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Die Herausforderung der Christenheit in der Gegenwart und das geistige Erbe von Paul Schütz – Teil II

Montag 5. Februar 2007 von Kirchenrat Hans Lachenmann (1927-2016)


Kirchenrat Hans Lachenmann (1927-2016)

Die Herausforderung der Christenheit in der Gegenwart
und das geistige Erbe von Paul Schütz – Teil II

Wende der Zeiten

Wer die Augen aufmacht, muss entdecken, dass die neue Kosmologie eine Wende bedeutet. Die Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild führte zur Trennung der bisherigen Einheit von Glauben und Wissen. Die gegenwärtige Wende ist gekennzeichnet durch das Unvermögen der sich absolut dünkenden „exakten Naturwissenschaft“, neu entdeckte kosmische Vorgänge in ihren Denkmodellen adäquat verstehen zu können. Ein neues Denken ist gefordert.

Für uns ist dies eine Herausforderung, deren Ausmaß und Chancen noch kaum wahrgenommen worden sind. Jene einfachen Christen wären dann rehabilitiert, die allein mit offenen Sinnen, ihrem Hausverstand und ihrem kindlichen Glauben die Welt als Schöpfung wahrnahmen und darüber ihrem Schöpfer dankten. Rehabilitiert sind dann die „Sonderlinge“, die trotz der „ausgebliebenen Parusie“ hartnäckig auf das baldige Kommen des Gottesreiches warteten. Sie hatten offenbar das richtige Gespür für die apokalyptische Struktur der Welt, auch wenn ihre Maßstäbe zu klein waren. Hingegen die Anpasser, die jede Apokalyptik „entmythologisiert“ haben und den Schöpfungsglauben vergessen ließen, stehen als die Blamierten da.

Eine Welt voll offener Fragen scheint darauf zu warten, dass die Trennung von Wissen und Glauben überwunden wird. Dem glaubenden Menschen könnte sich die Welt im Licht einer großen Hoffnung zeigen. Verschlossenen Türen springen dann auf. Hier liegen die Aufgaben der Zukunft. Dann kann die „passive“ sich wandeln in „aktive Assimilation“. Auch die beiden anderen Herausforderungen, die Krise der westlichen Kirchen und der fallenden Grenzen können dann bestanden werden. Das erfordert gründliche Denkarbeit.

Möglich ist das alles jedoch nur als metanoia der vom Evangelium bewirkten, in die Tiefe reichenden Verwandlung des Sehens, Verstehens, Sehnens und Hoffens. Und das ist nichts anderes als das Wirken des Creator Spiritus Sanctus, des Schöpfers Heiliger Geist. Das ist es, wozu wir aus dem uns anvertrauten Erbe von Paul Schütz, Hilfe erwarten.

Hilfen aus dem geistigen Erbe von Paul Schütz

Paul Schütz gehört zu den vergessenen Theologen, deren Werke kaum gelesen werden. Schon zu seiner Zeit galt er als Außenseiter. In der akademischen Theologie, damals beherrscht von Karl Barth, Rudolf Bultmann und deren Schülern blieb er vom theologischen Disput ausgeschlossen. Paul Schütz wurde dennoch gelesen, weniger von Theologen, häufiger von Gebildeten und suchenden Menschen am Rande der Kirche, die hier Ermutigung und Hilfe fanden.

Könnte es nicht sein, dass heute die Stunde gekommen ist, da man seine Botschaft als die entscheidende Antwort auf die Grundfragen unserer Zeit hört? Eines jedenfalls unterscheidet ihn von der Mehrheit seiner Zunft: bei ihm findet sich keine Spur von „passiver Assimilation“. Da ist auch kein Rückzug in die Reservate fundamentalistischer Enge. Vielmehr ein kühner Ausbruch aus allen Anpassungen, Verengungen, Verkrampfungen, in das Offene einer „aktiven Assimilation“, in der unsere Welt mit ihrem Wissen und Können, ihrem Reichtum, und ihrer Not hineingenommen wird in die Weite des christlichen Glaubens, in die Erinnerungen und Erwartungen der Bibel. Und das in einer Sprache, die den Leser in der Tiefe seines Personkerns anspricht und hinein nimmt in eine gewaltige prophetische Schau der Wirklichkeit. Paul Schütz und seine Botschaft können uns den Weg aus der Sackgasse der „passiven Assimilation“ weisen ins Offene der „aktiven Assimilation“, aus Mutlosigkeit und Ratlosigkeit zum mutigen Zeugnis der Christenheit in der Gegenwart.

Fährten

Fährten sind unsichtbare Wegspuren, markiert nur von der Witterung eines Tieres. Der Spürhund nimmt sie auf und verfolgt sie bis zum Ziel. So wollen wir im Folgenden verfahren. Wir machen uns auf den Weg, das Evangelium als die entscheidende Botschaft für die Welt in unserem Jahrhundert neu zu entdecken. Nicht passiv assimiliert an irgendeine Zeitmode, an eine Illusion oder Ideologie, auch nicht an eine angeblich unwiderlegbare wissenschaftliche Theorie, vielmehr im Modus der aktiven Assimilation. Alles, was wir heute erkennen, wissen, erfahren, denken, wird hineingenommen in das Feld, das bestimmt wird durch die Christusbotschaft, den „genetischen Code“, der den Vorgang steuert.

Das Erbe von Paul Schütz erscheint hier nicht als fertiges System, als „die Theologie“ für unser Jahrhundert. Das war nie die Absicht von Paul Schütz. Er lässt uns Witterung aufnehmen. Wir müssen dann den Weg selbst gehen, und am Ende Rechenschaft geben von dem, was wir erkannt haben und was so dringlich geworden ist, dass es heute bezeugt werden muss.

Es sind neun Fährten, die wir verfolgen. Freude am Entdecken und an eigener Denkarbeit wollen sie wecken. Immer jedoch mit dem Ziel, statt in die tückischen Fallen der passiven Assimilation zu geraten, den anderen, schon im ersten Kapitel der Bibel gezeigten Weg der „aktiven Assimilation“ zu wählen. Er ist der einzige, der aus Resignation und geistiger Enge herausführt und die Christusbotschaft als die entscheidende, die Welt verändernde prophetische Botschaft vom Reich Gottes für alle Menschen erkennen lässt.

1. Charisma Hoffnung

„In der Christenheit ist keine Erwartung mehr. Es ist gerade das nicht mehr, was das Evangelium zum ‚Freudenmysterium’ macht, das nicht nur dem einzelnen gilt, sondern der Natur, der Geschichte, allen Geschlechtern der Menschheit, den einstigen und den kommenden. Die christliche Botschaft hat ihre Universalität verloren. Sie hat das Wort verloren, das der ganzen Schöpfung, den Kosmos mit eingeschlossen, das ‚allem Fleisch’ die Hoffnung zusagt, es werde der Weg Gottes – um mit Paulus zu reden – das All dem Freudenmysterium der Vollendung entgegenführen“. (11)

Die Fährte beginnt bei der verlorenen Hoffnung der Christenheit. Der rückwärts gerichtete Blick wendet sich wieder nach vorne. Das Evangelium ist kein Bericht über längst vergangene Ereignisse, sondern Verheißung eines Zieles, das Paul Schütz mit dem Wort „Freudenmysterium“ benennt. Die Fährte führt weg vom „Platonismus fürs Volk“ (Nietzsche), der das Ziel der biblische Prophetie zur „Heimat der Seele droben im Licht“ verniedlicht hat, hin zu einem den Kosmos umfassenden Geschehen. Das „Freudenmysterium“ liegt weder im „Himmel ferne“ noch in einer Zukunft weit außerhalb unseres Vorstellungshorizonts; es liegt unmittelbar vor uns. Paul Schütz setzt die biblische Naherwartung kühn in das heutige Weltbild ein, es aufsprengend für den Horizont des Reiches Gottes. Er entdeckt Spuren und Zeichen der unmittelbaren Nähe des Gottesreiches. Die „Parusia“ dringt herein in die Gegenwart, nimmt Menschen mit Leib und Seele in einen umfassenden Verwandlungsprozess hinein.

Damit kommt die Heilsgeschichte in den Blick. Zwischen dem Proton, dem „Paradies“ des Urstands und dem Eschaton, dem „Freudenmysterium“ der neuen Schöpfung erstreckt sich durch Millionen und Milliarden Jahre die Geschichte des Universums. Paul Schütz versteht sie als Schöpfungsgeschichte, als Sündenfallsgeschichte per saecula saeculorum, und zugleich, beide umfassend als Heilsgeschichte. Sie ist das „Interim“ zwischen dem von Ewigkeit zu Ewigkeit der Gotteswirklichkeit.

Hier geschieht Unerhörtes: aus der Jenseitssehnsucht der Gattung homo religiosus – allenfalls als Privatissimum zugelassen, – wird ein Politikum ersten Ranges. Aus harmlosem Religionsgequatsche wird die größte Provokation für unsere Zeit.

Die Wende in die Zukunft ist das Proprium der Theologie von Paul Schütz. Diese Fährte gilt es im Werk von Paul Schütz zu verfolgen. Konsequenzen für die christliche Verkündigung sind zu bedenken. Die Bedeutung für das Leben der Menschen. Für mich kommt dazu die Frage, ob die Vergangenheit nicht gleiche Bedeutung für den Glauben hat. Nicht als Report zu glaubender „historischer Tatsachen“, sondern als lebensnotwendige Erinnerung. Ich denke an Rupert Sheldrake mit seiner Theorie der morphogenetischen Felder, in denen vergangene Ereignisse unmittelbar präsent sind, so wie das vergangene Ereignis eines Steinwurfs in den konzentrisch sich ausbreitenden Kreisen auf der Oberfläche eines Sees.(12) Paul Schütz weiß vom „Mysterium der Geschichte“, auch von der „Reliquie des Paradieses“ (F. Hölderlin) in der Weltwirklichkeit. Die Gemeinde weiß, dass sie im Heiligen Abendmahl bei den Einsetzungsworten an das Sterben ihres Herrn „erinnert wird“; die Theologie spricht von „Anamnese“. Das Kirchenjahr macht sie lebendig. Dem wäre weiter nachzudenken. Wir brauchen Erinnerungen, um die Gegenwart zu verstehen und zu bestehen. Sie sind das Immunsystem der Seele, das uns davor bewahrt, Dummheiten und Fehler der Vergangenheit ständig wiederholen zu müssen. Erwartung und Erinnerung gehören in der Existenz des Glaubenden wie Ausatmen und Einatmen zusammen.

2. Das Geheimnis der Zeit

„Könnte es sein, dass das, was ‚Geist und Kraft’ heißt, im Glauben noch eine andere Dimension hat als die kausale Zeit? Dann müsste es noch eine zweite, eine andere Weise, in der Zeit zu sein, geben… Eine Zeit, die aus der Vertikalen mit einer ‚Mutation’ jeden Zeitmoment der kausalen Zeit ‚durchschlägt’; eine Zeit, in welcher der Mensch im Glauben seine volle Existenz lebt… Ich nenne sie im Unterschied zur kausalen Zeit die parusiale Zeit…. Ihre Kraft aber hat sie von der Zukunft her… Es ist die Zukunft als ‚Wiederkunft Christi“, die schon Anwesenheit ist, ohne sich in der Anwesenheit zu erschöpfen.“ (13)

Die Wende zur christlichen Hoffnung hat mit dem Problem der Zeit zu tun. Nach dem Zeitverständnis der exakten Naturwissenschaft ist Zeit nichts als die Funktion t in einer mathematischen Formel, eine gerade Linie, in die sich alle Bewegungsabläufe einfügen. Die Gegenwart ist nur ein gedachter Punkt. Deshalb gilt für alles Geschehen das Gesetz der Kausalität. Alles hat seinen Grund in der Vergangenheit. Es gibt keine Ursachen in der Zukunft. Zukunft kann vollständig aus der Vergangenheit abgeleitet und deshalb vorhergesagt werden. Das ist die Voraussetzung für die Entwicklung einer hocheffektiven technischen Welt.

Die Wende zur Hoffnung hat bei Paul Schütz die Konsequenz, dass er dieser „Zeit“ – er nennt sie die „kausale“ oder auch „lineare Zeit“ – eine andere entgegenstellt. Er nennt sie „parusiale“, aber auch „kontingente“ Zeit. Sie kommt von vorne auf uns zu. Sie zeigt sich im Phänomen des Kontingenten in allem Geschehen. Es ist nicht der sinnlose Zufall, wie bei Monod, sondern das „Offene“, die Freiheit, die alle Prognosen umwirft, das Überraschende, das sich nicht einfangen lässt in unsere Rechnungen. Nicht das von uns prognostizierte, das „ am meisten Wahrscheinliche“ wird das Ende sein, sondern die größte Überraschung, das völlig „Unwahrscheinliche“: die Wiederkunft Christi. Nicht Prognose, allein Prophetie weiß davon.

Diese Deutung des Problems der Zeit hat für das Denken von Paul Schütz elementare Bedeutung. Es lohnt sich, den Konsequenzen nachzudenken: Für das Verständnis der menschlichen Freiheit, für Zukunftsplanungen, für das Verstehen der Evolution als ein Prozess, in dem sich das Geschehen mit dem Kontingenten auflädt und einem Maximum zustrebt.

Es lohnen sich jedoch auch kritische Reflexionen. Paul Schütz postuliert zwei „Zeiten“. Scharf voneinander geschieden, kommt die eine aus der Vergangenheit, die andere vom Offenen der Zukunft. Die eine steht als „kausale Zeit“ unter einem negativen Vorzeichen, in der anderen, der „parusialen“ Zeit ist schon Ewigkeit in der Welt präsent. Doch sind es wirklich zwei Zeiten? Sind es nicht zwei Aspekte derselben Zeit wie die zwei komplementären Erscheinungsweisen des Lichts als Welle und Korpuskel? Für sich genommen wären es dann bloße Abstraktionen. Alle Phänomene der Natur, vom Planck’schen Wirkungsquantum h bis zum Menschen zeigen immer beides, nur das jeweilige Mischungsverhältnis ist verschieden. Die Geschichte des Universums ist dann als ein kontinuierliches Anwachsen des punktualen Aspekts zu verstehen. (14)

Entscheidend für das Verstehen des Problems ist m.E. die Erfahrung der Zeitlichkeit in uns selbst. Jeder erlebt sie in der spannungsvollen Dualität von Dauer und Augenblick. Es war Karl Heim, der dieses Phänomen durchdacht hat. Im Akt der Entscheidung ist entweder der leidenschaftliche Ichwille am Werk, den Schritt aus der Vergangenheit in die Zukunft zu wagen und den Lauf der Dinge zu seinen Gunsten zu biegen. Oder es ist der Glaube, der im Gebet mit Gottes Willen vereint, die Dinge zum Besten kehrt, nach einem Wort Jesu sogar „Berge versetzen kann“. So nimmt die komplementäre Zuordnung der beiden Aspekte zwei gegensätzliche Werte an: Entweder vollzieht hier der Selbstwille sein Zerstörungswerk, oder geschieht die Veränderung unter der Bitte „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Statt „Wille“ nunmehr „Glaube“. Bei dieser Betrachtung zeigte sich Karl Heim die Innenseite der Weltwirklichkeit: sie ist kein blindes, kausalmechanisches Geschehen, das sich als mathematische Funktion fassen lässt, vielmehr sind gewaltige sich widerstreitende Willensmächte am Werk, am Anfang unbewusst, dann immer mehr mit dem Licht der Bewusstheit angereichert. Sie wirken auf uns ein, aber wir können auch auf sie zum Guten – oder zum Bösen einwirken. Die Ewigkeit ist dann nicht eine der beiden Aspekte der Zeit, sondern, die völlige Harmonie von Dauer und Augenblick, das „nunc aeternum“, die „coincidentia oppositorum“ des Nikolaus von Kues. Bei Karl Heim finden wir das voluntaristische Weltbild Schopenhauers und Schellings als der Widerstreit von Gott und Satan, in den verstrickt die gefallene Schöpfung einer letzten Entscheidung zutreibt. Wir selbst stehen darin zum Glauben gerufen. (15)

Es wäre für die Fährtensuche interessant, diesen Fragen nachzugehen, vielleicht in Zusammenarbeit mit der Karl-Heim-Gesellschaft. Denn das Zeitproblem spielt eine Schlüsselrolle beim Umschalten von der „passiven Assimilation“ zur gewünschten „aktiven Assimilation“ im Denken, Leben, Reden und Handeln der Christenheit.

3. Glauben und Wissen

„Die vielberufene Spaltung von ‚Wissen und Glauben’ existiert nur im Bewusstsein, wo der Glaube über sich selbst und das Wissen über sich selbst reflektieren. So lebt man nicht. Gelebt sind beide, Glaube und Wissen, ein untrennbares Geschehen, das uns vorgegeben ist. Nur dort, wo dieses Vorgegebene in den Sog jener Sucht gerät, uns wissend oder glaubend in den Besitz Gottes zu setzen, trennt sich das Untrennbare, zehrt der Glaubende das Wissen in sich auf und der Wissende den Glauben. Wo ich Endgültiges suche, sei es glaubend, sei es wissend, gerate ich in die Glaubens-Sackgasse oder die Wissens-Sackgasse. Wir sind aber unwiderruflich im Offenen, und da gibt es Existenz nur im Doppelakt des Wissens, dem, wie auch immer verdeckt, ein Geglaubtes vorausgegeben, und des Glaubens, dem eine Wissenswelt nachgegeben ist“. (16)

Die Spaltung von Wissen und Glauben ist der pathologische Ausdruck unserer gespaltenen Existenz. Beide, Wissen und Glauben werden dadurch entstellt. Welche Folgen das für den Glauben hat, nämlich der Weg in die Sackgasse der „passiven Assimilation“, haben wir schon bedacht. Nicht weniger bedenklich sind die Folgen für die Wissenschaft. Denn in der „exakten Naturwissenschaft“ kommt nur ein Ausschnitt eines weiten Spektrums in den Blick, wird grell beleuchtet, exakt in einem mathematischen Modell erfasst und auf diese Weise präpariert für die technische Manipulation. Das übrige bleibt im Dunkel, wird als nichtexistent bewertet. Paul Schütz spricht hier vom „Sehschlitz“, durch den die Welt betrachtet wird. Er spricht vom „Ausgelassenen“ und denkt dabei an den Reichtum des Lebendigen, der dem scharfen Blick des Wissenschaftlers verborgen bleibt. Zwar ist die Diskussion über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis seit Planck und Heisenberg eröffnet, aber Paul Schütz kennt auch das andere: „Es gibt heute eine Wissenschaftsreligion. Es ist der Glaube, dass die Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis Absolutheitscharakter besitze.“ (17)

Das Problem der präparierten und reduzierten Wirklichkeitserfassung begegnet uns nicht nur bei Fragen des Glaubens, sondern auch der Ethik. Seit der Erfindung der Atomenergie sind sie allen Wissenschaftlern gestellt. Verstärkt stellen sie sich bei der genetischen Manipulation von Pflanzen, Tieren und menschlichem Erbgut. Exakte Wissenschaft kann sie nicht beantworten, weil sie in ihrer Denkwelt nicht vorkommen können. Ethikkommissionen sollen Abhilfe schaffen und zeigen sich doch unfähig zu einem gemeinsamen Votum. Dass Sein und Sollen keine getrennten Welten sind, sondern zusammengehören, in jedem Sein ein Sollen steckt, hat Hans Jonas in „Das Prinzip Verantwortung“ (18) eindrucksvoll nachgewiesen. Hier steckt ein Problem von allgemeiner, öffentlicher und politischer Bedeutung, vor dem „reine“ Wissenschaft versagt.

Die Spaltung von Wissen und Glauben hat auch eine persönliche Seite. Wie kann ein Mensch beides sein, Naturwissenschaftler und Christ? Lebt er nicht, geradezu schizophren, in zwei verschiedenen, sich gegenseitig ausschließenden Welten? Sie betrifft jedes Schulkind, das im Fach Biologie und Religion völlig Verschiedenes über die Entstehung von Weltall, Erde und Mensch erfährt.

Die Forderung von Paul Schütz, Wissen und Glauben miteinander zu versöhnen, ist einleuchtend. Schwieriger ist die Frage, wie das konkret aussehen kann. Hier sind wir zum Weiterfragen und Weiterdenken aufgerufen. Dass Glauben und Wissen verschieden sind, darf nicht verschwiegen werden. Paul Schütz spricht vom „Wagnis des Glaubens“, der sich auf das Unwahrscheinliche bezieht. Das Wissen hat es mit dem zu tun, was wir wahrnehmen und erfahren.

Wichtig ist für Paul Schütz, dass beide, Wissen und Glauben im „Offenen“ gehalten bleiben, beide noch unterwegs, unvollständig, aufeinander angewiesen. Das Ganze jedoch bleibt Geheimnis und wartet der eschatologischen Enthüllung.

4. Wirklichkeit

„Es liegt ein Eisblock in der Grundsuppe unserer Existenz, der nicht schmelzen will. Vielmehr – er wächst und wächst und zieht die Menschenwelt langsam immer enger in seine Todesregion hinein. Ist der Mensch in dieser Lage allein gelassen? Er wird von den Teufeln zerrissen. … Was hat das noch mit des Menschen Wirklichkeit zu tun – Sünde, Glaube, – wenn die neue Eiszeit auf der ganzen Linie gegen das Menschenland vorrückt? Wenn es von außen den Menschen zerquetscht, wenn er erfriert, aufhört, Person zu sein, und kein Mensch mehr sein kann? Hier merkt man, dass diesen Menschen das Versöhnungsprivatissimum zwischen Gott und der Seele nicht mehr erreicht… Der Mensch dieser Zeit spürt ‚die göttliche Kraft, so dieser Name an mir hat’ (Luther), nicht mehr. Er wird durch ihn erst recht in die volle Gottesverlassenheit geführt.“ (19)

Die Frage nach der Wirklichkeit steht am Anfang der Theologie von Paul Schütz. Er hatte in den Schrecken des Krieges die Wirklichkeit erfahren als Abwesenheit Gottes, und ist daran fast zerbrochen. Deshalb steht im Mittelpunkt seiner Theologie nun die „Parusia“, die Anwesenheit Gottes. Am Anfang seines Wegs steht die blutflüssige Frau, die im „abergläubischen Glauben“ das Gewand Jesu angerührt hatte, und dann erfährt, wie von ihm Heilkraft ausgeht. Solche leibliche Realität und solch abergläubischer Glaube kann allein die Antwort auf die Erfahrung der „Abwesenheit“ Gottes sein.

Deshalb seine leidenschaftliche Polemik gegen die „nachreformatorische Glaubenstheologie“ und die dialektische Theologie seiner Zeit. Schütz sieht darin ein „Rückzugsgefecht aus dem „finis christianismi“, die Selbsttäuschung und das „Ressentiment einer zukurzgekommenen Theologie“. (20) An dieser Stelle wird die Alternative zwischen „passiver“ und „aktiver Assimilation“ greifbar, die das ganze Werk von Paul Schütz wie ein unsichtbarer Faden durchzieht.

Paul Schütz sieht den Menschen auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Er verdrängt die Wirklichkeit des Todes und damit die ihm von Gott gesetzten Grenzen. Er will nicht wahrhaben, dass er gefallene Kreatur ist. Der Mensch kann nur „wenig Wirklichkeit“ ertragen. Zum Leben findet er nur durch „Glauben“, und zwar durch Glauben an den Gott, der in Christus die Schranke zerbrochen hat und den Tod überwunden hat. Der Gekreuzigte ist der wirkliche Gott. Die Fleischwerdung des Wortes Gottes und das Kreuz sind der Ort, wo dem Menschen heilsame Wirklichkeit begegnet. (21)

Sind die beiden Aussagereihen miteinander vereinbar? Im einen Fall begegnet der Abwesenheit Gottes die Parusia, der schlechten Wirklichkeit die heilsame Wirklichkeit Gottes, sichtbar an der Heilung der blutflüssigen Frau. Im anderen Fall begegnet dem Menschen ohne Grenzen, der nur wenig Wirklichkeit ertragen kann, die Wirklichkeit des im Kreuz gegenwärtigen Gottes, die im Glauben erfasst, erst die Tyrannei der Todesgrenze überwindet und in die Freiheit entlässt.

Dem sollte weiter nachgedacht werden. In diesem Zusammenhang steht auch die Dissenserklärung von Paul Schütz im Jahr 1952 gegenüber dem Bekenntnis seiner Hamburger Lutherischen Kirche, worin er mit dem soda fide, sola gratia, sola scriptura die lutherische Rechtfertigungslehre ablehnt. Dennoch gibt es keinen Theologen, den Paul Schütz in seinem gesammelten Opus mehr – und zwar in positivem Sinn – zitiert, wie den deutschen Reformator. Weiterhelfen könnte das Insistieren von Paul Schütz auf die weite Sicht des Heilsgeschehen in der Bibel. Heil und Heilung gehören hier zusammen. Schütz weiß sich dabei in der Nähe von Johann Christoph Blumhardt.

Paul Schütz erinnert immer wieder an die „Leiblichkeit“, die nach einem Wort von Chr. Friedrich Oettinger das Ende der Werke Gottes ist. “Keine Welteinheitsformel, sondern Leiblichkeit bleibt das Ziel aller Wege Gottes, der der Schöpfer heißt.“ (22)

5. Die pneumatische Dimension – Charisma

„Das Charisma geht von Christus aus. Es ist eine Christusgestalt. Es ist der in die Geschichte eingegangene, in ihr von innen her mächtig werdende Christus. In die Geschichte hineingeopfert, flutet und strömt es als charismatisches Leben. Der ‚Heilige Geist’ ist der geopferte Christus, der in die Personenwelt des Menschen hinein aufgelöste Christus…Deshalb ‚ward’ Christus nicht nur Fleisch – er ‚ist’ es noch: hineingegeben und aufgelöst in die Menschenwelt, lebt und flutet er in Personen durch die Zeiten hindurch. Auch in dieser Gestalt bleibt er Schöpfergeist, ist er nicht formloses Fluid oder abstraktes ‚Wort’, sondern Charisma. Als Charisma unterscheidet sich der in die Menschenwelt hineinverflutete Christus von jeder anderen Art der Geister und der Geiste.“ (23)

Der „Heilige Geist“, in der Menschenwelt wirksam als „Charisma“, hat bei Paul Schütz den Charakter einer das ganze Heilsgeschehen durchwaltende Dimension. Es ist der „Schöpfer Geist“, der das „Mysterium der Geschichte“ vom Paradies bis zur Vollendung treibt. Bei Paulus (Römer 8) erscheint das „pneuma“ als Gegensatz zur „sarx“ dem Fleisch, letzteres sowohl Inbegriff irdischer Vergänglichkeit wie der Zerstörungsmacht des Bösen, den beiden Mächten zwischen denen nicht nur der Mensch, sondern die ganze Schöpfung und die Geschichte in der Entscheidung stehen. Christus ist persongewordenes pneuma. Als „charis“ ist er im Jünger wirksam. Er wirkt die „metanoia“, die umfassende Verwandlung des Menschen. Die „pneumatische Dimension“ qualifiziert das Leben des Jüngers und die Kirche als Geschöpfe des Heiligen Geistes. Er ist „Wirklichkeit“, zielt auf die neue Leiblichkeit, in der die seufzende Kreatur befreit und vollendet wird. Die „pneumatische Dimension“ im Werk von Paul Schütz steht in entschiedenem Gegensatz gegen alle Verdünnung und Verrationalisierung der „Wirklichkeit“, alle „Als Ob“ Theologie, die Schütz in der dialektischen Theologie seiner Zeit gesehen hat. Deshalb auch seine Kritik an der reformatorischen Theologie.

Die Alternative von „aktiver“ und „passiver“ Assimilation könnte von der pneumatischen Dimension her verstanden werden: das eine als Wirkung des „Schöpfers“ Heiliger Geist, das andere als Folge der „sarx“, der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit alles gottlosen und gottvergessenen Schöpfertums.

Das „Umschalten“ von der „passiven“ zur „aktiven“ Assimilation ist nur als Werk des Heiligen Geistes denkbar. So erst wird die Kirche neu.

6. Der Mensch

„Ich kann es nicht beweisen, aber ich weiß es einfach, vielleicht aus der Anamnesis her, dass die Erde die Mitte des Universums ist, und der Mensch auf ihr der geheimnisvolle Schnittpunkt, in dem sich Mikrokosmos und Makrokosmos berühren, und der zugleich geheimnisvolle Brennpunkt aller spirituellen Reiche und Mächte.

Ja, er ist der Schlüsselpunkt des Universums, und sein Ort ist diese Erde; … Darum schauen alle Kreaturen in glühender Begier auf ihn, den Menschen, den Gott befreit, indem er sich mit ihm eint, nicht ‚geistig’, sondern leibhaftig. Die Kreaturen ängstigen sich nach der ‚Freiheit der Söhne Gottes’, die auch ihre Freiheit sein wird. Die kreatürliche Welt ist ein Geburtsschoß in Wehen, darin die Kreaturen zusammenächzen und zusammenkreisen (Röm. 8, 22), denn sie sind noch nicht ausgeboren. Die Geburt der Welt steht erst noch bevor.“ (24)

Anthropologie und Kosmologie gehen bei Paul Schütz eine ungewöhnliche Verbindung ein: „Denn der Mensch ist das Schicksal des Kosmos, nicht der Kosmos das Schicksal des Menschen.“ (25) Bei ihm begegnet uns die auf Plato zurückreichende Vorstellung, dass sich im Menschen als „Mikrokosmos“ der „Makrokosmos“ abbildet. Schütz bezieht sie auf die zeitlich-geschichtliche Struktur des Universums und verbindet dies mit dem apokalyptisch-heilsgeschichtlichen Zeugnis des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 8, 18-25).

Im Blick hat er nicht den Menschen als Einzelperson, sondern die Menschheit aller Zeiten als Ganzes. „Nicht mich schuf Gott zum Ebenbild. Adam schuf er zu dem einen Bild, das ihm gleich sei. ‚Ich’ – das ist nur eine heilsindividualistische Kategorie. ‚Adam’ – das ist eine heilsgeschichtliche Kategorie. Adam ist die Universalgestalt der ganzen Schöpfung.“ (26)

Das Geheimnis des Menschen enthüllt sich uns im prophetischen Wort, das über unsere Binnenhorizonte hinausreicht, rückwärts zum Ursprung und vorwärts hin zur Vollendung. Nur im „Bildwort“ lässt sich aussagen, was sich dem prophetischen Blick zeigt: Der Anfang, da der „himmlische Mensch“, das Ebenbild, männlich und weiblich noch unzertrennt, in Gott vereint sind. Das Ende, da sie sich wieder zusammenfinden im Geheimnis heiliger Liebe. Zwischen Anfang und Ende schließt sich der weite Bogen. Die Zeit und der „Sturm der Geschichte“ beginnt mit dem Sündenfall, in dem das „Universum Mensch“ sich aufsplittert und ausstreut auf die Erde. Es ist Adam, der sein „Bild-Sein“ übersteigen will zum „Gott-Sein“. Seine Freiheit verkehrt sich in verzehrende Sucht. Des Menschen Größe und Elend liegen dicht beisammen. Paul Schütz findet immer neue Bilder, um das Geschehen in Worte zu fassen. In Christus, dem „neuen Adam“ wird das Gottesbild wieder hergestellt. Damit beginnt die Erlösung der Schöpfung. Die Geschichte aber ist Heilsgeschichte und steht im Anziehungsbereich des nahen Gottesreichs.

Paul Schütz steht in der Tradition des androgynen Menschen. Der Sinn dieser problematischen Tradition ist die Erkenntnis der paradiesischen Einheit von Mann und Frau als Ikone Gottes. Sie zerbricht im Fall, wird in Christus wiederhergestellt. Das „Freudenmysterium des ewigen Lebens“ ist die unio mystica des wiederhergestellten Gottesbildes in Christus.

Der einzelne Mensch ist „nur ein Splitterstück vom ‚himmlischen’ Menschen“. Das Drama der kosmischen Geschichte spiegelt sich in seiner Seele. Sie erkennt in der Schöpfung und ihren Wundern die „Reliquie des Paradieses“. Vatersein und Muttersein ist ein „Nachleben des göttlichen Urlebens“ (27) Doch es gilt: „An keiner Stelle seines Daseins hat der Mensch je und je so stark empfunden, für das Paradies geschaffen und aus ihm gestoßen zu sein.“ (28). Die „Verzwistung des Geschlechts“ geht wie eine Todesstrahlung durch die Schöpfung. Es bedarf der Heilung durch Christus, den Zweiten Adam. In ihm wird der Riss geheilt. Ein neuer Schöpfungsakt ist im Gange. Das geschieht im „Jünger“, der zum Träger des Charismas wird.

Was Paul Schütz über den Menschen zu sagen weiß, widerspricht dem Menschenbild der Gegenwart ins Angesicht. Unsere Zeit ist, wie keine zuvor, gekennzeichnet durch die Versuche, den Menschen neu zu erfinden: Ohne Gott – autonom und frei, ohne Erinnerung an das verlorene Paradies, ohne Schamgrenze, dazu befreit, sich selbst zu verwirklichen. Die Grundlage menschlichen Lebens, die Polarität der Geschlechter, wird als Störung empfunden. Ehe und Familie werden ihrer Einzigartigkeit und Würde beraubt. Die Gender-Ideologie ist in Europa im Vordringen, in den Parlamenten, sie setzt sich durch bis in die Schulen und Kindergärten. Mannsein oder Frausein soll künftig kein unwiderrufliches Schicksal mehr sein, sondern Sache eigener Wahl. Die Zunahme der Scheidungen, das Leid der Scheidungswaisen, die zurückgehenden Geburtenraten, die Überalterung der Bevölkerung, kurz: der Weg zum Untergang ist die unausbleibliche Folge.

Die Aktualität des christlichen Menschenbildes, wie sie Paul Schütz erkannt hat, ist mit Händen zu greifen. Er gibt dem Menschen wieder seinen Platz im Universum, seine Würde und die Zukunft, zu der ihn der Schöpfer berufen hat. Hier zeigt sich überzeugend die Stärke der „aktiven“ gegenüber der „passiven“ Assimilation.

7. Bibel

„Man muss das Besondere der Tatsache sehen, dass die Wahrheit, die Person ist, begleitet wird von einer Bezeugung in der Gestalt des Geschriebenen. Gewissermaßen das Faksimile der Wahrheit besitzt die Christenheit in jenem Geschriebenen, das sie ‚Heilige’ Schrift nennt.“ (29)

Die Bibel ist das „Monumentum universale der Christenheit“. Nicht nur der Einzelne und seine Seele ist ihr Thema, sondern die ganze Wirklichkeit: die Völker und ihr Scheitern, die Schöpfung und ihre Sehnsucht, die ganze Geschichte Gottes mit seiner Welt. In der Bibel ist die Prophetie vom Reich und das Charisma Hoffnung aufbewahrt.

Die Bibel ist jedoch keine Landkarte, auf der alles schon fixiert ist, sondern ein Kraftfeld. In ihm ist ein Impuls gespeichert, der sich in die Situation des Menschen hinein entlädt. „Was unserem Intellekt nur noch als ein ‚Buch wie alle anderen’ inmitten einer Sintflut von Büchern längst entglitten war, steht plötzlich eines Nachts über uns als dunkle Wolke, aus der ein Satz auf uns herniederfährt als Blitz, der die Finsternis aufreißt und uns zeigt, wo wir unseren Fuß hinzusetzen haben.“ (30) Das geschriebene Wort ist die Membran, über die uns die Stimme erreicht, die nur „im Vollzug Gestalt gewinnt“, zu „Wort Gottes“ wird.

Alle Koordinatensysteme mit ihren Geraden, in die wir die Dinge einsortieren, beginnen sich zu krümmen. Die Bibel wird zum Schutzort der Freiheit gegen die Herrschaftsansprüche des autonomen Menschen. Sie ist Widerstand gegen die Diktatur des positivistischen Wirklichkeitsbegriffs, die auch vor dem Gewissen und dem Heiligen nicht Halt macht.

Und die Bibel ist ein Sprachwunder. „Mit Ehrfurcht muss man in es hineinhören, auch wenn man nur wenige Worte versteht.“ (31) Da geschieht es plötzlich: der historische Abstand der Jahrhunderte und Jahrtausende verschwindet und lässt die Stimme der Väter und Propheten, die Klage und den Lobpreis des Psalmisten unmittelbar vernehmen.

Paul Schütz ist Bibeltheologe. Er steht im Kampf gegen die Kräfte, die zu seiner Zeit die Bibel auf dem Wege der „passiven Assimilation“ den Menschen verstehbar machen wollten. Damals war es die Bultmannschule mit dem Programm der „Entmythologisierung“. Inzwischen hat die Methode der „passiven Assimilation“ zu allerlei eklektischen und willkürlichen Methoden geführt, um ihre Autorität für fremde Ideologien nutzbar zu machen. Ein aktuelles Produkt dieser Methode ist die „Bibel in gerechter Sprache“. Es könnten noch genug Beispiele genannt werden. Für alle gilt das Diktum von Paul Schütz: „Heute steht die Bibel gegen sich selbst. Unter unseren Händen ist sie zu einem Bündel von Blättern zerfleddert, das im Wind unserer Kritik in alle Richtungen auseinanderfegt.“ (32)

Die Gegenposition, in der sich der Widerstand gegen die „moderne Theologie“ eingegraben hat, heißt „Bibeltreue“. Darunter versteht man meistens ein fundamentalistisches Bibelverständnis, aus der „Membran“ wird dann ein „Koran“, in dem alles „stimmen“ muss, weil hier doch Gott selbst seine ewigen Wahrheiten dokumentiert hat.

Hier gilt es genau zu unterscheiden zwischen dem Bibeltheologen Paul Schütz und dem Biblizismus. Hier sollen nur wenige Stichwörter für den Suchenden genannt werden:

Wort Gottes Person oder Schrift?

Schrift Membran oder Koran?

Historisch-kritische Forschung ein nützlicher Zugang zur Bibel oder ein strikt verbotener Weg?

Hören auf die „Leise Stimme“ im biblischen Wort oder jedem Buchstaben der Bibel „glauben“ als Gottes unmittelbarem Wort?

Die Bibeltheologie von Paul Schütz ist nicht leicht zu verstehen, sie ist offen für Missverständnisse. Mir stellt sich die Frage, ob Paul Schütz mit seiner Kritik an Historismus und Bibelwissenschaft nicht zu weit gegangen ist. Ich kenne viele theologische Lehrer, die mir die Bibel lieb gemacht haben und mir auch heute helfen, ihren Sinn zu verstehen. Fordert es die historische Gestalt, in der uns die Bibel überliefert ist, nicht geradezu, diese Tatsache ernst zu nehmen und dafür einzutreten, dass ein biblischer Text uns das sagen darf, was er sagen wollte? Allerdings der historische Zugang zur Bibel kann nur dienenden Charakter haben, er darf nicht entarten zur Bemächtigung des biblischen Textes durch den autonomen Menschen.

Die entscheidende Frage für unser Verhältnis zur Bibel ist uns durch die Alternative „aktive“ oder „passive Assimilation“ gestellt. Stellt sich der fundamentalistische Biblizismus nicht außerhalb dieser Alternative mit der Folge, dass die wirkliche Auseinandersetzung mit der Wissenschaft aber auch den Ideologien der Gegenwart unmöglich wird? Kann man so die Menschen unserer Zeit, auch die Gebildeten wirklich erreichen? Bleibt dann nicht als einzige Lösung die Selbsteinbetonierung in Kreationismus, Inspirationslehre, Wissenschaftsfeindlichkeit und Rechthaberei? Mit Bibeltreue im eigentlichen Sinn des Wortes hat dies nichts zu tun.

8. Kirche

„Wie lange wird es noch dauern, bis die Christenheit diese Lähmung los wird, die sie seit vierhundert Jahren so abhängig macht vom Geist der Zeit? Wie lange wird es dauern, bis sie den Abstand zurückgewinnt, in dem ihre Hinwendung zur Kultur allein schöpferisch, allein heilschaffend werden kann?

Die Zeit der weltläufigen Kirche ist vorbei. Die Welt bedarf wieder des heilenden Wissens um die Schuld, die Lösung ihrer Introvertiertheit im Geschenk der Tränen, der Verwandlung unserer Angst in Hoffnung.“ (33)

Die Aussagen im Werk von Paul Schütz zum Thema Kirche finden sich zerstreut in seinen Schriften. Die meisten sind kritisch im Hinblick auf die „historischen Kirchen“. Ihre Zeit ist vorüber. „Es lässt sich deshalb in Gelassenheit, ja in Zuversicht sagen, dass das historische Christentum sich seinem Ende zuneige. Es liegt darin die Chance, dass das Ereignis des Christlichen jetzt erst in seine volle Gegenwärtigkeit eintrete: von der Zukunft her in seiner Zukünftigkeit.

Das Urchristliche ist nicht historische Vergangenheit. Es erweist sich heute mitten in unserer Existenz. Es erweist sich heute als ein Ereignis, das von vorne auf uns zukommt.“ (34)

Hinter dieser kritischen Sicht der Kirche stehen persönliche Erfahrungen. Ein Kapitel der Parusia trägt die Überschrift: „Die pathologische Sozialstruktur der Kirche.“ (35) In ihr wiederholt sich die „pathologische Sozialstruktur der allgemeinen Gesellschaft“. Damals war es der Kollektivismus, der dem Menschen die freie Luft zum atmen nimmt. So hat Paul Schütz die restaurative Nachkriegszeit in seiner Hamburger Kirche erlebt, die zum Verzicht auf sein geistliches Amt geführt hat. Später, in der Dritten Fassung von „Warum ich noch ein Christ bin“ erlebt er die evangelische Kirche unter dem Einfluss theologischer Entwürfe, die das Evangelium vom Reich für politische Ziele instrumentalisieren und die Kirche in eine Zerreißprobe führen. Zuletzt erlebt er noch die Anfänge des gesellschaftlichen und kirchlichen Pluralismus.

Was hat das noch zu tun mit der Parusia des Kommenden? Was mit der sancta communio? Hat sie nicht andere Aufgaben? Sie braucht keine politische Theologie. Ihre prophetische Botschaft macht sie selbst in ihrem Sein zu einem Politikum ersten Ranges. In der Gemeinschaft der Jünger wird das Paradieserbe bewahrt. In ihr finden Freiheit und Menschlichkeit ihre letzte Zuflucht. Sie ist Licht der Welt und Salz der Erde, das der Fäulnis wehrt. Und das alles nicht durch ihr Reden und ihre Programm, sondern durch ihr Sein.

Die Zukunft der Kirche sieht Paul Schütz deshalb nicht mehr in den Kirchen mit ihren Behörden, ihren Synoden, ihren Kirchentagen und Kongressen, in ihren sozialen Programmen und ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Paul Schütz schaut auf den Christen als den Träger des Charismas der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung, des Jüngers in der Nachfolge seines Herrn. Kleine Hauskreise und Gruppen sind die Orte, wo „heilige christliche Kirche“ Gestalt gewinnt. Um den Christen wird es einsam in der Welt. Das Schweigen und das Leiden können zum Zeichen der Christusgegenwart in einer gewalttätigen, geschwätzigen Welt sein. Paul Schütz fragt sogar, ob das Minderheitslos der Christen nicht eine gnädige göttliche Fügung sei, da nicht allen Menschen die Jüngerschaft zugemutet werden könne.

Das negative Votum von Paul Schütz über die „historischen Kirchen“ ist hart. Sie sind für ihn gewissermaßen zu Trägern und Repräsentanten des „passiven Assimilation“ geworden. Denn die Verantwortungsträger der „historischen Kirchen“, bei uns die der „Volkskirchen“, sind darauf angewiesen und bedacht, die Zustimmung und Sympathie der politischen und gesellschaftlichen Eliten nicht zu verspielen. Man möchte kein Fremdkörper sein und geht deshalb lieber Kompromisse mit dem Zeitgeist ein, statt als Störenfried aufzufallen. Hängt doch eine Riesenorganisation mit vielen Pfarrern und Mitarbeitern an der „Kirche“, die alle versorgt werden müssen. Den Weg des Widerstandes und des Leidens möchte man vermeiden. Und damit den Weg in der Nachfolge des Gekreuzigten.

Die Frage nach der Gestalt einer Kirche der Zukunft, der wiedergekehrten Urkirche, bleibt bei Paul Schütz ungeklärt. Es genügt nicht, darauf zu bestehen, dass in ihr Freiheit herrschen müsse und alle Ordnungen und Organisationsdinge zurückstehen müssten. Auch zur Kirche gehört die „Leiblichkeit“, wenn sie in der Welt wahrgenommen werden soll, wenn sie hinauswirken soll über den kirchlichen Binnenbereich hinaus in alle Bereiche des Lebens. An dieser Stelle muss weitergedacht werden.

Eines jedoch ist bemerkenswert: Die mittelalterliche Universitas der Kirche, ihr „aktive“ Assimilation war nicht ohne Gewalt, die sich im römischen Papsttum sogar über die des Kaiser stellen wollte. Das musste einmal zu Ende gehen. Die „positive Assimilation“, auf die Paul Schütz sehnlichst wartet, für die er kämpft, ist an diesem Punkte völlig anders; sie entspricht dem „von vorne kommenden“ Urchristlichen. Dann ist in ihr die „Parusia“ als Erwartung Jesu Christi Wirklichkeit.

9. Trinität

„Die christliche Gotteslehre ist eine Theologie und keine Christologie. Die Christifizierung der Trinität ist ihre Auflösung. Sie kann nur dort erfolgen, wo ihr Geheimnis bereits in Verlust geraten ist. Der christliche Glaube ist Glaube an den dreieinigen Gott, nicht Christusreligion.“(36)

In allem, was Paul Schütz zu sagen hat, ist die trinitarische „Cardinale“ wesentlich, als Bekenntnis, in dem die ganze biblische Wahrheit versammelt ist, zugleich Abgrenzung gegen deren Zersetzung. Mit dem Bekenntnis zum dreieinigen Gott setzt sich Paul Schütz kritisch mit der Gegenwartstheologie auseinander. Sein Vorwurf ist, dass sie zur bloßen Christologie entartet, sowohl den ersten als auch den dritten Glaubensartikel verloren hat. Die Ursache ist der Rückzug der Theologie aus der von Naturwissenschaft und Technik total besetzten Weltwirklichkeit in den noch frei vermuteten Bereich der Innerlichkeit. Die Folge ist, dass ein auf diese weise weltlos und geistlos gewordene Christentum schon den Weg der Selbstauflösung betreten hat. Das trinitarische Bekenntnis ist für Paul Schütz Inbegriff einer universalen Theologie, die sich nicht mehr ins Schlepptau irgendwelcher Ideologien nehmen lässt, sich aber auch nicht zurückzieht in die Betonburgen fundamentalistischer Rechthaberei. In ihm findet der Anspruch der prophetischen Botschaft auf die ganze Weltwirklichkeit seinen prägnanten Ausdruck.

Das trinitarische Bekenntnis ist für Paul Schütz keine Neubildung des dritten Jahrhunderts, sondern die Summe der Bibel, auch wenn sie dort noch keinen wörtlichen Niederschlag gefunden hat. Angesichts der ökologischen Krise kam es in der Gegenwart zur Wiederentdeckung der Schöpfung und damit des ersten Glaubensartikels. Der Kirche ist die Bewahrung der Schöpfung anvertraut. Die charismatische Bewegung innerhalb und außerhalb der verfassten Kirche hat inzwischen den dritten Glaubensartikel auf ihre Fahnen geschrieben. Was kann zu beidem von Paul Schütz her heute zustimmend oder auch kritisch gesagt werden?

Die Rede vom dreieinigen Gott ist ihrem Wesen nach keine „Lehre“, objektiv, sachlich feststellbar, intellektuell fassbar, pädagogisch vermittelbar. Sie gehört in die Doxologie, die Anbetung und Rühmung Gottes, reiner Ausdruck der Gottesliebe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt“ (Luk 10, 28). Es ist die Lebensäußerung des Menschen, der nicht mehr in der Angst lebt, nicht mehr im gierigen Zugriff auf die Welt sein Leben sichern will, der nicht mehr ruhmsüchtig und machtbesessen nach den höchsten Sternen greift, der endlich den Frieden gefunden hat, der „höher ist als alle Vernunft“ (Phil 4,7). Sein Leben, sein Denken und Handeln, sein ganzes Weltverhältnis steht unter dem Satz, mit dem die christlichen Gemeinde auf die gottesdienstliche Psalmlesung antwortet: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Anmerkungen

11 Paul Schütz, Charisma Hoffnung, in: Ges. Werke II, 1963, S. 480.

12 Rupert Sheldrake, A New Science of Life, 1981; deutsch: Das schöpferische Universum, 1987.

13 Paul Schütz, Wagnis des Glaubens im Dialog, in: Widerstand und Wagnis, 1982, S. 203.

14 Hans Lachenmann, Welt in Gott, 1960, S.35-63; ders.: Entwicklung und Endzeit, 1967, S.60-105.

15 Karl Heim, Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, 1954, hier: „Die Wunderfrage im Licht der heutigen Naturwissenschaft, S. 176-195. Dazu: Karl Heim, Zur Frage der Wunderheilungen, 1927; in: Evangelium und Wissenschaft, Nr, 46, September 2005 S. 3-20.

16 Paul Schütz, Warum ich noch ein Christ bin, 3. Fassung 1969, S. 158f.

17 Ders., Was heißt „Wiederkunft Christi“?, in: Widerstand und Wagnis, 1982.

18 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979.

19 P. Schütz, Parusia, Ges. Werke III, S. 179f.

20 A.a.O. S. 180f.

21 P. Schütz, Der Mythos vom Menschen, Ges. Werke II, S. 79.

22 Ders. Schöpfungsmythos und Weltwirklichkeit, Ges. Werke II, S. 401

23 Ders. Das Mysterium der Geschichte, Ges. Werke II, S.150.

24 Ders. Von Geist und Leib Gottes, Ges. Werke II, S. 542.

25 Ders. Das Mysterium der Geschichte, Ges. Werke II, S. 165.

26 Ders. Universalgeschichte als Heilsgeschichte, Ges. Werke II, S. 418.

27 Ders. Das Evangelium, Ges. Werke I, S. 365.

28 A.a.O. S. 365.

29 Ders. Parusia, Ges. Werke III, S, 97.

30 A.a.O. S. 113.

31 A.a.O. S. 113.

32 A.a.O. S. 99.

33 P. Schütz, Schöpfungsmythos und Weltwirklichkeit, Ges. Werke II. S. 402.

34 A.a.O. S. 519.

35 Ders. Parusia, Ges. Werke III, S. 60.

36 Ders. Die Kritik der reformatorischen Grundlagen, Ges. Werke III, S. 16.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 5. Februar 2007 um 16:59 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Theologie.