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„Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020

Das Bundesverfassungsgericht (BVG) ist das höchste deutsche Gericht. Wer sein Recht nicht bei anderen Gerichten gefunden hat, kann versuchen, es dort zu erhalten. Das BVG hält sich an unsere Verfassung, die wir „Grundgesetz“ (GG) nennen. Dass das BVG eine große Würde besitzt, kommt zum Ausdruck, wenn es öffentlich auftritt. Die Damen und Herren sind in rote Roben gekleidet und tragen gleichfarbige Barette. Sie setzen diese gleichzeitig auf und ab. Natürlich stehen die Anwesenden auf, wenn das Gericht erscheint – das ist seiner Würde geschuldet. Wenn vorgetragen wird, sitzen alle aufmerksam dabei. Auch das ist wegen seiner hohen Relevanz erforderlich.

Denn was das BVG urteilt, das ist endgültig. Niemand in Deutschland darf ihm ungehorsam sein, kein(e) Bundeskanzler(in), kein Parlament, kein Gericht. Höchstens international könnten Fragen gestellt werden. Aber das ist selten. Eher hat schon unser BVG Andeutungen gemacht, wenn ihm europäisches Recht dubios war. Das BVG kann unserer Bundesregierung Beine machen. Als es festgestellt hatte, dass es nicht nur m/w (männlich/weiblich) gibt, und forderte, dass „divers“ ebenfalls berücksichtigt werden müsse, wurde aus dem Doppelpack (m/w) ein Trio. Wir finden es jetzt bei Stellenausschreibungen: m/w/d.

Am 26. Februar 2020 urteilte das BVG über das Verbot der Hilfeleistung durch gewerbliche Sterbehilfe. Wir kannten dies aus der Eidgenossenschaft und nannten es respektlos „Schweiz-Tourismus“. Dem setzte das BVG an diesem Tag ein Ende. Es verlangte nämlich, dass Sterbewilligen von unserem Staat geholfen werden müsse. Aber damit nicht genug. Es folgerte aus unserem Grundgesetz, dass alle Deutschen ein Recht hätten, über den Zeitpunkt ihres Sterbens selbst bestimmen zu können. Viele waren verblüfft. Aber der große Paukenschlag, der kurz vor dem Ende der Amtszeit des Präsidenten des BVG erfolgte (ein Schelm, wer Böses dabei denkt), wurde sehr rasch von einem Virus abgelöst, das uns noch heute in Atem hält. Dieses unsichtbare Wesen hält uns fest im Griff. Die Pandemie breitet sich seit Mitte März 2020 rasant aus, geht hier und dort (jahreszeitlich bedingt) zurück oder schnellt in die Höhe und fordert Todesopfer. Nürnberg hat mitgeteilt, dass im Dezember 2020 doppelt so viele Menschen verstorben seien wie im Vergleichsmonat des Vorjahres.  Todeszahlen hier und in anderen Ländern – am schlimmsten in den Vereinigten Staaten von Amerika – lassen die Vollmacht, sein Leben eigenbestimmt beenden zu dürfen, nicht mehr so attraktiv erscheinen wie noch am 26. 2. 2020. Aber wie gelangte das BVG zu seinem Urteil?

Es hat sich angesichts der Bedeutung dieser Entscheidung seine Arbeit nicht leicht gemacht. Historische Entwicklungen werden genauso behandelt wie das Verhalten zu dieser Frage in anderen Staaten. Aber entscheidend konnte allein unser Grundgesetz sein. In 7 Leitsätzen hat das hohe Gericht seine Ergebnisse zusammengefasst:

„1. a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“ Auf diese gewichtige Aussage können wir uns konzentrieren.

Seltsam, dass das noch niemand vorher gesagt hatte, wir alle hätten das Recht, „selbstbestimmt“ unserem Leben ein Ende zu machen. Aber jetzt hat das BVG es so dekretiert. Es hat letztgültig entschieden. Was sagt denn das GG in diesen beiden Absätzen überhaupt, die nicht wörtlich bei diesem Leitsatz zitiert werden?

GG „Art. 2 Abs. 1: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Dem BVG sind die Worte „die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ offenbar sehr wichtig gewesen. Zur freien Entfaltung gehört nun auch das Recht, diese „Entfaltung“ durch den selbst gewählten Tod zu beenden. Wer sich selbst tötet – „Selbstmord“ nannte man das früher, jetzt spricht man vornehm von „Suizid“, aber gemeint ist dasselbe –, bringt dadurch sicher nicht die „verfassungsmäßige Ordnung in Gefahr“. Wie steht es aber mit dem „Sittengesetz“? Das ist schwer zu beantworten. Denn da es kaum mehr allgemein anerkannte Werte gibt, von denen sittliches Verhalten abgeleitet werden könnte, gibt es auch kein leicht zu beschreibendes, für alle gültiges Sittengesetz mehr. Von Mord, Vergewaltigung und wenigen anderen Vergehen sei hier einmal abgesehen. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, in der es viele Meinungen gibt, die nicht immer zusammengebracht werden können. Deswegen hat das BVG eine eigene Entscheidung gesucht. Auch „die Rechte anderer“ sind nicht einfach zu definieren. Wenn ein alleinstehender alter Mensch sagt: „Du, mein Sohn, wirst von jetzt an mein Vormund“, kann dieses „Recht“ des Sohnes ihn hindern, seinen eigenen Suizidplan aufzugeben? Bei der „freie(n) Entfaltung seiner Persönlichkeit“ gibt es also jedenfalls laut GG Grenzen. Neugierig wie ich bin, habe ich im GG weitergelesen. Art. 2 Abs. 2 lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Von einem Recht auf eine Entscheidung gegen das eigene Leben steht hier dagegen nichts.  Das GG ist an Leben und Unversehrtheit interessiert, nicht an freiwillig gewolltem Sterben. Auch ist von ihm keine „persönliche Autonomie“ des Menschen festgestellt worden, wie es das BVG tut. Ein gewaltiger Unterschied zwischen den Autoren des GG und dem urteilenden Senat des BVG tut sich hier auf.

Art. 1 Abs. 1 des GG, auf den sich das BVG an zweiter Stelle bezieht, lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Viele werden diese Sätze kennen. Sie sind ein wichtiges Gut. Die Verpflichtung des Staates besteht darin, die Würde aller Menschen nicht nur zu achten, sondern sie sogar zu schützen. Nun kann natürlich ein Todkranker seine Würde so stark eingeschränkt sehen, dass er nur einen einzigen Wunsch hat: zu sterben. Das BVG war offenbar der Meinung, dass die Palliativmedizin es nicht vermag, die Leiden eines Menschen genügend stark zu vermindern oder sie sogar zu beseitigen. Dafür werden Mittel benötigt, die das Sterben nicht nur erleichtern, sondern auch beschleunigen. Das muss in Kauf genommen werden. Ich habe mir sagen lassen, dass die seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgekommenen Hospize vielen Menschen das Sterben erleichtert haben. In Ausnahmefällen sollen Schwerkranke auch wieder genesen sein. Der Tod ist ein seltsamer Geselle. Manchen gelingt es, ihm „von der Schippe zu springen“, wie wir sagen. Jedenfalls ist es nicht naheliegend, meine Würde dadurch zu „achten“, dass ich sie durch meine Selbsttötung beende. Aber das BVG sieht darin sogar den höchsten „Ausdruck persönlicher Autonomie“. Das Grundgesetz spricht, wie bereits festgestellt, auffälligerweise nicht von „Autonomie“. Diese wird vielmehr vom BVG selbstbewusst dekretiert und nicht etwa durch eine Theonomie in Frage gestellt oder eingegrenzt. Der Begriff „Autonomie“ ist nicht etwa vom BVG gebildet worden. Vielmehr hat er eine längere Geschichte seit der Aufklärung hinter sich. Ihn so ausschließlich und selbstverständlich zu benutzen, hat für mich den Hauch des Populistischen an sich.

Das Eis, das sich das BVG mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 geschaffen hat, ist meines Erachtens sehr dünn. Vor allem hat sich das Gericht nicht beschränkt auf den Umgang mit sterbenskranken Menschen, sondern es spricht auch allen Gesunden „ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ zu. Pubertierende können also – wohl auch schon ohne vollmündig zu sein – vom Staat Hilfe zu ihrem Sterben verlangen, auch gegen den Willen ihrer Eltern und Freunde. Ist dieses Beispiel „an den Haaren herbeigezogen?“ Ich fürchte: nein. Wenn einmal ein solches Verhalten „cool“ sein würde, könnte es – wie immer – zahlreiche Nachahmer finden. (Goethes „Werther“ wäre hier ein historisches Beispiel.)

Unser Rechtswesen ist differenziert. Aber das letzte Wort hat das BVG. Was es entscheidet, gilt. Endgültig. Ist das eigentlich noch demokratisch? In der Demokratie hat jede und jeder eine einzige Stimme. Warum sind die Stimmen der 8 Personen eines Senats des BVG letztendgültig unfehlbar? Bisher habe ich immer Mitleid mit den Päpsten gehabt, die seit 1870 „unfehlbar“ urteilen „dürfen“. Kann ein Mensch unfehlbar sein??? Ein Papst kann nur unter begrenzten Bedingungen Unfehlbares festlegen. Demgegenüber ist der Raum, in dem unser BVG arbeiten muss, sehr viel größer. Die Richter sind alle hervorragende Personen, davon gehe ich aus. Sie sind bestens ausgewiesene Juristen. Aber auch sie sind Menschen. Unfehlbare Menschen? Wäre es in diesem Fall nicht besser gewesen, bei der Frage des Umgangs mit Todkranken zu bleiben, statt den Suizid zum letzten und höchsten Ausdruck unserer Würde zu stilisieren?

Professor Dr. Peter Dabrock, bis 2020 Vorsitzender des Ethikrats der Bundesregierung, hat davon vorsichtig abgeraten, dass sich die Kirchen in den Dienst derer stellen, die selbstbestimmt ihr Leben beenden wollen (vgl. https://w.w.w.evangelisch.de>inhalte>ethiker-dabrock)). Trotzdem sind wir Protestanten wie immer eifrig aufzugreifen, was gerade wichtig zu sein scheint. Es war wohl Landesbischof Ralf Meister, der meinte, die Kirche müsse hier tätig werden. Vielleicht dachte er an Jesu Wort „Seid barmherzig, wie unser himmlischer Vater barmherzig ist“ (unsere Jahreslosung 2021). Aber ist es kirchliche Aufgabe, „den Schierlingsbecher zu reichen“ wie bei Sokrates (der allerdings von einem Gericht zum Tod verurteilt worden war)? Inzwischen sind es noch mehr Befürworter geworden. Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, trat auch als solcher auf, anstatt dafür zu sorgen, dass die Diakonie als christlich und nicht nur als kaufmännisch erkannt wird! Damit hätte die Diakonie mehr als genug zu tun. Unterscheiden sich ihre Heime oder ihre nichtstationären Dienste von anderen? Durch Qualität? Durch christliche Zuwendung? Ein nachdenklicher Christ in den neuen Bundesländern sagte mir 1990 bekümmert: „Die Diakonie breitet sich hier überall aus – aber wir haben doch gar keine Christen für die dort zu leistende Arbeit!“ Ich verkenne nicht die heutigen Schwierigkeiten. Aber wenn in Kirche und Diakonie der Heilige Geist nicht spürbar ist und dadurch Neues wird, wie Wolfgang Huber es zum Ausdruck bringt, dann ist „all‘ unser Tun umsonst“. Der Vorsitzende des Rates der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, hat das Ansinnen, Beihilfe zum Suizid zu leisten, als vom 5. Gebot verboten erklärt: „Du sollst nicht töten.“ Ein klares Wort. Denn auch Beihilfe zum Töten ist Töten.

Immer wenn es um Sterben und Tod geht, dann geht es auch um Leben. Das BVG hat sich am 26.2.2020 meines Erachtens zu viel vorgenommen. Das gilt es zu reduzieren. „Letzte Worte“ können durch weitere „letzte Worte“ ergänzt und korrigiert werden. Eine Aufgabe, die das BVG unter einer neuen Präsidentin, einem neuen Präsidenten oder einer Vizepräsidentin oder einem Vizepräsidenten noch vor sich hat. Wir Evangelischen in Deutschland wissen wie alle Christen, dass Gott das letzte Wort hat und haben wird. Daran zum Heil von uns Menschen zu erinnern, ist des Schweißes der Edlen wert.

Den Medien ist zu entnehmen, dass inzwischen zwei Gesetzesentwürfe im Bundestag erarbeitet wurden, die das Urteil des BVG zur Ausführung bringen sollen. Dieses hat in seinem Urteil festgestellt: „Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben steht dem Gesetzgeber in Bezug auf das Phänomen organisierter Sterbehilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen“ (Rn. 339). Aber es hat auch hinzugefügt: „Allerdings muss jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung sicherstellen, dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt“ (Rn. 341). Ob das der rechte Ton gegenüber den gewählten Vertretern des Souveräns, des Volkes, ist? Ich sehe hier eher einen erhobenen Zeigefinger: „Wehe, wenn…!“, „Wir passen auf!“ Das Pathos der „personalen Freiheit“ bleibt also erhalten. Die Tatsache, dass wir Menschen nach unserer Geburt ohne „Unterstützung Dritter“ nicht überleben könnten, kommt nicht in den Blick. Dass wir soziale Wesen sind, was schon die Menschen in der Antike wussten, erhält kaum das ihm zustehende Gewicht. Dazu ist die vom BVG postulierte Freiheit viel zu hoch angesetzt.

Frühere Urteile des BVG sind in der Urteilsbegründung zahlreicher als der Bezug auf die Verfassung. Faktisch schreibt das BVG auf diese Weise das GG fort. Das aber steht nicht ihm, sondern allein dem Bundestag mit Zweidrittelmehrheit zu. Dass das Parlament daran mit Nachdruck erinnert, ist sein Recht und seine Pflicht. Sonst geraten wir von der Demokratie in eine Art Autokratie des BVG.

Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Müller D.D.

Aus: Aufbruch – 1/2021 (März)

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Leseempfehlung:

Gerhard Müller
Einsichten Martin Luthers – damals und jetzt – Analyse und Kritik
Martin-Luther-Verlag, Erlangen 2017, 356 Seiten, 19,00 Euro

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