. Einer „rollenden Frittenbude“, die „Glaube, Liebe, Currywurst“ anbietet, will ich nicht angehören, denn die folgt nicht Christus, sondern einer neuheidnischen Ersatzreligion.

Wenn der Bund mit den Mächtigen, das Bündnis von Kanzel und Kanzleramt oder ein inzwischen fast symbiotisches Verhältnis zu einer politischen Partei gepflegt wird, hat man die größtmögliche Entfernung zur Verkündigung erreicht. Dass in diesem Befund keine böswillige Übertreibung steckt, hat unlängst der Chefredakteur von zeitzeichen, Reinhart Mawick, in dankenswerter Offenheit bestätigt: „Carsten Rentzing, Jahrgang 1967 und bis vor kurzem der jüngste Leitende Geistliche der EKD, äußerte sich in seinem Amt überhaupt nicht politisch. Damit war er in der Tat aus der Zeit gefallen, denn zur Praxis Leitender Geistlicher in der EKD gehört es eben heute, dass sie sich regelmäßig politisch äußern und dies in der Regel eindeutig im links-liberalen Spektrum.“

Der Chef des Kirchenamtes, Thies Gundlach, will ohnehin nur noch die Menschen erreichen, „die kirchliche Arbeit von der Verkündigung über die Diakonie bis zum Rettungsschiff richtig finden und unterstützen wollen.“ Damit setzt er an die Stelle des Glaubensbekenntnisses das Bekenntnis zu einer wie auch immer konstruierten „ethischen Verantwortung“. Heinrich Bedford-Strohm stellt im Interview mit der Zeitschrift Zeitzeichen klar, dass man nicht mehr von den „bisherigen Gemeinden, von unserem bisherigen Kirchenleben“ ausgehen darf, denn man müsse schließlich „viel radikaler als bisher hinhören und fragen, was in der Gesellschaft gebraucht wird.“ Die Gemeinde und das bisherige Kirchenleben werden also nicht mehr „gebraucht“? Nicht mehr nach Gott ist also zu fragen, sondern danach, was in der Gesellschaft gebraucht wird, was sich Robert Habeck und Kevin Kühnert wünschen. Weder die Alten noch die Mittelalten, eigentlich niemand, der die 35 überschritten hat, gehört für den Ratsvorsitzenden der EKD zur Gesellschaft, denn gebraucht wird in der Gesellschaft, was „im Leben von jungen Leuten eigentlich relevant“ ist. Dieser Vorstellung ließ die EKD taten folgen, indem sie als neuen Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland eine fünfundzwanzigjährige Studentin aus Regensburg wählen ließ.

Nirgends zeigt sich das Scheitern des Kirchenapparats deutlicher als in der Coronakrise. Während Pfarrer, Ärzte und Schwestern im evangelische Dienst sich um das Seelenheil und um die Gesundheit der Gemeindemitglieder, der Kranken und Alten vorbildlich und mit hohem Einsatz kümmern, machen sich die Kirchenfunktionäre einen schlanken Fuß. Bedford-Strohm sinniert schon mal über notwendige Steuererhöhungen nach der Coronakrise, darüber, dass die Besserverdienenden stärker zu besteuern seien. Was ist aber mit den Einsamen, den Alten, den Kranken, den Sterbenden? Diese Frage hat der evangelische Theologe Peter Dabrock, in einem ZEIT-Gespräch während des Shutdowns im Frühjahr 2020 beantwortet, der damals für eine zeitlich befristete Einschränkung der Grundrechte von Patienten und Sterbenden plädierte: „Menschen sterben oft auch allein im Operationssaal.“ Was ist für einen Sterbenden, was für einen alten Menschen, der an der Schwelle zum Tod steht denn eine zeitliche Beschränkung? Menschen starben im Lockdown allein und ohne Beistand. Wo der Staat nicht anders handelte, hätte die Kirche Wege finden müssen. Als die Pest im 16. Jahrhundert in Wittenberg tobte und die Menschen aus der Stadt auf das Land flohen, in die, wie sie hofften, rettende Quarantäne, blieb Martin Luther in Wittenberg, weil er es als Pflicht und als Auftrag empfand, in den Zeiten der Pandemie bei seiner Gemeinde zu sein, Gottes Wort zu predigen, den Gemeindegliedern in Not und Angst, im Leben wie im Sterben und am Krankenbett zumal beizustehen.

Die EKD arbeitet im Grunde gegen die Ortsgemeinden, weil sie entsprechend der Lehre des politischen Aktivismus Projektgemeinden favorisiert. Da wir in Berlin im Bereich der EKBO sind, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Landessynode „zum Abschluss ihrer digitalen Frühjahrstagung“ beschloss, „dass ab Juli auch einige Nicht-Kirchenmitglieder in Ortskirchenräte berufen werden können…Bedenken, dass dann Menschen über das kirchliche Leben vor Ort und möglicherweise auch über Finanz- und Immobilienfragen mitentscheiden könnten, die der Kirche weniger nahestehen, wurden von der großen Mehrheit der Synodalen nicht geteilt. Ziel der Neuregelung ist vor allem, Menschen, die sich bereits für die Kirche vor Ort engagieren, stärker zu beteiligen.“ Besser kann man die Kirche nicht abschaffen: Personen, die keine Kirchensteuern entrichten, können nach dem Beschluss der EKBO über die Verwendung der von den Gemeindegliedern erbrachten Steuern in Zukunft mitentscheiden. Die Begründung der Synode ist nicht stichhaltig, denn Menschen, „die sich bereits für die Kirche vor Ort engagieren“, können doch auch Mitglied der Kirche vor Ort werden. Warum soll jemand Kirchensteuern bezahlen, über deren Verwendung dann Leute mitbestimmen, die keine Kirchensteuern entrichten? Wenn man so weit ist, kann man doch auch gleich darüber nachdenken, ob man für die Zusammensetzung der Synoden Quoten einsetzt, schließlich sollten den Synoden dann auch nach einem speziellen Schlüssel Frauen, LGBTQ und Menschen mit Migrationshintergrund, auch wenn sie keine Christen sind, angehören. Es stellt sich ohnehin die Frage, weshalb die Landessynode die Leitung der Gemeinden nicht gleich der örtlichen Antifa oder der Ortsleitung der Grünen überträgt?

Die Kirche ist so desolat wie zu Luthers Zeiten, die Situation ähnlich hoffnungslos, ähnlich christusfern.

Die Tragik unserer Zeit scheint gerade darin zu bestehen, dass wird die Bedingungen auflösen, aus denen wir heraus leben, dass die Kirchenleitung aus Angst vor der Säkularisierung sich selbst säkularisiert, dass sie den Glauben gegen Gesinnung, christliche Ethik gegen einen politischen Moralismus eintauscht und sie aus Furcht, die Kirche könnte bedeutungslos werden, die Kirche ihrer Bedeutung beraubt. Dietrich Bonhoeffer charakterisiert die christliche Ethik so: „Nicht, dass ich gut werde noch dass der Zustand der Welt durch mich gebessert werde, ist dann von letzter Wichtigkeit, sondern dass die Wirklichkeit Gottes sich überall als die letzte Wirklichkeit erweise. Dass sich also Gott als das Gute erweise, auf die Gefahr hin, dass ich und die Welt als nicht gut, sondern als durch und durch böse zu stehen kommen, wird mir dort zum Ursprung des ethischen Bemühens, wo Gott als letzte Wirklichkeit geglaubt wird.“ Gott also als letzte und als erste Wirklichkeit.

Von Worms blieben die großen Worte Luthers, die Berufung auf den Glauben und auf das Gewissen in Erinnerung. Häufig werden leider Luthers Worte vergessen, die er zuvor an die Mächtigen richtete – und die gerade für uns, in unserer Situation Anregung und Ermutigung bringen, weil sie uns ermutigen, für unseren Glauben zu streiten, auch gegen die, die den Talar tragen und doch nicht Gottes Wort verkünden: „Eure Allerdurchlauchtigste Majestät, Durchlauchtigste Fürsten … Aus diesem allen, glaub ich, geht klar hervor, dass ich mich genügend bedacht und die Not und Gefahr, die Parteiungen und die Streitigkeiten erwogen habe, die aus Anlass meiner Lehre auf der Erde erweckt wurden, woran ich gestern schwer und stark erinnert worden bin. Mir ist jene Gestalt dieser Dinge durchaus die allererfreulichste, dass um des Wortes Gottes willen Parteiungen und Streit geschieht. Denn das ist des Wortes Gottes Lauf, Art und Ereignis, wie er sagt: ›Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Damit warnte er den Kaiser unmissverständlich, die falsche Partei zu ergreifen und dadurch zum Pharao oder zum König von Babylon zu werden und Schaden an seiner Seele zu nehmen. Die von Martin Luther zitierte Stelle stand in Verbindung mit der Mission, mit der Aussendung der zwölf Jünger, um das Evangelium zu verbreiten: „Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Das Himmelreich aber brach dann an, wenn der Antichrist besiegt war – mit der Reform der Kirche. Wenn er nun diese Forderung, die Reform der Kirche in Angriff zu nehmen, an den Kaiser richtete, so argumentierte Luther ganz auf der Linie seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“. Im Grunde drehte Luther den Spieß um. Nicht er hatte zu widerrufen, sondern der Kaiser hatte, seinen christlichen Auftrag anzunehmen, gegen Rom zu ziehen und die Reform der Kirche einzuleiten, auch dafür hatte er, wenn es nottat, und das tat es, von Christus das Schwert bekommen. Tags zuvor hatte er sich vor dem Kaiser mit Matthäus 10,32 darauf berufen, Gott mehr zu fürchten als die Menschen und zur Mission ausgesandt worden zu sein: „Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor meinem Vater im Himmel.“

Will also Kirche wieder Kirche werden, ist es erforderlich, dass Kirche wieder zur Verkündigung zurückfindet, der Verkündigung von Gottes Wort, denn es ist seine Kirche –und nicht die Kirche der Bedford-Strohms, der Gundlachs und Claussens, nicht die Kirche der Funktionäre, sondern Christi Kirche. Zuallererst hat Kirche, die Ortsgemeinden zu stärken, denn Irrweg der Projektgemeinden zu verlassen und sich auf ihre sechs Hauptaufgaben zu konzentrieren: 1. Gottesdienst, 2. Seelsorge, 3. Bibellesung, 4. Diakonie , 5. Bildung und 6. Mission.

Mission ist das wichtigste und alle anderen 5 Gebiete orchestrieren gemeinsam die Mission, denn es ist den Christen aufgegeben, die gute Nachricht der Erlösung allen Menschen zu bringen.  In den Worten des großen Theologen Eberhard Jüngel besteht „das Geheimnis des Glaubens und als solches das Innerste der Kirche“, darin, dass in der Kirche „Gott und Mensch ein für alle Mal zusammengekommen sind, damit Gott unseren Tod und wir sein Leben teilen können.“ In einer großen Rede auf der sogenannten Missionssynode der EKD 1999 in Leipzig hat der Tübinger Theologe daran erinnert: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen.“ Er brachte das schöne Bild vom Ein- und Ausatmen. „Einatmend geht die Kirche in sich, ausatmend geht sie aus sich heraus.“ Über sich selbst hinauszugehen verlangt auch, mit dem Glauben in die Welt zu gehen. Die Kirche darf sich nicht parteipolitisch betätigen. Sie ist die Gemeinschaft aller Christen, unabhängig davon, welche politische Meinung sie als Bürger vertreten. Sie hat zu allen Parteien, die gleiche Distanz einzunehmen. Für die Übernahme eines Amtes in der Gemeinde und in der Kirche allgemein spielen weder die Herkunft, noch das Geschlecht, noch die Parteimitgliedschaft oder politische Verortung, noch der Beruf, noch das Alter eine Rolle, sondern allein die Kirchenmitgliedschaft, der christliche Glaube und das Vertrauen der wählenden Gemeinde. Kehrt die Kirche zur Verkündigung zurück, wird sie auch politisch sein, ohne sich jedoch parteipolitisch zu verkämpfen. Doch dazu bedarf es einer neuen Reformation. Ich fürchte inzwischen, mit der Leitung der EKD wird es nicht zu machen sein.

Viele fragen mich deshalb, warum trittst Du nicht aus wie wir. Um zu glauben, um das Abendmahl zu feiern, benötige ich keinen Bedford-Strohm, keinen Stäblein, denn es gilt für uns Lutheraner das Priestertum aller Getauften. Luther unterschied zwischen der äußeren und der inneren Kirche und dachte darüber nach, was es bedeuten würde, wenn der Christ aus Treue zum Glauben, aus innerer Verbundenheit mit Christus in den Konflikt mit der Institution Kirche käme, wenn ihm aus Treue zum Glauben Exkommunikation drohen würde. Aus der Gemeinschaft mit Christus oder der Gemeinschaft der Heiligen, meint Luther, kann sich der Mensch nur selbst entlassen, indem er sündigt und sich von Gott entfernt. Nur Gott – kein Mensch – kann eine „Seele“ in die geistliche Gemeinschaft setzen oder aus ihr entfernen. Deshalb bedeute der Ausschluss aus der Kirche und von den Sakramenten nur einen Entzug der äußerlichen Gemeinschaft, nicht aber der geistlichen Gemeinschaft.

Im Moment sieht es nicht danach aus, dass Änderung in der Kirche in Sicht ist, dass der geistliche Niedergang aufzuhalten wäre. So bleibt, wenn die Kirche als äußere Kirche christusfern ist, nur in die Gemeinden zu gehen, in denen Christus anwesend ist.

Dr. Klaus-Rüdiger Mai, Vortrag beim Regionaltreffen des Gemeindehilfsbundes, Berlin, 5.6.2021